Sprecherin: Das Bundesverdienstkreuz hat sie vor ein paar Jahren abgelehnt. Begründung: Auch Personen mit NS-Vergangenheit hätten die Auszeichnung bereits erhalten. Eine Ehrung der Stiftung Auschwitz-Komitee hingegen nahm sie gern an. Margret Hamm macht keine Kompromisse, zumindest nicht, wenn es um ihr Anliegen geht, an das Leid und das Unrecht zu erinnern, das Menschen im Nationalsozialismus widerfahren ist, weil sie von den Nazis als lebensunwert und minderwertig betrachtet wurden.
Seit den späten 80er-Jahren engagiert sich Margret Hamm im Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten, BEZ. 2001 wurde sie dessen Geschäftsführerin. Ihr Weg zum BEZ verlief, so ihre Selbstauskunft, im Zickzack, beruflich wie räumlich: Geboren am 8. Juli 1945 in Weimar wurde sie im Alter von nur sechs Wochen über die Zonengrenze in den Westen verfrachtet, genauer, in den Osten von Nordrhein-Westfalen, nach Bad Driburg.
Von dort aus zog Margret Hamm mit den Eltern quer durchs Bundesland, begann, deren Wunsch folgend, ihre Berufslaufbahn im Fernmeldeamt. Doch statt Postbeamtin wurde sie maschinenbautechnische Zeichnerin, legte später eine Begabten-Sonderprüfung ab und begann ein Lehramtsstudium in Geschichte, Deutsch und Wirtschaftslehre in Bielefeld. Aus privaten Gründen war Margret Hamm jedoch nur kurze Zeit als Lehrerin tätig. Das Interesse für das Historische aber blieb, und so fand Margret Hamm schließlich zum BEZ. Der Verein hat seine Struktur längst verändert, Margret Hamm aber setzt ihr Lebensmotto fort: im Zickzack durch Deutschland, unterwegs für die Belange der NS-Opfergruppe.
Margret Hamm: Das waren oft dann die Kinder und Enkelkinder, die dann das gemerkt haben, irgendwas in unserer Familie wird zugedeckt, und die Dinge gefunden haben, die sie nicht einordnen konnten. Es gab sozusagen die sogenannten weißen Flecken.
Verraten, verletzt, verdrängt: die Betroffenen.
Johanna Herzing: Frau Hamm, vielen Dank fürs Kommen! "Zeitzeugen im Gespräch", so heißt die Sendung, und wenn man es ganz genau nimmt, dann, muss man sagen, ist das hier so was wie eine Art Rollentausch für Sie, weil eigentlich sind Sie seit gut zwei Jahrzehnten eine Person, die Zeitzeugen befragt, die mit ihnen arbeitet und sich für ihre Interessen einsetzt. Mit welchen Menschen und mit was für Lebensgeschichten hatten Sie es da zu tun?
Hamm: Um das zu beschreiben müsste man aus meiner Sicht eigentlich früher anfangen, nämlich, dass der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten eine Opferorganisation ist beziehungsweise gewesen ist, die von den Opfern selbst gegründet worden ist und dadurch schon die Menschen, in Anführungsstrichen, vor Ort gewesen sind.
Und ich bin 2001 nach Detmold gekommen, da hat man mich gefragt, ob ich dort hinkomme, und habe dort dann direkten Kontakt mit den Opfern gehabt, habe aber vorher schon über zehn Jahre für die Opfer im Rhein-Main-Gebiet gearbeitet, in Anführungsstrichen natürlich.
"Die Denunziation war schon Programm des Ganzen"
Herzing: Von welchen Opfern sprechen wir?
Hamm: Von den Opfern der Zwangssterilisation und der Euthanasie. Und der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten hatte unter anderem auch bundesweit sogenannte Gesprächskreise. Und einer dieser Gesprächskreise war in Frankfurt, und ich habe damals in Offenbach gearbeitet und habe dann hier in Frankfurt diesen Gesprächskreis betreut ist übertrieben, aber ich habe mich monatlich mit den Menschen getroffen und das, was wir uns vorgestellt haben, mit ihnen besprochen. Sie konnten da über ihr Leben erzählen und so weiter. So ist dieser Kontakt auf dieser Ebene entstanden.
Herzing: Was waren das für Lebensgeschichten, was war diesen Menschen widerfahren?
Hamm: Also allgemein vom BEZ die Opfer, die wir betreut haben, das waren weit über 1000, sie waren zwangssterilisiert und ihre Eltern sind in der Euthanasie ermordet worden, und, oder muss man sagen, ja. Und die Menschen, deren Eltern oder Geschwister ermordet worden sind, die nennt man Euthanasie-Geschädigte. Das ist ein Begriff aus der Bürokratensprache, der sich so eingebürgert hat. Das sind die Kinder der ermordeten Eltern.
Herzing: Ungefähr 400.000 Zwangssterilisierte, beinah annähernd so viele Euthanasie-Opfer - wenn wir auf die Überlebenden blicken: Wie hat sich das, was denen passiert war, bemerkbar gemacht?
Hamm: Bei den Zwangssterilisierten war das so, dass sie keine weiterführenden Schulen besuchen durften, dass sie in der Berufswahl eingeschränkt waren, und dass Zwangssterilisierte nur Zwangssterilisierte heiraten durften. Und sie haben da sehr, sehr drunter gelitten, weil sie sind nicht irgendwie hineingestolpert, sondern diese Geschichten, sowohl bei der einen Opfergruppe als auch bei der anderen Opfergruppe, sind häufig denunziert worden, und die Denunziation war schon Programm des Ganzen.
Herzing: Wie muss man sich das vorstellen, so eine Denunziation?
Hamm: Einmal die Möglichkeit, dass Menschen geboren worden sind mit irgendwelchen Handicaps, dass sie dann schon von den verschiedenen Institutionen, die damit in Berührung gekommen sind, angezeigt worden sind, es gab eine sogenannte Anzeigepflicht, und, was ganz verbreitet war, dass die Menschen von Nachbarn angezeigt worden und denunziert worden sind, und sowohl zur Zwangssterilisation, die dann letztendlich erfolgte, als auch, dass Menschen aufgrund dieser Denunziation in der Euthanasie ermordet worden sind.
Das ist ein Bereich, der jetzt so allmählich erst ins sogenannte Bewusstsein der Forschung kommt, und das finde ich ganz wichtig, weil das hat die Menschen geprägt. Sie haben in ihren Lebenszusammenhängen gelebt und wurden von Nachbarn denunziert, dass sich zum Beispiel die Eltern nicht drum kümmern, um ihre Kinder, und so weiter.
Herzing: Ansonsten war das ja ein ganz formeller Vorgang dann, der zur Zwangssterilisation geführt hat. Können Sie das noch mal ein bisschen beschreiben?
Hamm: Ja, das war diese sogenannte Anzeige oder Denunziation. Und das ging über den Amtsarzt und die haben dann die Verfahren in Gang gesetzt, und es gab dann Begutachtungen, je nachdem, von welcher Institution sie angezeigt worden sind, und die Menschen in den Heil- und Pflegeanstalten auch, die wurden auch durch die Anstaltsleitungen angezeigt, und sie unterlagen dann bestimmten Prozeduren.
Es gab sogenannte Intelligenzprüfungsbögen, es gab polizeiliche Zeugnisse, Berichte von Nachbarn. Ich habe mal in Detmold im Archiv - da haben sie dort über 20 Formulare zusammengetragen, die einfach, wenn alles komplett war, so eine Erbgesundheitsgerichtsakte, wie man das nennt, waren das über 20 Formulare, die da drin waren.
Dann gab es die Erbgesundheitsgerichte, die diese Beschlüsse dann gefasst haben, und wenn Eltern sich gewehrt haben, dass ihre Kinder zwangssterilisiert werden sollten, dann konnte man theoretisch an das Erbgesundheitsobergericht gehen, aber wir haben auch bei uns Beispiele in unserem BEZ, dass die Angehörigen, die dann vor dem Erbgesundheitsobergericht recht bekamen, dass es nicht richtig sei, dass ihre Kinder oder ihr Kind zwangssterilisiert werden sollte, es trotzdem zwangssterilisiert worden ist. Also das ist überall eine Grauzone.
"Es gab Menschen, die sehr drunter gelitten haben"
Herzing: Wie haben Sie diese Menschen, die Sie da kennengelernt haben, diese Opfer, wie haben Sie die wahrgenommen? Waren das gebrochene Menschen oder war da eine ganze Bandbreite sozusagen an Umgangsformen mit dem erlittenen Leid?
Hamm: Ich glaube, das geht in den Bereich der Traumaforschung, würde ich behaupten. Ich bin keine Fachfrau in diesem Bereich, ich habe nur drüber gelesen später, sehr, sehr viel später, weil das so auffällig war. Es gab also Menschen, die sehr drunter gelitten haben, unter diesen Traumatisierungen, die das auch zum Ausdruck gebracht haben emotional, es gab aber auch Menschen, die sich andere Welten aufgebaut haben, die in dieser anderen Welt ganz zuhause waren und das alles verdrängt haben und dann ganz, ganz spät und manchmal zufällig die Dinge dann, in Anführungsstrichen, rausgekommen sind. Das war auch sehr oft bei den Kindern von den Euthanasie-Opfern so.
Herzing: Wie trat das dann zutage oder wie wurden die drauf gestoßen?
Hamm: Das waren oft dann die Kinder und Enkelkinder, die dann das gemerkt haben, irgendwas in unserer Familie wird zugedeckt, und die sich dann an den BEZ gewandt haben und die auch manchmal zu Hause, wenn jemand verstorben ist, in den Unterlagen Dinge gefunden haben, die sie nicht einordnen konnten, es gab sozusagen die sogenannten weißen Flecken, und das zum Anlass genommen haben, um dann eine Recherche zu betreiben.
Hamm: Versuchen, dieses Leid zu erfassen, das kann man nicht, aber es versuchen, zu würdigen.
Der Weg zum Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten, BEZ.
Herzing: Ich würde gern noch mal ganz persönlich fragen: Wie sind Sie mit dem Thema in Berührung gekommen? Es war Ihnen ja jetzt nicht so in die Wiege gelegt, Sie waren auch keine Selbst-Betroffene wie andere Personen, die sich beim BEZ sehr stark engagiert haben, die es auch mit gegründet haben. Wie war es bei Ihnen? Wie kamen Sie mit dem Thema in Berührung?
Hamm: Tja, Sie haben es ja gesagt, ich bin nicht selbst betroffen. Ich habe mich mit der Geschichte der NS-Zeit und auch der Weimarer Republik sehr intensiv beschäftigt während meiner Ausbildung und habe dann in den 80er-Jahren, damals lebte ich, zu der Zeit, schon mal in der Region Ostwestfalen und habe die Gründung des BEZ mitbekommen und eine Veranstaltung, es gab damals ein Gesetz, ich glaube, das hieß, das neue Betreuungsrecht, fragen Sie mich jetzt nicht, wie das Gesetz genau hieß, und da war an der Uni Bielefeld eine Veranstaltung mit Herrn Prof. Dörner und Frau Nowak.
Und ich habe daran teilgenommen und dann eben mitbekommen ziemlich schnell, dass diese Gruppe in der Öffentlichkeit absolut keine Menschen hat, die für sie eintreten - Herr Dörner ja, denn er war derjenige, der überhaupt das Ganze mit in Gang gebracht hat, dass der BEZ entstehen konnte, denn vorher hat auf die Menschen kein Mensch gehört, und der war zu der Zeit ja Leiter des Landeskrankenhauses in Gütersloh und hat durch seine Kompetenz erreichen können, dass der BEZ, dass die Betroffenen sich gesammelt haben. Das war 1986, und 1987 konnten sich dann der BEZ durch die Menschen, die selbst von den Schicksalen betroffen gewesen sind, gründen.
"Ich habe die ganzen Gräuel in Buchenwald wahrgenommen"
Herzing: In welcher privaten oder beruflichen Situation waren Sie damals, als Sie bei dieser Veranstaltung waren? War das noch während Ihrer Ausbildungszeit oder waren Sie da schon beruflich aktiv?
Hamm: Ich war, jetzt muss ich mal überlegen, 1987, ich war beruflich aktiv, ja.
Herzing: Als Lehrerin damals?
Hamm: Nein, mein Lebenslauf ist zickzack-mäßig und ich habe damals in der Industrie gearbeitet.
Herzing: Das ist ein ungewöhnlicher Zugang, also ist doch überraschend, dass Sie mit diesem beruflichen Hintergrund dann an so einer Veranstaltung teilgenommen haben.
Hamm: Ja, mich hat dieses Thema durch das Studium absolut interessiert und ich war als junge Frau dann ... Ich bin in Weimar geboren, nur voraus, möchte ich nur sagen, und habe dann später, als ich jung war, noch zu DDR-Zeiten, Buchenwald besucht und habe da die ganzen Gräuel und alles intensiv wahrgenommen, und das war für mich wie so eine Politisierung.
Herzing: Und woher kam dieses Interesse, können Sie das beschreiben? War das Unrechtsempfinden?
Hamm: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen Menschen so etwas angetan haben. Das war … Ich würde es fast als Unverständnis … Das ist heute noch so, wenn ich von diesen Verbrechen höre, gibt es ja immer noch neuere Forschungen – das kann man sich einfach nicht vorstellen, dass Menschen Menschen so etwas antun.
Das ist ja auch in der heutigen Gesellschaft so, wenn man das um sich herum betrachtet, dass man manche Dinge einfach nicht verstehen kann, dass Menschen so etwas tun. Und eins der Bücher, die mich dann geprägt haben, das war das Buch von Ernst Klee über die NS-Euthanasie.
Herzing: Das war in den 80er-Jahren.
Hamm: Ja, und das hat mich sehr beeindruckt. Und ich war zu der Zeit in Ostwestfalen, ich weiß nicht, ob man es politisch nennen kann, in der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes tätig und habe da Sachen organisiert, Seminare und solche Dinge, und habe eben dort gemerkt, dass Menschen, die eigentlich politisch sein wollten oder waren, über diesen Bereich der Geschichte nichts wussten. Und war so eine Motivation zusätzlich, um da mich weiter zu engagieren. Und eigentlich, seit 1987, 1988, seit dieser Zeit habe ich immer für den BEZ mehr oder weniger im Hintergrund dann gearbeitet.
Herzing: Ich würde gern noch mal so auf die frühere Phase Ihrer Biografie gucken. Sie haben ja im Vorgespräch gesagt, dass Ihr Elternhaus sehr religiös war. Kommt von dieser religiösen Prägung vielleicht auch das Interesse für diese Themen NS-Vergangenheit, NS-Unrechtsregime?
Hamm: Das vermag ich in dieser Form nicht zu beurteilen. Ich kann nur über meine Erfahrungen dieser sehr streng religiösen Prägung etwas sagen, was ich aber nicht möchte. Und ich bin in einer Klosterschule erzogen worden, und das merke ich immer noch, dass diese Prägung, diese konfessionelle Prägung bis ins hohe Alter, so alt, wie ich jetzt bin, mich immer noch prägt, was die moralischen, ethischen Dinge angeht. Und das mag sicherlich eine Motivation sein. Ich kann es aus dem Grund privat nicht jetzt weiter ausführen, weil ich meine Eltern sehr früh verloren habe und ich ihnen Unrecht täte, wenn ich mit ihnen hätte sprechen können und es wäre anders gewesen, aus dem Grund.
"Das ist einfach so ausgeblendet worden"
Herzing: Wie haben Sie Ihre Schulzeit wahrgenommen? NS-Verbrechen, Euthanasie, war das Thema?
Hamm: Überhaupt nicht, das hörte irgendwie vor dem Zweiten Weltkrieg auf und in der Bundesrepublik ging das dann weiter. Das war überhaupt keine Prägung, also kein Unterricht. Also das haben, glaube ich, ganz viele Schüler und Schülerinnen meiner Generation in der Schule so erlebt, dass es einfach ausgeblendet war.
Herzing: 1968 hat sich das ja sehr stark geändert, da gab es dann sozusagen von der jungen Generation den Impetus, sich endlich mit den Naziverbrechen zu befassen, auch mit den Nachkriegskarrieren von NS-Tätern. Wie haben Sie 1968 erlebt? Da waren Sie Anfang 20. Waren Sie auf der Straße, haben Sie sich mit den Themen befasst, haben Sie revoltiert?
Hamm: Ich habe sozusagen meine ersten Konfliktsituationen hinter mir gehabt, weil ich da schon einmal verheiratet war und gerne studieren wollte, und das konnte man damals in Westfalen über die sogenannte Begabten-Sonderprüfung, und war dadurch politisch aktiv.
Herzing: Weil Sie das durchboxen mussten?
Hamm: Genau. Es ist nicht auf Gegenliebe meines Partners gestoßen, und letztendlich ist das Ganze dann auch gescheitert. Ich habe die Sachen in Bielefeld dann mir angehört, wenn so Versammlungen waren von den Studenten, aber ich kam von außen, ich bin nicht da reingewachsen und habe dann die Sachen erlebt und habe es nicht verstanden, diese Politisierung, weil die sehr stark, sage ich mal, parteipolitisch oder ideologisch ausgerichtet war. Das habe ich nicht verstanden.
Und es war aber wie so ein, wie soll ich sagen, wie so ein Kaffeesatz, was einen geprägt hat, diese Herangehensweise. Und das Studium in Bielefeld, da hatte ich wirklich gute Lehrer, die auch dieses Bewusste dann haben prägen können.
Herzing: Sie haben ja im Vorgespräch auch gesagt, dass die Lektüre von Eugen Kogon Sie stark geprägt hat, ein Buch über den Terror in den deutschen Konzentrationslagern, erschienen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wann konnten Sie das lesen?
Hamm: Oh, das war erst in den 80er-Jahren. Das war in den 80er-Jahren, wo ich mich dann getrennt habe von meiner ersten Vergangenheit und die zweite sich andeutete, da habe ich das Buch gelesen, und das hat mich doch sehr, sehr, sehr erschüttert, was ich dort gelesen habe.
Und das kann man auch sagen, dass das absolut prägend war, so um dieses Leid zu erfassen, das kann man nicht, versuchen, zu verstehen, kann man auch nicht, aber es versuchen, zu würdigen, was die Menschen da erlitten haben.
Herzing: War Ihr Empfinden, dass das immer noch Tabu-Themen waren zu der Zeit?
Hamm: Aus meiner Erfahrung ja, aber mein Blick war sehr begrenzt, da ich ja nicht in politischen oder in großem öffentlichen Rahmen agiert habe, sondern im ostwestfälischen Kleinklein damals.
"Ich muss die Freiheit haben, auch rechts und links zu denken"
Herzing: Aber es waren jedenfalls keine Themen, über die man in der Familie, im Bekannten-, Freundeskreis irgendwie offen gesprochen hätte?
Hamm: Familie hatte ich schon lange nicht mehr und im Freundeskreis, da waren eben andere politische Dinge im Vordergrund, die besprochen worden sind, die dann aber auch zu einem differenzierten Denken bei mir geführt haben und ich dann die Distanz hatte später.
Herzing: Das waren aktuellere politische Fragen?
Hamm: Ja, das waren so bestimmte Herangehensweisen, die sicherlich einerseits prägend waren in kritischer Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus und die Zeit danach. Aber eben: Ich kann bis heute nicht mich parteipolitisch festlegen, also ich muss die Freiheit haben, auch rechts und links zu denken. Und das war in dieser Form damals für mich nicht gegeben und deshalb habe ich mich da von diesem ideologischen Denken versucht, zu lösen.
Herzing: Wie war Ihr Freundeskreis da aufgestellt? Entschuldigung, ich bin so neugierig. Also war das sozusagen ein mit dem Kommunismus sympathisierender, studentisch geprägter Bekanntenkreis?
Hamm: Das waren damals Kommunisten, die aber nicht in diesem studentischen Bereich tätig waren, sondern aus dem ganz alltäglichen Leben kamen, also dem normalen Berufsleben. Und was mich aber dann doch auch noch geprägt hat, das war viel, viel später, als ich damals hier im Rhein-Main-Gebiet war, hatte ich einen Freund, der war Kommunist und der war eine ganze Ecke älter als ich, und der hat mir viel, viel über seine eigenen Erlebnisse aus der Zeit erzählen können, und in den 50er-Jahren, als dieses KPD-Verbot war, saß der im Knast und hat über diese Zeit berichtet. Und das hat mich doch sehr nachdenklich gestimmt. Und das war zum Beispiel ein Gesprächspartner, mit dem ich da diskutieren konnte. Das war sehr gut.
Hamm: Es ging ganz oft ums Erzählen des Erlebten, weil wirklich, diese Vereinsamung, die ist ein ganz, ganz großer Bereich, den die Menschen erlitten haben.
Ein Akt der Emanzipation: NS-Opfer schließen sich zusammen.
Herzing: Sie sind 2001 Geschäftsführerin des Bunds der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten geworden. Gegründet wurde der BEZ wiederum 1987, vier Jahrzehnte nach Kriegsende. Warum so spät?
Hamm: Tja, das werde ich oft gefragt, warum so spät – das hat mit der Vorgeschichte sicherlich zu tun, dass eben die Menschen, die Opfer der Zwangssterilisation und auch die Kinder der Ermordeten, traumatisiert waren und diese Erlebnisse in den 50er-, 60er-, 70er- und bis Ende der 80er-Jahre hatten, dass sie kein Gehör fanden und alleine in ihrer Situation standen mit diesen Traumatisierungen und mit dem, was sie erlebt haben und eben an negativen Rückmeldungen immer bekamen, wenn sie Prozesse geführt haben.
Und da muss man bedenken: Im BEZ waren eigentlich fast alle Opfergruppen vertreten, also die zu anderen Opfergruppen gehörten, es waren jüdische Menschen da, es waren Zeugen Jehovas da, es waren sogenannte Prostituierte, sogenannte Asoziale, Sinti und Roma, es waren aus allen Schichten, die einzelne Gruppen waren und auch eigene Organisationen zum großen Teil hatten - bis auf wenige, die immer zu kämpfen hatten wie wir auch. Das Gemeinsame, was sie im BEZ gefunden haben, war entweder die Zwangssterilisation oder die Ermordung der Eltern durch die Euthanasie, denn teilweise sind die Eltern ja auch im Konzentrationslager ermordet worden oder an anderen Stellen. Also das war so das Verbindende. Das war sicherlich einer der Gründe mit, diese Lebensgeschichten, und dieses Vergeblich-gegen-die-Wand-Laufen.
Und wir als BEZ, als Organisation konnten wir das auffangen, und die Menschen hatten ziemlich schnell Vertrauen zur Geschäftsführung beziehungsweise zur Vorsitzenden, die Geschäftsführung wurde dann erst mit meinem Kommen eingeführt. Die Frau Nowak war ja selbst eine zwangssterilisierte Frau und die kannte diese Kämpfe und die kannte die Nöte. Und die Allermeisten waren durch ihre Schicksale eben nicht nur traumatisiert, sondern sie waren ziemlich einsam, hatten durch die beruflichen Hemmnisse, die sie hatten, nicht die Berufsausbildung gehabt, sie haben teilweise in den damaligen Anstalten arbeiten müssen, sie haben Verletzungen erlebt. Und bei denen, die arbeiten mussten, wir haben da Beispiele, dass in den Rentenbescheiden von heute, dass da diese Arbeitsjahre aufgeführt worden sind, aber die Anstalten haben keine Beiträge abgeführt, somit haben sie in ihren Rentenbescheiden auch wiederum Verluste erlitten.
"Ein fruchtbares Geben und Nehmen"
Herzing: Die 80er-Jahre waren ja so die Zeit der Psychiatriereform, auch der Ansatz Geschichte von unten, die Betroffenensicht stärker sichtbar machen. War das so die Folie oder der Hintergrund, vor dem dann die Gründung des BEZ stattfand?
Hamm: Ich würde sagen, absolut, weil der Professor Dörner, der Hauptanstoßgeber, ja aus dieser Bewegung kam, und zu der Zeit entstand damals auch der Arbeitskreis zur Erforschung der Zwangssterilisation und Euthanasie, und der hat dann die Wissenschaft gesammelt. Und es war so, dass zu diesem Zeitpunkt die Wissenschaft von den Opfern lernen konnte, die sich in der Organisation getroffen haben, und die Betroffenenorganisationen, sprich, Frau Nowak und die Beschäftigten im BEZ, haben von der Wissenschaft gelernt. Das war also wirklich ein fruchtbares, würde ich sagen, aus heutiger Perspektive ein fruchtbares Geben und Nehmen.
Herzing: Wie ging diese Gründung dann vonstatten, ganz konkret?
Hamm: Die erste Zeit haben sich die Leute im Bundesgebiet, wo überall sich Menschen gefunden hatten, getroffen und versucht, zu sammeln, und ist hingefahren und so weiter. Und letztendlich zur Gründungsversammlung: Die war in Detmold.
Herzing: Wo Frau Nowak lebte.
Hamm: Genau, und das war ein Grund, warum der BEZ also nicht am Nabel der Welt beheimatet war, sondern im ostwestfälischen Detmold. Und die Menschen, die sich zusammengefunden hatten, die wollten alle aktiv sein, in dieser ersten Phase ganz besonders, und haben das absolut unterstützt. Sie sind in die politischen Gremien gegangen, sie sind in die Versammlung da und da und da hingegangen und haben versucht, ihre Interessen durchzusetzen.
Herzing: Worum ging es konkret? Ging es um einen Austausch oder ging es um mehr?
Hamm: Es ging um mehr. Was ganz am Anfang gravierend war, weil sehr, sehr viele von ihnen eben in bescheidenen finanziellen Verhältnissen lebten, waren die Entschädigungssituationen und dass das überhaupt in Gang kam. Und das Zweite ist die Gleichstellung, worum wir ja schon seit 1987 kämpfen, Frau Nowak schon, die Gleichstellung mit anderen NS-Verfolgten, weil diese Opfergruppe immer noch nicht, die Zwangssterilisierten und die Euthanasie-Geschädigten, immer noch nicht auf der entschädigungspolitischen Ebene als Verfolgte anerkannt werden. Das heißt, dieser Begriff "Verfolgte des NS" ist gekoppelt an die Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz, das ist so zementiert. Und um diesen Bereich rum gehen diese ganzen Auseinandersetzungen.
Herzing: Das werden wir gleich noch mal vertiefen, die Entschädigungsfragen. Vielleicht können Sie noch ein bisschen über diese Gesprächskreise berichten, die dann eingerichtet wurden – in der ganzen Bundesrepublik?
Hamm: Ja, das war in der ganzen Bundesrepublik. Es gab zwölf und die wurden auch sehr, sehr angenommen.
Stigmatisierung und Beschämung
Herzing: Was wurde da gemacht?
Hamm: Die Menschen haben miteinander gesprochen, sie waren ja alle vereinzelt, sie kannten sich nicht. Also wir hatten ja dann die Adressen, wir haben das vermittelt und es wurde dort gesprochen, und wenn sie Probleme hatten, konnten sie … Wir hatten auch immer sogenannte Gesprächskreisleiter, die dann sie lösen konnten oder versuchten, sie zu lösen oder mit uns Kontakt aufzunehmen. Und es ging ganz oft ums Erzählen des Erlebten, weil wir wirklich, diese Vereinsamung, die ist ein ganz, ganz großer Bereich, den die Menschen erlitten haben durch diese Stigmatisierung, dass sie eben lebensunwert waren in der NS-Ideologie, und diese Beschämung, sie schämten sich auch dafür, dass sie als solches in der Nazizeit stigmatisiert worden sind, und waren dann nach 45 und nach Gründung der Bundesrepublik beschämt darüber, dass man sie immer noch nicht wahrnahm und dass man sie immer noch ausgrenzte und sie so um ihre Dinge kämpfen mussten.
Hamm: Weil es Almosen waren, ganz einfach.
Ein Gesetz mit langer Wirkung, oder: Kampf um Anerkennung und Entschädigung.
Herzing: Es sind zwei Stichtage, die für die Arbeit beim BEZ eine große Rolle spielen, das ist einmal der 14. Juli 1933, der Tag, an dem das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen wurde, und dann der 1. September 1939, das Datum, das der sogenannte Euthanasieerlass trägt, mit dem Hitler die NS-Euthanasiemorde eingeleitet hat. Beides hat sich auf jeweils hunderttausende von Menschen ausgewirkt: Sie wurden zwangssterilisiert oder ermordet. 1945, könnte man denken, war dieses Gesetz, der Erlass und auch die Ideologie dahinter eigentlich Makulatur – aber das war nicht so, oder?
Hamm: Nein, das war leider nicht so. Das lässt sich eigentlich abbilden an dieser Entschädigungsdiskussion, dass diese Dinge sich fortgesetzt haben in der Bundesrepublik.
Herzing: Warum wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1945 nicht automatisch null und nichtig? Was für ein Nachleben hat dieses Gesetz gehabt?
Hamm: Ein ziemlich langes. Erst 2007 hat man es im Prinzip aufgehoben, im Prinzip. Dieses Gesetz ist nach 45, nach der Nazizeit, in den verschiedenen Alliiertenzonen … Unterschiedlich ist man damit umgegangen, und dann später in den verschiedenen Bundesländern auch. Und es ist eigentlich nur in Bayern aufgehoben worden direkt nach dem Krieg, und direkt nach dem Krieg, also ich glaube, 45, 46 war das, im gesamten sowjetischen Bereich. Und in allen anderen Ländern, die es damals gab, hat man unterschiedliche Gründe gefunden, um mit ihnen weiter zu arbeiten, so zum Beispiel in der englischen Zone, dass man das noch mal benutzen können wollte. Und 1974, wurde ja oft gesagt, seit der Zeit gibt es das nicht mehr, das ist aber nicht richtig, denn es wurde damals nur außer Kraft gesetzt, und ein Gesetz, was man außer Kraft setzt, kann man auch wieder in Kraft setzen.
Herzing: Aber es wurde ja in der Nachkriegszeit nicht mehr zwangssterilisiert. Wie hat sich dieser Fortbestand des Gesetzes ausgewirkt?
Hamm: Es gab ganz lange – und deshalb waren auch diese Bestrebungen zu diesem späteren Betreuungsgesetz –, es gab so eine Dunkelzone, wo immer noch sterilisiert worden ist. Das wurde dann geregelt endlich, als dieses neue Betreuungsgesetz dann verabschiedet worden ist. Aber einer der Gründe, warum das auch so weiter lief, das war jetzt nicht nur die unterschiedliche Handhabung in den unterschiedlichen Zonen und späteren Bundesländern, sondern auch die Kontinuität der Täter in den Funktionen, die Beeinflussung gemacht haben.
Als das erste Mal über Entschädigung für Zwangssterilisierte diskutiert worden ist, das war ein Ausschuss 1961, wo Leute als Gutachter eingeladen worden sind, und von den sieben geladenen Gutachtern waren drei NS-Täter, das war Herr Fillinger, Herr Nachtshalm und Herr Ehrhardt, und alle drei waren in diesen Bereichen tätig. Herr Fillinger hat ungefähr 1700 Menschen in Bethel angezeigt zur Zwangssterilisation, hat später als T4-Gutachter die Menschen selektiert für die Euthanasie und war dann in der Bundesrepublik später hoch angesehen, der Herr Nachtsheim hat an epileptischen Kindern geforscht, und der Herr Ehrhardt, der saß im Erbgesundheitsgericht und Erbgesundheitsobergericht und hat die Urteile gefällt.
Und diesem Herrn Professor Ehrhardt sind wir immer noch begegnet, nachdem der BEZ gegründet war, und das hat mich absolut erschrocken, dass der immer noch 1987 vom Bundestag eingeladen worden ist, um als Gutachter zu sprechen. Der hat genau das Gleiche abgelassen, was er 1961 auch schon gesagt hat, dass das alles so rechtens gewesen sei und dass man nichts machen könne, und damals, 61, sprachen sie von Entschädigungsneurosen. Und aufgrund dieser Gutachtertätigkeit 61 sind diese Opfer aus dem BEG ausgeschlossen gewesen.
Herzing: Aus dem Bundesentschädigungsgesetz, das in der Nachkriegszeit eingerichtet wurde, um die Opfer des NS-Regimes zu entschädigen, also finanziell zu entschädigen.
Hamm: Ja.
"Jede Opfergruppe hat für sich was erstritten"
Herzing: Sie sprechen beim BEZ häufig davon, dass die Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten Opfer zweiter Klasse sind. Was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Hamm: Einmal, dass es so lange gedauert hat, dass sie bis in die Ende 80er-Jahre nach Gründung des BEZ eigentlich aus dem Blickfeld der Gesellschaft rausgefallen sind, nicht nur der Gesellschaft, auch der Politik, die ja zur Gesellschaft gehört, nicht wahrgenommen worden sind und eben in dieser ganzen Gesetzgebung, die in der Bundesrepublik gelaufen ist, in Klammern, und läuft bis heute, diese Opfer immer ausgegrenzt werden.
Sie können das anhand der Entschädigungsleistungen, die dann vom BEZ erstritten worden sind, nachvollziehen, in welchen kleinen Häppchen, mit welchen kleinen Unterschieden das immer so ein Stückchen weiter … und dann müssen wir jetzt das noch und das noch, aber es war immer im Unterschied zu den anderen Opfergruppen. Und ich hatte, wann war das, …
Herzing: Wie kam es dazu? Führen Sie das nur auf diesen Gutachterausschuss oder diese Anhörungen im Ausschuss 1961 zurück? Oder war das eine gesamtgesellschaftliche Haltung dieser Gruppe der NS-Opfer gegenüber?
Hamm: Sowohl als auch. Die unterschiedliche Haltung in der Gesellschaft hat sich sicherlich da auch widergespiegelt, dass man so damit umgegangen ist, und es hat keiner Anstoß daran gefunden, dass das so war.
Herzing: Also dass man dachte, na ja, bei denen war schon irgendwas komisch, war vermutlich auch nicht Unrecht, was denen widerfahren ist, oder was war das?
Hamm: Ja, das kann ich nicht sagen. Ich möchte keine falschen Dinge behaupten. Aber diese Tendenzen, die sich dann ja in den Jahren wieder bemerkbar machten, gingen ja dahin, dass man wieder Menschen stigmatisiert hat. In der Politik war es so, dass durch die für jede Opfergruppe unterschiedliche Gesetzgebung, die es gab, anstatt für alle Opfer zu sprechen, hat jede Opfergruppe für sich was erstritten. Und wir hatten, als es damals um die Analyse beziehungsweise um die Aufhebung dieses Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ging, versucht zu erreichen im Vorfeld, da habe ich die verschiedenen größeren Organisationen besucht, um um lobbyistische Unterstützung zu bitten, weil ich immer dachte, Opfer sind solidarisch, in Klammern, sind sie aber nicht gewesen, vielleicht heute, hoffe ich, und wir haben nur gute Ratschläge bekommen, sie haben sich nicht engagiert. Und da war ich sehr, sehr enttäuscht. Und wir haben das alleine dann durchgefochten durch Aktionen.
In den 90er-Jahren lief eine, ich glaube, acht- oder neunjährige Petition diesbezüglich, die nach, ich meine, es war neun Jahre, nach neun Jahren abschlägig behandelt worden ist. Und als ich dann Anfang der 2000er-Jahre nach Detmold kam, hatte ich sozusagen das Näschen voll, und wir haben dann mit einer Postkartenaktion begonnen und die hieß dann "Weg mit dem NS-Rassegesetz", weil das wurde auch nie so deutlich gesagt. Man hat es ihnen ja immer abgesprochen, dass sie nicht rassistisch verfolgt worden sind, aber wenn man die Analysen und die ganzen Gesetze und die Kommentare zu diesen Gesetzen liest, ist eindeutig: Das war ein rassistisches Gesetz. Ist auch heute in der Forschung so dokumentiert.
Und wir haben das mit so einer Postkartenaktion begonnen, wo wir etliche 1000 haben drucken lassen und die sind verschickt worden auch alle, und dann haben wir zum 27. Januar 2005 an alle Bundestagsabgeordneten eine Forderung gestellt zu diesem Thema, und Ende 2005 hat der Nationale Ethikrat dann einen Beschluss gefasst, dass die Bundesregierung sich mit dem Thema beschäftigen solle. Und daraus ist dann dieses Bestreben geworden, dass man dieses Gesetz annulliert. Das ging dann wieder einige Jahre, und alle Befindlichkeiten der Parteien schwappten hoch, und wir haben also keine parteiübergreifende Stellungnahme erreichen können. 2007 wurde das dann im Bundestag verhandelt und beschlossen, nämlich die Ächtung des Gesetzes, dass man gesagt hat, dieses Gesetz hat nie in der Bundesrepublik Deutschland gegolten. Das war die Aussage. Und seit der Zeit ist es vom Tisch formal.
Herzing: Das war doch ein großer Erfolg für Ihre Organisation.
Hamm: Das war auch ein großer Erfolg. Aber man muss bedenken, dass bis dahin viele, viele, viele Opfer von 1949 an, also seit Gründung der Bundesrepublik, bis 2007 in Prozessen versucht haben, ihr Recht zu bekommen, und immer abgelehnt worden sind mit jenem Paragraph 1 des Bundesentschädigungsgesetzes eben, dass sie nicht rassistisch verfolgt worden sind und dass es kein typisches NS-Unrecht sei. Das war dieser gängige Begriff, der in allen Dingen immer wieder auftaucht.
Herzing: Aber unter dem Strich betrachtet gab es ja Entschädigungszahlungen. Warum waren die nicht gut genug?
Hamm: Weil das Almosen waren, ganz einfach. Wenn jemand nach dem Bundesentschädigungsgesetz entschädigt wird, der kriegte damals ein Mehrfaches von dem, was diese Menschen bekamen, und 1980 gab es das erste Mal die Möglichkeit, sogenannte Einmalzahlung 5000 DM zu erreichen. Und dann dauerte das bis 1990, bis auf Antrag eine laufende Zahlung von 100 DM an die Opfer gezahlt worden ist, auf Antrag, und wer das nicht wusste, der hat eben nichts bekommen.
Herzing: Das heißt, Sie sind über die Jahrzehnte eine perfekte, makellose Antragstellerin und Formularausfüllerin geworden?
Hamm: Oh, das würde ich von mir nicht behaupten, ich hasse es heute noch, mache es nicht gerne. Aber diese Anträge, natürlich, selbstverständlich, aber ich meine jetzt Anträge fürs Finanzamt oder solche Sachen, die liebe ich nicht.
Hamm: Und in eine Reihe mit NS-Tätern möchte ich mich nicht stellen, dafür bin ich zu politisch.
Fragen, Aufgaben und Herausforderungen der Gegenwart.
Herzing: 2009 hat sich der BEZ als eingetragener Verein aufgelöst, seit 2010 gibt es die Arbeitsgemeinschaft Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten. Ist Ihre Arbeit getan oder hat sie sich durch den Tod der Zeitzeugen, der Betroffenen, auch, wenn es jetzt zynisch klingt, von selbst erledigt?
Hamm: Das hat sich nicht erledigt, weil unsere Intention schon seit den 2000er-Jahren so gewesen ist, dass wir mit dem Thema in die Öffentlichkeit gehen wollen, wollen und müssen, weil sich eben Tendenzen in der Gesellschaft, in Gesetzgebung und so weiter wieder abzeichnen, dass Selektionsmöglichkeiten am Lebensanfang und am Lebensende sind. Und wir haben diesbezüglich immer offene Ohren gehabt und haben uns versucht, auch einzubringen in diese Diskussion.
"Diese Ängste muss man ernst nehmen"
Herzing: Das heißt, die Diskussion über Sterbehilfe, über Pränataldiagnostik, über Organspende.
Hamm: Ja.
Herzing: Warum gehen Sie diese Fragen in besonderer Weise an?
Hamm: Weil ich der Überzeugung bin, dass man, nur wenn man sich heute dazu positioniert, die Generation danach muss ich ja sagen schon, obwohl ich ja schon alt bin, versucht, sensibel zu machen für solche Themen. Man kann es nicht miteinander vergleichen, was in der NS-Zeit war und was heute ist oder sich abzeichnet. Aber man kann aufmerksam machen, was in einer relativ kurzen Zeit durch bestimmte Gesetze in der damaligen Gesellschaft geworden ist mit so und so viel hunderttausenden Opfern, und man kann drauf aufmerksam machen, was heute sich abzeichnet. Und in den Ländern um die Bundesrepublik herum gibt es ja schon wieder Euthanasiebestrebungen und gibt es auch Euthanasie.
Und ich finde es ganz, ganz schlimm, wenn so etwas hier in der Bundesrepublik auch möglich wird vor diesem historischen Hintergrund und die Verantwortung, jemanden zu töten – ist meine persönliche Überzeugung –, die möchte ich nicht tragen. Das ist etwas, was, verzeihen Sie den Ausdruck, was etwas Naturgegebenes, Göttliches ist oder was weiß ich, wenn mein Leben beendet werden soll, wenn ich krank bin und so weiter. Das ist eine ganz andere Ebene. Aber ich könnte nicht ertragen, wenn ich die Entscheidung geben muss: Der muss jetzt sterben.
Herzing: Aber Sterbehilfe bedeutet für Sie automatisch Euthanasie? Oder kann es nicht auch ein Selbstbestimmungsrecht sein bei einem todkranken Menschen?
Hamm: Wenn der Mensch selbst es möchte, ja. Aber es gibt ja auch Situationen, wo andere für ihn entscheiden, wenn er nicht mehr kann. Und wer will das entscheiden? Wer will das verwirklichen? Also das ist ein ganz, ganz, ganz kompliziertes Thema und ich beneide die Ärzte beispielsweise nicht oder die Angehörigen, die solche Entscheidungen treffen müssen.
Herzing: Wenn Sie Bilanz ziehen nach all diesen Jahren, wie fällt die aus? Ist die nur bitter, oder haben Sie das Gefühl, Sie haben was erreichen können in der gesellschaftlichen Wahrnehmung?
Hamm: Das Thema scheint an bestimmten Ecken hochzuschwappen, will ich mal so sagen, was das Thema Euthanasie angeht. Es geht aber heute die Diskussion in eine andere Richtung. Heute wird oft gesagt, den Menschen ihre Würde wiedergeben zu wollen durch Namensnennung und so weiter. Da bin ich sehr kritisch.
Herzing: Warum?
Hamm: Wenn ich Menschen die Würde wiedergeben will, dann bedeutet das für mich, dass ich mich auch für sie interessiere und für sie einsetze. Die Menschen, die heute über diese öffentliche Namensnennung diskutieren, die haben sich in aller Regel nicht für die Belange der Opfer eingesetzt, dass sie zum Beispiel gleich behandelt werden, dass sie in ihrem Leben besser zurechtkommen, dass sie medizinisch gut versorgt werden und solche Dinge. Das gehört aber, wenn ich einem Menschen die Würde wiedergeben will, aus meiner Sicht dazu.
Herzing: Das heißt, die Nennung der Namen von Euthanasie-Opfern lehnen Sie ab?
Hamm: Wenn die Angehörigen einverstanden sind, in Ordnung, aber wenn sie nicht einverstanden sind – und da gibt es etliche –, dann muss man das akzeptieren.
Herzing: Frau Hamm, 2016 wollte Ihnen gerne Bundespräsident Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz verleihen, Sie haben es ausgeschlagen. Warum? Das wäre doch eigentlich eine große Würdigung für Ihre Arbeit gewesen und hätte vielleicht auch die Aufmerksamkeit noch mal auf diese Arbeit gelenkt.
Hamm: Das konnte ich nicht ertragen, weil mit diesem Bundesverdienstkreuz ganz viele NS-Täter, sprich, auch die an der Euthanasie und Zwangssterilisation beteiligt waren, beispielsweise Herr Fillinger und Herr Nachtsheim, auch mit ausgezeichnet worden sind. Und in eine Reihe mit NS-Tätern möchte ich mich nicht stellen, dafür bin ich zu politisch, politisch im Sinne nicht von parteipolitisch, möchte ich unterstreichen, aber an politischen Themen interessiert.
Herzing: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was stünde auf Ihrer Wunschliste? Wären das nur gute Wünsche für die Arbeit des BEZ, oder dürften Sie sich auch ganz persönlich was wünschen?
Hamm: Ich würde mir nur was für die Opfer wünschen.
Herzing: Nämlich?
Hamm: Dass Sie eben den anderen gleichgestellt werden im entschädigungspolitischen Bereich, weil das von ihnen dann die komplette Stigmatisierung nimmt. Dieses letzte, was fehlt, das ist für die Folgegenerationen, denn in Gesprächen erfahre ich immer noch von den Betroffenen, dass sie sich schämen, dass das so war, und dass sie Angst haben, wenn das öffentlich – muss man sich vorstellen –, wenn das öffentlich wird und ihre Enkel bewerben sich irgendwo, dass sie Nachteile dadurch erfahren könnten.
Diese Ängste muss man ernst nehmen. Und deshalb würde ich mir wünschen, dass das komplett, auch wenn die aller-, aller-, allermeisten Menschen tot sind, erreicht werden könnte. Also das wären so grob umrissen meine Wünsche. Persönlich bin ich zufrieden.
!!Herzing: Frau Hamm, vielen Dank für das Gespräch!
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