Die Unruhe in den Vereinigten Staaten ist groß: Die Debatte um den Rassismus weitet sich aus, die Polarisierung ebenfalls, Präsident Donald Trump gerät unter Druck. In dieser Situation gab es die Ankündigung, dass die Amerikaner Truppen aus Deutschland abziehen wollen. Der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD), heute Vorstandsvorsitzender der Atlantik-Brücke, einem Verein zur Förderung des deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit, sieht in dieser Gemengelage längst die Bewegung der Amerikaner weg von Europa und dem transatlantischen Verhältnis hin zu pazifischen Interessen.
In dieser Phase müssten die Europaer zu einem globalen Akteur werden und eine gemeinsame Außenpolitik betreiben. Man brauche einen gemeinsamen Blick auf die Welt. Den habe Europa aber noch nicht, so Gabriel.
"Der einzige wirklich freundliche Akt Donald Trumps"
Jürgen Zurheide: Herr Gabriel, beginnen wir doch mal mit dem Abzug der Truppen aus deutschland. Der ehemalige, muss man inzwischen sagen, amerikanische Botschafter wird vom "Spiegel" verdächtigt, und da heißt es dann, das ist Grenells Rache an Deutschland. Sie hatten auch ein spezielles Verhältnis zu ihm. Ist die Beschreibung der "Spiegel"-Kollegen zutreffend?
Gabriel: Genau weiß man das nicht, aber es würde zu ihm passen. Ich meine, das ist ja vielleicht der einzige wirklich freundliche Akt Donald Trumps gegenüber Deutschland, diesen Botschafter abzuziehen, der ja in Wahrheit nie ein Botschafter war, sondern immer ein politischer Warrior, der hier sich als sozusagen Speerspitze einer rechtskonservativen Bewegung verstanden hat. Am Anfang seines Amtseintritts hat er ja auch gesagt, er wolle in Europa dafür sorgen, dass diejenigen, die nationalistisch sind, die rechtskonservativ sind, dass diese konservative Revolution hier stattfinden kann, und damit meinte er natürlich eine Politik à la Trump in Europa. Dem traue ich das schon zu.
Ob der amerikanische Präsident sich von jemandem wie Rick Grenell dann so stark beeinflussen lässt, das weiß ich nicht. Jedenfalls ist es klar, das ist eine Entscheidung, die Trump gegen jeden Rat seiner eigenen Militärs und seiner Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker beschlossen hat. Es ist keine Entscheidung, die getragen wird im Senat oder im Kongress und auch nicht im Militär, und zwar aus einem ganz einfach Grund, weil der Truppenabzug aus Deutschland nicht ein Problem für Deutschland ist, sondern für die USA. Die treffen sich damit selbst. Wenn man jemanden bestrafen will – das ist ja offensichtlich der Wunsch Donald Trumps gegenüber Deutschland –, dann ist es vielleicht nicht die beste Idee, ein Mittel zu nehmen, bei dem man sich selbst trifft und nicht etwa den, den man irgendwie abstrafen will, und das ist der Fall.
"Mal gucken, wer der nächste amerikanische Präsident ist"
Zurheide: Was heißt das an Reaktionen für Deutschland, für Europa? Der eine oder andere in Ihrer Partei ist vielleicht sogar froh und sagt, ja, dann sollen sie doch gehen, yankees go home.
Gabriel: Also erst mal würde ich mal ganz gelassen bleiben, da überhaupt nicht hektisch reagieren. Mal gucken, wer der nächste amerikanische Präsident ist. Allerdings muss man eins wissen: Dass die Vereinigten Staaten mit und ohne Trump sich weniger Europa und weniger dem transatlantischen Verhältnis zuwenden und mehr dem Pazifik und sozusagen ihren dortigen strategischen und wirtschaftlichen Interessen, das wird so bleiben. Nach 1945 galt das Motto ja: America in, Russians out, Germans down. Das war so die Idee, dass die Amerikaner als Amerika zur europäischen Macht wird und aufpasst, dass wir uns hier nicht zum dritten Mal in einem Weltkrieg an die Gurgel gehen.
Amerika wird weniger europäisch werden und mehr pazifisch, und das bedeutet natürlich, dass ein sicherheitspolitisches oder überhaupt, dass ein politische Vakuum entsteht, zum Beispiel im Nahen Osten. Obama hat als erster amerikanischer Präsident gesagt, man wolle sich dort stärker zurückziehen, und es gibt eine breite Bewegung in der amerikanischen Öffentlichkeit unter der Überschrift: stop the endless wars, also Amerika soll sich weniger einmischen in die Welt. Das ist wie im richtigen Leben, so auch in der Politik: Es gibt kein Vakuum. Dort, wo jemand den Raum verlässt, werden neue Kräfte versuchen, das Vakuum zu füllen.
"China wird versuchen, das Vakuum zu füllen"
Zurheide: Zum Beispiel China.
Gabriel: In der unmittelbaren Nähe Europas sind es erst mal Russland, Türkei und der Iran, und international natürlich China. Das ist der Versuch Chinas, neben ihrer, sagen wir mal, ökonomischen Seidenstraße, neben dem Ausbau ihrer wirtschaftlichen Beziehungen, auch politisch stärker tätig zu werden, nicht sofort militärisch. Das kann auch sein, das werden sie eher aber in ihren eigenen Regionen machen und nicht hier bei uns im Atlantik, aber natürlich werden die Chinesen versuchen, dieses Vakuum, das die Supermacht USA hinterlässt, wenn sie sich zurückzieht, zu füllen.
Zurheide: Die Frage ist, können und müssen wir in Deutschland, in Europa reagieren?
Gabriel: Na ja, die Antwort ist so einfach wie schwer. Die Europäer müssen, wie das die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ja vor der Coronakrise wollte, zu einem globalen Akteur werden. Also sie müssen eine gemeinsame Außenpolitik betreiben. Das haben wir nie gelernt. Europa sollte sich ja nicht um die Welt kümmern. Das war gar nicht gewünscht, weil als sich Europa um die Welt gekümmert hat, war es für den Rest der Welt ziemlich gefährlich. Deswegen war ja die Idee, ein bisschen übernimmt Frankreich, ein bisschen Großbritannien, aber vor allen Dingen die USA, die internationale Interessensvertretung der westlichen Demokratien, insbesondere die Europas. Dann haben wir uns 70 Jahre lang um uns selber kümmern können in Europa. Für die schwierigen, manchmal auch die schmutzigen Aufgaben haben wir die Amerikaner gehabt. Wir haben, wenn man es ganz böse zuspitzt, unsere außenpolitischen, sicherheitspolitischen Interessen auf amerikanische Flugzeugträger projiziert, und die fahren jetzt weg, und zwar nicht nur, weil Donald Trump sagt, ich ziehe 9.500 Soldaten ab, sondern weil die Wirtschaftsachsen nach 600 Jahren aus dem Atlantik wechseln in den Pazifik. 600 Jahre lang, seit der Entdeckung der Seeroute entlang der Küste Westafrikas nach Amerika war Europa und war das transatlantische Verhältnis sozusagen das Gravitationszentrum der Welt. Das verändert sich jetzt. In dieser Folge verändern sich auch die USA, und das hat schon vor Trump begonnen und wird nach ihm weitergehen.
"Die Europäer müssen zu einem globalen Akteur werden"
Zurheide: Aber die Frage ist, brauchen wir jetzt europäische Flugzeugträger?
Gabriel: Nein, Flugzeugträger, glaube ich, nicht. Das war ja mal die Idee der Verteidigungsministerin, von Frau Kramp-Karrenbauer, einen solchen zu bauen. Die Franzosen würden sich freuen, weil ihre sind so alt, dass die Franzosen sich sicher freuen würden, wenn wir ihnen dabei helfen, einen Neuen zu finanzieren. Aber was wir schon brauchen, ist eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik und Sicherheitspolitik. Der vorausgehen muss aber eine gemeinsame Außenpolitik, denn ich meine, Sicherheit und Verteidigung sind Konsequenzen der Außenpolitik. Die Außenpolitik muss immer vorausgehen. Ich meine, sonst endet man ständig irgendwie mit Militäreinsätzen. Das kann es ja nicht sein, sondern eines der möglichen Mittel, um zum Beispiel Bürgerkriege zu befrieden, kann auch Militär sein. Aber zuerst mal braucht man einen gemeinsamen Blick auf die Welt, und den hat Europa nicht.
Zurheide: Das wird noch ein schwieriges Thema werden, werden wir weiter diskutieren müssen. Lassen Sie uns zum Schluss noch ein Stück auch in die Vereinigten Staaten schauen. Wir haben es heute Morgen in dieser Sendung an unterschiedlichen Stellen thematisiert. Der eine oder andere sagt, was da jetzt gerade passiert und seit dieser furchtbaren Bilder und des Todes von George Floyd sei es sowas wie eine Zeitenwende. Sehen Sie die auch, eine neue Debatte? Ich habe vorhin schon mal die Frage gestellt, ist das jetzt nur wieder ein ganz kleines kurzes Momentum, oder erwächst da mehr?
Gabriel: Das ist schwer zu beurteilen, weil es wird sehr darauf ankommen, was im November gewählt wird. Erstens gehen die, die jetzt auf die Straße gegangen sind zum Demonstrieren, gehen ja nicht auch zur Wahl. Das ist nicht automatisch so. Das Zweite ist: Gibt es auch größere Teile der weißen Mittelschicht in Amerika, die ein so gespaltenes Amerika, wie das Trump leider inzwischen organisiert hat, nicht wollen und deshalb für Joe Biden, seinen demokratischen Herausforderer, stimmen.
Meine Vermutung ist, die Wahl wird, wie die letzte, knapp ausgehen, dieses Mal möglicherweise in der Tat zugunsten der Demokraten, zugunsten von Joe Biden, aber ich glaube, es ist nach wie vor eine knappe Wahl und keineswegs so, dass da jetzt erdrutschartig was in Bewegung gekommen ist, denn die Unterstützer von Trump, die nehmen ja die Wirklichkeit völlig anders wahr als seine Gegner. Für die ist das ja alles sozusagen aufgebauschte Medienkampagne. Es gibt viele, die sagen, na klar muss man da jetzt im Zweifel die Nationalgarde einsetzen. Es ist nicht so, dass jetzt alle Leute sagen, der ist verrückt geworden, sondern das Land ist tief gespalten. Meine Befürchtung ist, das wird es auch eine Weile bleiben. Es ist was anderes, wenn ein kleines Land in der EU politisch gespalten ist oder wenn die Supermacht USA tief gespalten ist, denn das führt dazu, dass sie außenpolitisch ausfällt oder unberechenbare Schritte macht. Das ist natürlich für uns in Europa ein echtes Problem.
"Die Leute hatten die Nase voll von den Eliten in Washington"
Zurheide: Wenn ich dann allerdings jetzt höre – auch das haben wir in dieser Sendung schon angesprochen –, dass Organisationen wie die NFL sich da eindeutiger positionieren, als das in der Vergangenheit der Fall war – heute Morgen gibt es eine Wortmeldung von Bob Dylan, das alles sei unfassbar abstoßend, was da passiert –, scheint – ich sage das bewusst im Konjunktiv – die Bewegung breiter zu sein als in der Vergangenheit. Beobachten Sie das so ähnlich?
Gabriel: Man muss das hoffen. Es ist schon beeindruckend, was dort passiert. Trotzdem, ich bin ein bisschen vorsichtig, weil wir sehen immer die Bilder des sprechfähigen, des demokratisch artikulationsfähigen Amerikas. Es gibt aber noch ein ganz anderes, das interessiert sich nicht für die Welt, und es interessiert sich auch nicht für Washington. Trump ist ja gewählt worden, gerade aus einer Motivation, dass die Leute die Nase voll hatten von den Eliten in Washington.
Es gibt nicht wenige, die sagen, schon deshalb ist übrigens Obama gewählt worden, nicht etwa, weil er sozusagen ein schwarzer Präsident war, sondern obwohl er ein schwarzer Präsident war, denn er kam nicht aus Washington, er ist gegen das Establishment der demokratischen Partei aufgestellt worden, und diese Anti-Establishment-Bewegung, die in Washington weltabgewandte Eliten sieht, die um das große Geld kreisen, der Wall Street, diese Bewegung gibt es immer noch in den USA. Das sind die härtesten Unterstützer von Trump.
Zurheide: Es gibt heute Morgen …, im Hintergrund läuft hier bei mir CNN, was natürlich auch nur eine bestimmte Sicht der Amerikaner abbildet, aber da heißt es dann, der amerikanische Präsident versucht – ich sage das jetzt bewusst in Anführungszeichen –, den Kulturkrieg zu gewinnen. Man könnte auch sagen, den Unkulturkrieg aus unserer Sicht. Ist das richtig oder falsch?
Gabriel: Sicher. Er ist schon jemand, der mit aller Härte die Konfrontation sucht. Er ist keiner, der sagt, ich muss irgendwie mein Land einen, sondern hier geht es um gewinnen und verlieren. Das ist mehr als eine Wahl. Er will Amerika dramatisch ändern. Er hat ja auch Berater. Denken Sie mal an den Bannon, der damals bei ihm war, ein richtiger Rechtsradikaler, und auch solche Leute wie der frühere Botschafter in Deutschland, Grenell. Das sind ja Leute, die bei uns hier in der AfD ihren Platz finden würden oder noch rechts davon. Also solche Leute wollen nicht nur einfach einen politischen Sieg erringen, sondern Amerika als Ganzes nach rechts rücken, und dagegen regt sich allerdings erheblicher Widerstand.
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