Erdogan wünsche sich für sein Land eine Rolle, die das Osmanische Reich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gespielt habe, als bedeutende Ordnungsmacht in der Region und weit darüber hinaus bis zum Balkan. Es sei völlig klar, dass das heute nicht mehr umsetzbar sei. Eine solche osmanische Region werde es aber nie wieder geben, so Erdmann im Interview der Woche im Dlf.
Trotz der schleppenden Verhandlungen über eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union warb Erdmann dafür, den Prozess nicht zu beenden. In der Türkei seien mit den Beitrittsverhandlungen große Hoffnungen verbunden, als Mechanismus, der es erlaube, innerstaatliche Reformen von außen anzustoßen. Würden die Verhandlungen beendet, würde sich die EU außerdem eines Instruments entledigen, das sie in einigen Jahren vielleicht gern wieder aktivieren würde. Das werde dann nicht mehr möglich sein. Im Jahr 2018 hatte der Europäische Rat beschlossen, die Verhandlungen nicht fortzuführen. Sie sind formal nicht beendet.
Das Audio zu diesem Interview können Sie ab Sonntag, 02. August 2020, 11:05 Uhr, an dieser Stelle nochhören.
Erdmann bezeichnete die türkische Gesellschaft als durch und durch demokratische Gesellschaft. Die Wahlen, die er in seiner Zeit als Botschafter in der Türkei erlebt habe, seien zwar nicht fair, jedoch frei gewesen. Auch die OSZE- und die EU-Beobachter hätten immer positive Zeugnisse ausgestellt. Die demokratischen Reflexe in der Türkei funktionierten, sagte Erdmann.
Martin Erdmann war in verschiedenen Bereichen des Auswärtigen Amtes beschäftigt, wechselte später als Gesandter zur NATO. Von 2015 bis Mitte 2020 war er deutscher Botschafter in der Türkei.
Christoph Heinemann: Herr Erdmann, seit 2015 und bis vor vier Wochen waren Sie Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Türkischen Republik. Wir zeichnen dieses Gespräch am Vortag, am Samstag, in der Nähe von Oldenburg auf. Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie innen- wie außenpolitisch an die jüngsten Entwicklungen in der Türkei denken?
Martin Erdmann: Zunächst einmal, Herr Heinemann, vielen Dank für die Einladung auf diesem Sendeplatz, über die Türkei sprechen zu können. Ich möchte mit einer persönlichen Note beginnen. Meine Frau und ich haben gerade mehrere Wochen Umzugschaos hinter uns, aus Ankara ins schöne Saterland und was ich gerne sagen möchte zu Beginn diese Interviews ist, dass es mir leidtut, dass ich mich bei meinem Abschied aus Ankara nicht persönlich von vielen Menschen verabschieden konnte, mit denen ich in den letzten Jahren schwierige Sachverhalte lösen konnte. Das tut mir deshalb besonders leid, weil wir über die Zeitachse von fünf Jahren doch sehr viel Vertrauen aufgebaut haben, Verlässlichkeit, um schwierige Sachverhalte zu lösen. Das betrifft humanitäre Einzelfälle, aber auch politische Fragen, Fragen im Zusammenhang mit Syrien. Deshalb grüße ich von dieser Stelle aus all die, die ich zurückgelassen habe.
Heinemann: Und damit blicken wir in das Land. Seit einer Woche dient die Hagia Sophia in Istanbul wieder als Moschee. Was bezweckt Erdoğan mit dieser Umwandlung?
Erdmann: Viele Entwicklungen der letzten Jahre in der Türkei sind in der Tat verstörend. Sie sind befremdlich. Das betrifft zum einen die innere Verfasstheit der Türkei, nämlich die Dimensionen Menschenrechte, Pressefreiheit, das Justizwesen, die Lage der Zivilgesellschaft. Und auf der anderen Seite die doch aggressive Rhetorik im Bereich der Außenpolitik. Die Analystenbeobachter machen zwei Gründe für diese Entwicklung verantwortlich. Sie sagen zum einen, dass hier neoosmanisches Denken politisch um sich greift, neoosmanisches Denken. Und zum anderen machen sie geltend, dass es um Fragen des Machterhaltes geht. Und hinsichtlich der Konversion der Hagia Sophia würde ich anführen, dass beide Begründungszusammenhänge durchaus hier eine Rolle spielen können.
Heinemann: Neoosmanisch, heißt das, zurück zum Kalifat, zum Sultanat?
Erdmann: Das heißt, zurück zu einer Rolle, die das Osmanische Reich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gespielt hat, nämlich eine bedeutende Ordnungsmacht in der Region und weit darüber hinaus bis hin zum Balkan. Nun ist völlig klar, dass das heute nicht mehr umsetzbar ist, eine solche osmanische Region wird es nie wieder geben, natürlich nicht, Aber der politische Einfluss, den die Türkei unter der Führung ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan versucht, geht in diese Richtung.
Heinemann: Der "Kölner Stadtanzeiger" titelte: Erdoğans Triumph über Atatürk. Hat Erdoğan schon gewonnen?
Erdmann: Das wird uns die Geschichte sagen. Es ist ja interessant an dieser Konversion der Hagia Sophia, dass noch vor Jahresfrist Präsident Erdoğan es abgelehnt hat, die Aufrufe zu einer Umwidmung der Hagia Sophia zu verfolgen. Nun tut er es. Die Frage ist also, warum tut er es. Und da spielen eben diese Begründungszusammenhänge eine Rolle. Ob er damit Atatürk ausgestochen hat oder nicht, das wird die Geschichte beweisen.
Heinemann: Die Außenpolitikerin Sevim Dağdelen von der Partei die Linken hat bei uns im Deutschlandfunk von einer Machtdemonstration gesprochen, von einem Manifest eines radikalisierten Islamismus. Wie haben Sie das als Botschafter mitbekommen?
Hagia Sophia: "Seltsam, dass Präsident Erdoğan diese Entscheidung getroffen hat"
Erdmann: Also, das spielte sich ja ab nach meinem Fortgang. Ich habe das also medial verfolgt. Es ist in der Tat seltsam, dass Präsident Erdoğan und das Justizsystem, das hinter ihm steht, diese Entscheidung so getroffen hat, denn die Hagia Sophia ist Weltkulturerbe und wenn ein souveräner Staat wie die Türkei eine solche Entscheidung trifft, wäre dieses Land klug beraten gewesen und seine Führung, diese Konversion doch international abzustimmen. Unter vollem Respekt der Souveränität, keine Frage, aber doch abzustimmen, denn Alleingänge dort, wo die internationale Gemeinschaft das Weltkulturerbe verortet, sind nicht zielführend. Und wir sehen es ja an den Reaktionen weltweit, zu welcher Verstimmung das international geführt hat.
Heinemann: Herr Erdmann, es geht ja längst um eine Islamisierung oder eine Re-Islamisierung der Türkei. Auf wessen Kosten findet diese Entwicklung statt?
Erdmann: Ich bin mit der Formulierung Islamisierung, Re-Islamisierung der Türkei sehr vorsichtig. Die Türkei ist ein Land, so wie ich es kennengelernt habe, das sehr stark polarisiert ist und in der Mitte der Gesellschaft gespalten ist. Das heißt, wenn wir von Islamisierung reden oder den Versuch, dieses Land zu islamisieren, politisch zu islamisieren, ist das der Versuch einer Gruppierung in diesem Land, die bei Weitem nicht die gesamte Gesellschaft abdeckt. Ich nenne den Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, oder auch den Oberbürgermeister der Stadt Ankara, Herrn Yavaş. Das sind Leute, die durchaus stärker im säkularen Bereich des Landes anzusiedeln sind, wenngleich auch sie die Religion als ein wichtiges Bindeglied der Gesellschaft akzeptieren, aber eben nicht im Sinne einer Dominanz.
Heinemann: Das ist das städtische Bild, die städtische Türkei …
Erdmann: Ja, die Türkei ist ein Land, das sehr stark heterogen sich darstellt, ein Land mit einer globalen Metropole wie Istanbul - da fühlt man sich eher wie in Manhattan. Und dann tatsächlich Landstrichen in Anatolien und Ostanatolien, die noch nicht die Modernität erreicht haben. Insofern ist dieses Land eben nicht über einen Kamm zu scheren, sondern man muss es differenziert betrachten und auch die Behauptung, dieses Land gehe in Richtung Islamisierung, muss deshalb mit Vorsicht genossen werden.
Heinemann: Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Martin Erdmann, bis vor Kurzem deutscher Botschafter in der Türkei. Herr Erdmann, in der Ägäis belauern sich griechische und türkische Kriegsschiffe. Es geht um Erdgasvorkommen in Wirtschaftszonen, die völkerrechtlich zu Griechenland und zu Zypern gehören. Wie gefährlich ist dieser Konflikt?
Erdmann: Also, bis vor wenigen Tagen hätte ich gesagt, dieser Konflikt hat das Potenzial, weiter zu eskalieren. Glücklicherweise gab es Mitte dieser Woche eine Entscheidung der türkischen und griechischen Regierung, nämlich die Versuchsbohrschiffe nicht mehr militärisch durch die Marine begleiten zu lassen, also einen Schritt zu Deeskalation. Insgesamt ist das, was sich im östlichen Mittelmeer abspielt, ein Wettrennen um Bodenschätzen, zwischen einerseits Ägypten und Israel, wo es große bisher nachgewiesene Potenziale gibt. Und da möchte die Türkei nicht hinten anstehen, sondern ihren Teil des Kuchens abzwacken, leider unter Verletzung von Völkerrecht.
"NATO war immer zu guten Diensten, um Konflikte zwischen der Türkei und Griechenland zu entschärfen"
Heinemann: Griechenland und Türkei, das sind die beiden Konfliktmächte jetzt in dieser Auseinandersetzung, beide sind NATO-Staaten. Erschwert das die Friedens- oder die Konfliktlösung?
Erdmann: Eigentlich sollte das ja die Konfliktlösung erleichtern, denn die NATO war immer zu guten Diensten, um Konflikte zwischen der Türkei und Griechenland zu entschärfen. In jedem Falle hilft es, dass beide Staaten Mitglieder der NATO sind, denn es gibt auf diese Weise Möglichkeiten im Backstage sozusagen, Gesprächskanäle offenzuhalten und Lösungen zu finden.
Heinemann: Ein strikt vertrauliches Treffen von griechischer und türkischer Seite in Berlin hat der türkische Außenminister Çavuşoğlu ausgeplaudert. Das ist für einen Diplomaten wahrscheinlich so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann. Welches Interesse hat die türkische Seite überhaupt an einer Deeskalation, wenn man sich das anschaut?
Erdmann: Da müsste ich jetzt in den Bereich der Spekulation gehen, denn diesen Hintergrund kannte ich bisher nicht, denn ich bin ja vor vier Wochen aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Also, da muss ich die Frage leider offenlassen.
"Teil des neoosmanischen Denkens"
Heinemann: In Libyen bricht die Türkei das UN-Waffenembargo, wie andere Staaten auch, das muss man dazu sagen. Was bezweckt Erdoğan damit?
Erdmann: Ich glaube, das ist Teil des neoosmanischen Denkens, der Versuch, die Einflusssphäre der Türkei zu erweitern und auf diese Weise den regionalen Machtanspruch zu unterlegen. Ich möchte aber, lieber Herr Heinemann, diese Gelegenheit nutzen und Ihre Fragen nutzen, so wie Sie sie bisher gestellt haben, um noch ein bisschen auszuholen hinsichtlich der strategischen Bedeutung der Türkei. Wir haben uns in den letzten Jahren angewöhnt, zu Recht die Türkei zu kritisieren für das, was sie hinsichtlich ihrer inneren Verfasstheit und außenpolitisch unternommen hat. Aber wir müssen auch unser eigenes europäisches und deutsches Interesse im Blick behalten. Und dieses Interesse lautet, eine Türkei zu sehen, die stabil ist und einen Stabilitätsfaktor darstellt in einer extrem volatilen Region, in einer Region, die in globalem Maßstab zu den destabilisiertesten Regionen gehört.
Heinemann: Aber ist diese stabile Türkei erkennbar für Sie?
Erdmann: Ich komme gleich darauf. Ich habe auf diese Frage gewartet. Ich will nur die Zuhörerinnen und Zuhörer daran erinnern, dass wir von Nachbarn sprechen wie Syrien, Irak und Iran, also Länder, die ganz erheblichen Destabilisierungsentwicklungen unterliegen. Und gemessen daran ist die Türkei geradezu ein Hort der Stabilität, auch wenn dabei Erscheinungen auftreten, die uns nicht gefallen und uns nicht gefallen können, weil die Türkei Mitglied der NATO ist. Die Türkei ist Mitglied des Europarats und hat entsprechende Dokumente unterschrieben. Sie ist Mitglied oder Teilnehmerstaat der OSZE und Beitrittskandidat der Europäischen Union. Das setzt also voraus einen hohen Standard an Verpflichtungen gegenüber den Prinzipien dieser Organisation und da gibt es erhebliche Defizite.
"Bestenfalls ad-hoc-Ziele"
Heinemann: Wie stabilisierend wirkt sich denn die türkische Außenpolitik aus, wenn wir nach Syrien blicken? Wir haben über die Ägäis gesprochen, wir haben über Libyen gesprochen. Im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien unterstützt die Türkei Aserbaidschan gegen Russland. Welche geopolitischen Ziele verfolgt Erdoğan?
Erdmann: Ich glaube, es gibt jenseits dieser neoosmanischen Fantasien bestenfalls ad-hoc-Ziele. Wenn man versucht, den großen Plan hinter diesen einzelnen außenpolitischen Aktivitäten und vor allem der außenpolitischen Rhetorik zu identifizieren, tut man sich schwer. Also, ich jedenfalls kann mir keinen Reim machen auf das, was da passiert. Wenn ich als Führer, als Präsident eines Landes Mitglied in der Europäischen Union werden will und dieser Wunsch wird immer wieder angeführt, dann muss ich mich doch entsprechend den Regeln verhalten und insbesondere dafür sorgen, dass mein bilaterales Verhältnis zu den Mitgliedstaaten in der Region intakt ist und das ist eben nicht der Fall.
Heinemann: Das war die Vorlage für die nächste Frage. Welchen Sinn ergeben denn gegenwärtig EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei?
Erdmann: Die EU-Beitrittsverhandlungen, die Aufnahme dieser Verhandlungen war schon bei der Entscheidung zu diesen Beitrittsverhandlungen 2004 umstritten. 2005 sind diese Beitrittsverhandlungen aufgenommen worden und sie waren eigentlich über den gesamten Zeitraum umstritten. Ich erinnere an das, was der französische Präsident Macron vor zwei Jahren sagte. Er sagte nämlich, wir müssen die Hypokrisie, die Scheinheiligkeit dieser Verhandlungen beenden. und das zur Kenntnis nehmen, was Fakt ist, nämlich diese Türkei mit ihrer Verfasstheit, die ich gerade beschrieben habe, und ihrem außenpolitischen Verhalten passt nicht in diese Europäische Union.
Heinemann: Er möchte beenden. Macron sagt, Schluss damit ...
Erdmann: Das sagte er vor zwei Jahren. Inzwischen hat er das nicht wiederholt. Zuletzt aber hat der österreichische Bundeskanzler Kurz diese Forderung erneut erhoben. Und in der Tat, wenn Sie sich die Fakten anschauen, so stellen wir fest, dass von den 35 Beitrittskapiteln 18 Kapitel eröffnet sind, ein einziges Kapitel, Wissenschaft und Forschung, geschlossen worden ist und somit 17 Kapitel noch zu behandeln und zu eröffnen sind, und das innerhalb von 15 Jahren. Mit anderen Worten, Fortschritt in diesem Bereich ist eine Schnecke. Aber lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, welchen Sinn macht es? Ich will Ihrer Frage nicht ausweichen, welche Sinn macht es, diese Beitrittsverhandlungen jedenfalls nicht zu suspendieren oder zu beenden, sondern sie auf Eis zu lesen. Das ist genau geschehen vor zwei Jahren. Im Jahr 2018 hat der Europäische Rat beschlossen, die Verhandlungen nicht fortzuführen im Sinne der Eröffnung neuer Kapital. Also, mit den Beitrittsverhandlungen sind in der Türkei große Hoffnungen verbunden, in der Türkei, nämlich als ein Mechanismus, der es erlaubt, innerstaatliche Reformen von außen anzustoßen auf der Basis der Kopenhagener Kriterien zum Beispiel ..
Möglichkeit der Beitrittsverhandlungen weiter offen halten
Heinemann: … die die Türkei nicht respektiert ...
Erdmann: … korrekt, aber wenn wir uns dieses Instruments entledigen, was nur im Konsens im Übrigen geht, auf europäischer Ebene, aber käme es dazu, würden wir uns eines Instruments entledigen, das wir in einigen Jahren vielleicht gerne wieder aktiviert hätten und das wird dann nicht mehr möglich sein. Also ich bin auch der Auffassung, man solle nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, sondern auf einen Zeitpunkt warten, wo die Gemengelage wieder günstiger ist, um dann die Beitrittsverhandlung fortsetzen.
Heinemann: Sevim Dağdelen hat bei uns im Deutschlandfunk gesagt, ohne Berlin und Brüssel wäre Erdoğan längst am Ende und sie hat abgezielt auf Finanzhilfen, auf Wirtschaftshilfen, auch Unterstützung für eine unabhängige Rüstungsindustrie in der Türkei. Wieso päppeln die EU und die Bundesrepublik einen Islamisten?
Erdmann: Na, so zugespitzt würde ich es nicht formulieren, sondern die EU hat ja nicht einen Islamisten als Gesprächspartner, sondern die türkische Regierung und auf der Basis von Beschlüssen des Europäischen Rats. Und die richten sich nicht an einen Islamisten, sondern die richten sich an die Führung, an die Republik Türkei insgesamt. Das, was an Finanzmitteln fließt, sind sogenannte Vorbeitrittshilfen. Die sind Teil des Beitrittsprozesses und sozusagen vertraglich abgemacht. Diese Vorbeitrittshilfen sind gleichwohl erheblich reduziert worden. Gleichzeitig werden gezahlt Mittel aus dem sogenannten Flüchtlingsprogramm, Facility for Refugees in Turkey (FRIT) mehrere Milliarden Euro, was wiederum in unserem Interesse ist und deshalb kann ich also nicht erkennen, dass wir hier jemanden von außen finanziell fördern, der den Zielen der EU widerspricht.
Heinemann: Wird Erdoğan die Flüchtlinge weiterhin als Drohpotenzial einsetzen?
Erdmann: Das hat er einmal getan, im Februar dieses Jahres 2020. Insgesamt bin ich der Meinung, dass die Flüchtlingsfazilität EU-Türkei genauso im Interesse der Türkei ist wie der EU. Die Türkei kann kein Interesse daran haben, weiterhin Transitland für Flüchtlinge zu sein und der EU-Türkei-Migrationspakt vom März 2016 hat ja dazu beigetragen, dass die Flüchtlingssituation auch in der Türkei sich verbessert hat, weil eben die Türkei nicht mehr Transitland war. Im Übrigen hilft natürlich der europäische Beitrag wesentlich, die 3,5 Millionen Flüchtlinge in der Türkei zu versorgen.
"Eine Verschärfung der inneren Verfasstheit"
Heinemann: Wir sprechen im Deutschlandfunk mit Martin Erdmann, dem ehemaligen deutschen Botschafter in der Türkei. Herr Erdmann, welche Veränderungen in dem Land haben Sie als Botschafter seit dem Putsch im Juli 2016 beobachtet?
Erdmann: Eine Verschärfung der inneren Verfasstheit, die Tatsache, dass es zu wesentlichen Restriktionen in der Pressefreiheit gekommen ist, die Zivilgesellschaft stark eingeschüchtert ist, das Justizwesen sich als dysfunktional herausgestellt hat, sind Entwicklungen, die auf den Schock, auf das Trauma des 15. Juli 2016 zurückzuführen sind. Wie überhaupt dieses Land eine Fülle von Ereignissen generiert hat in der Vergangenheit und damit sehr viel Geschichte geschrieben hat, die für sich genommen jeweils schon ganz massive Eingriffe gewesen sind. Nehmen wir zum einen den Krieg in Syrien seit 2011, der dauert zehn Jahren, hat zu 3,5 Millionen Flüchtlingen geführt. Das ist eine Flüchtlingsbewegung in die Türkei, wie sie weltweit einmalig ist. Es gibt kein anderes Land der Welt, das so viele Flüchtlinge hat aufgenommen. Zweitens, Sie erwähnten es, der Putschversuch vom Juli 2016, und drittens eine selbst generierte politische Veränderung im Land, nämlich die Präsidialverfassung, die durch ein Referendum 2017 eingeführt wurde und dann 2018 implementiert wurde. Mit anderen Worten, die türkische Verfassung ist vollkommen grundlegend verändert worden, hin zu einem Präsidialsystem ohne Checks-and-Balances. Und das ist der große Unterschied zum Präsidialsystem, wie wir es aus den USA oder Frankreich kennen und das sind tiefgreifende Veränderungen, die dieses Land erst einmal konsumieren muss.
Heinemann: Und gerade hat das türkische Parlament die staatliche Kontrolle über Onlinenetzwerke verschärft. Gibt es noch Meinungsfreiheit?
Erdmann: Die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt und sie bezieht sich im Wesentlichen genau auf diese Medien, nämlich Onlinemedien, internationale Onlinemedien. Das waren Plattformen, auf denen bis heute noch relativ freizügig agiert werden kann. Und das Ziel ist offenkundig, diesen Bereich auch der staatlichen Kontrolle stärker zu unterwerfen.
AKP-Machtbasis "bröckelt zunehmend"
Heinemann: Gleichzeitig sinkt die Unterstützung für den Präsidenten offensichtlich.
Erdmann: Das ist richtig. Die AKP, also die Partei, deren Vorsitzender der Präsident ist, konnte bis 2014 regieren ohne Koalitionspartner. Dann gab es Wahlen in 2015 im Juni, wo die absolute Mehrheit erstmals verfehlt wurde. Die wurde dann im November 2015 wieder errungen und seitdem geht es in der Tat systematisch bergab. Derzeit ist die regierende AKP mit der national-konservativen MHP in einer Koalition. Und die Unterstützung für die AKP bröckelt und das hat auch mit einem demografischen Faktor zu tun, denn die Hälfte der türkischen Bevölkerung ist unter 35 Jahre alt. Bei den nächsten Wahlen 2023 gehen erstmals 6,3 Millionen Erstwähler an die Urne. und das sind überwiegend Menschen, die durch die modernen Kommunikationsmedien beeinflusst werden. Kurzum, nach 20 Jahren AKP-Führung unter der Leitung ihres Vorsitzenden Erdoğan bröckelt die Machtbasis zunehmend.
Heinemann: Welche wirtschaftlichen Folgen zeigen sich durch die Corona-Krise?
Erdmann: Die Corona-Krise kam zu einem Zeitpunkt, als die türkische Wirtschaft bereits in einem Abwärtsstrudel war. Für mich ist der Wechselkurs zu Euro und Dollar ein wichtiger Indikator, mehr noch als die Börse in Istanbul. Da müssen wir verzeichnen, dass binnen Jahresfrist die Türkische Lira weitere 30 Prozent ihres Wertes verloren hat. Zurzeit steht sie bei 8,25 Lira pro Euro und zum Dollar etwas niedriger, aber in ähnlicher Form. Das hat große Konsequenzen für den Import von Energie, für den Import von Gütern aller Art. Die Türkei ist sehr stark importabhängig. Mit anderen Worten, alle Indikatoren deuten in die Richtung einer weiteren wirtschaftlichen Verschärfung der Lage und das zusätzlich zu der Tatsache, dass eben nicht mehr 50 Millionen Touristen pro Jahr ins Land kommen.
"Türkische Gesellschaft ist eine durch und durch demokratische Gesellschaft"
Heinemann: Herr Erdmann, wird die Türkische Republik im Jahr 2023 ihren 100. Geburtstag als Republik noch erleben?
Erdmann: Davon bin ich fest überzeugt, denn die türkische Gesellschaft ist eine durch und durch demokratische Gesellschaft. Die Wahlen, die ich in den letzten fünf Jahren dort erlebt habe, und es waren viele, waren allesamt freie Wahlen. Die OSZE- und die EU-Beobachter haben immer ein positives Zeugnis ausgestellt. Damit sage ich nicht, dass die Wahlen fair waren. Sie waren frei, nicht fair, aber es gab Wahlen und der Wahlmechanismus wurde im Prinzip akzeptiert, sowohl von den regierenden Parteien wie auch natürlich von der Opposition und der Bevölkerung, die selber Wahlbeobachter in großer Zahl gestellt hat und Beweis für diese These ist die Wahl von Ekrem İmamoğlu als Bürgermeister von Istanbul, der im März 2019 erstmals gewählt wurde mit einem ganz knappen Vorsprung. Die Wahl wurde angefochten von der AKP. Im Juni wurde erneut gewählt und der Vorsprung war riesig. Also, mit anderen Worten, die demokratischen Reflexe in der Türkei funktionieren.
Heinemann: Vorsichtiger Optimismus zum Abschluss unseres Gesprächs?
Erdmann: Die Türkei ist ein sehr resilientes Land, widerstandsfähig, und ich bin sicher, dass sie auch aus dieser Talsohle, die durch Corona noch verschärft wird, wieder herausfinden wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.