Vor einem Einkaufzentrum in der Kleinstadt Salisbury südwestlich von London saßen am späten Sonntag zwei Personen auf einer Parkbank. Ein älterer Mann und eine jüngere Frau. Eine Augenzeugin beobachtete die Szene: "Sie saßen rechts auf der Bank. Sie lehnte sich an ihn, als sei sie bewusstlos. Er bewegte seine Hände so merkwürdig und deutete zum Himmel. Ich wusste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte."
Die beiden auf der Parkbank wurden ins Krankenhaus eingeliefert und befinden sich in einem kritischen Zustand. Die Polizei hat den Tatort abgesperrt. Experten in Strahlenanzügen suchen nach Spuren, auch nach radioaktiven. Anwohner oder Personen, die sich in der Nähe aufhielten und sich unwohl fühlen, sollen die Notrufnummer wählen.
Ob und womit die beiden vergiftet wurden, ist aber noch nicht sicher. Polizeisprecher Craig Holden gestern Abend: "Die beiden kannten sich wohl. Sie hatten keine sichtbaren Verletzungen. Es wird vermutet, dass sie eine unbekannte Substanz zu sich nahmen. Wir bitten zum jetzigen Zeitpunkt darum, nicht über die Ursachen zu spekulieren."
Russland hätte Motiv und Gelegenheit
Inzwischen haben sich aber auch britische Anti-Terror-Spezialisten in die Untersuchung eingeschaltet. Denn der ältere Mann heißt Sergej Skripal, 66 Jahre alt, ein früherer Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes. Die Identität der jungen Frau ist auch geklärt: Sie ist seine Tochter. Skripal war ein Doppelagent, denn er arbeitete auch für den britischen Auslandsgeheimdienst MI6. 2006 flog er auf, wurde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. 2010 kam er im Rahmen eines spektakulären Austauschs von Spionen nach Großbritannien.
Der Fall erinnert an den früheren abtrünnigen KGB-Mann Alexander Litwinenko, der 2006 nach Überzeugung einer britischen Untersuchungskommission vom russischen Geheimdienst mit radioaktivem Polonium ermordet wurde. Der Richter sah es als erwiesen an, dass die russische Regierung den Mord in Auftrag gab – vermutlich, aber nicht sicher, mit Wissen Wladimir Putins.
"Der russische Geheimdienst und Putins Regime hatten auch jetzt das Motiv und die Gelegenheit, diese Tat zu begehen", vermutete Litwinenkos russischer Freund und Regimekritiker Alexander Goldfarb heute Morgen. "Sie haben es schon einmal getan. Die Mehrheit der Russen hält Sergej Skripal für einen Verräter, der seine Strafe verdient."
Schrank mit möglichen Sanktionen ist leer, sagt Ex-Botschafter
Skripal hatte dem MI6 seit den 90er-Jahren die Klarnamen russischer Spione in Großbritannien geliefert. Die Polizei fand jeweils keine Spuren. Die Witwe Alexander Litwinenkos, Marina, hielt sich heute Morgen mit einer Verurteilung noch zurück, forderte aber mehr Polizeischutz für Exilrussen in Großbritannien: "Wer hier politisches Asyl findet, sollte auch in Sicherheit sein. Der britische Staat muss die Gefahr ernster nehmen und diejenigen beschützen, die hier in Großbritannien Schutz suchen."
Sollte sich bestätigen, dass auf den Doppelagenten Sergej Skripal ein Giftanschlag auf britischem Boden verübt wurde, würde das nach dem Fall Litwinenko die Beziehungen Londons zu Moskau erheblich belasten. Ein ehemaliger britischer Botschafter in Moskau aber warf ein, "der Schrank mit möglichen Sanktionen" sei längst leer. Russland habe nichts mehr zu verlieren und könne tun und lassen, was es wolle.