Moritz Küpper: Frau Wilms, in diesen Tagen erinnern wir uns an den Mauerfall vor 30 Jahren. Sie waren damals Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, die letzte, wie wir heute wissen. Wie erinnern Sie sich an diesen Tag, an diesen Mauerfall?
Wilms: Oh, ich erinnere mich sehr eindrücklich an diesen Tag, denn ich war zufällig in Berlin. Das Ministerium unter meiner Leitung hatte eine Historikerkommission berufen, um die deutsche Frage auch im historischen Kontext zu beleuchten. Und wir hatten unsere Sitzung an dem Abend des 9. November im Reichstag zufällig, in Berlin. Und bei meiner Begrüßungsrede kommt ein Beamter, schiebt mir einen Zettel auf das Pult, Rednerpult, "Hören Sie bitte auf, Frau Minister, die Mauer ist offen." Diesen Satz habe ich natürlich überhaupt nicht begriffen. Es machte sich dann aber die erste Unruhe im Saal bemerkbar, und der Beamte kam noch mal: "Bitte hören Sie auf!" Und so war es dann auch. Ich bin dann mit meinem Referenten … sind wir natürlich los, ein Stück durch die Stadt gelaufen, aber es war ja so, die Mauer war ja nicht an allen Stücken offen, zum Beispiel am Reichstag war in der Nacht noch gar nichts. Wir sind dann am Morgen, gegen sechs Uhr morgens zur Bornholmer Straße gefahren und haben uns das da angeguckt, wobei die Menschenmassen von Ostberlin nach Westberlin gingen, aber es strömte auch schon ein großer Teil wieder von Westberlin nach Ostberlin. Ich habe dann Leute gefragt: "Wo kommen Sie denn her?" "Wir kommen vom Kudamm", sagte mir eine Frau, "mein Kind soll einmal im Leben auf dem Kudamm gewesen sein."
Küpper: Sie waren Amtsträgerin damals, sozusagen ein Stück weit auch verantwortlich. Was überwog in diesem Moment bei Ihnen, Freude, Hoffnung - oder vielleicht auch Angst?
Wilms: Nein, Angst nicht, aber ja, es war natürlich auch eine gewisse Unsicherheit, was kommt, denn das war schon eine Unsicherheit, die wir im Ministerium hatten, als die Menschenmassen in Leipzig etwa, in Dresden, aber auch in Ostberlin demonstrierten. Wir wussten, dass die VoPo keinen Schießbefehl hatte, aber wie schnell hätte sich ein Schuss trotzdem gelöst. Und dann wäre es ein Blutbad geworden. Also wir haben auch ein unglaubliches Glück gehabt, dass die ganze Sache friedlich und ohne einen Blutstropfen zu vergießen über die Bühne gegangen ist.
Dr. Dorothee Wilms
"Aufgabe erfüllt", so lautete der stolze Tenor, mit dem Dorothee Wilms am 21. Januar 1991 ihre Arbeit und die ihres Ministeriums bilanzierte. Zu diesem Zeitpunkt trug die CDU-Politikerin bereits den Titel "Frau Bundesminister a. D.", also außer Dienst, war doch ihr Ressort, das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, im Dezember des Vorjahres aufgelöst worden. Die Deutsche Einheit, so befand die Regierung Kohl, hatte das Ministerium überflüssig gemacht – zumal es schon vorher im Wesentlichen das Kanzleramt war, das in der Deutschlandpolitik die Fäden in der Hand hielt. Der inhaltlich passgenauere Zuschnitt war für Dorothee Wilms wohl ohnehin das Ministerium, das sie zuvor geleitet hatte: Von 1982 bis 1987 verantwortete sie im Kabinett Kohl die Themen Bildung und Wissenschaft, ein Bereich, den die promovierte Volkswirtin schon zuvor über viele Jahre beim Deutschen Industrieinstitut intensiv bearbeitet hatte. Der rote Faden bei all ihren beruflichen Stationen: Als Frau war sie stets ein Unikum in ansonsten männlich dominierten Sphären. Moritz Küpper hat die 1929 in Grevenbroich geborene Politikerin in Bonn getroffen.
"Aufgabe erfüllt", so lautete der stolze Tenor, mit dem Dorothee Wilms am 21. Januar 1991 ihre Arbeit und die ihres Ministeriums bilanzierte. Zu diesem Zeitpunkt trug die CDU-Politikerin bereits den Titel "Frau Bundesminister a. D.", also außer Dienst, war doch ihr Ressort, das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, im Dezember des Vorjahres aufgelöst worden. Die Deutsche Einheit, so befand die Regierung Kohl, hatte das Ministerium überflüssig gemacht – zumal es schon vorher im Wesentlichen das Kanzleramt war, das in der Deutschlandpolitik die Fäden in der Hand hielt. Der inhaltlich passgenauere Zuschnitt war für Dorothee Wilms wohl ohnehin das Ministerium, das sie zuvor geleitet hatte: Von 1982 bis 1987 verantwortete sie im Kabinett Kohl die Themen Bildung und Wissenschaft, ein Bereich, den die promovierte Volkswirtin schon zuvor über viele Jahre beim Deutschen Industrieinstitut intensiv bearbeitet hatte. Der rote Faden bei all ihren beruflichen Stationen: Als Frau war sie stets ein Unikum in ansonsten männlich dominierten Sphären. Moritz Küpper hat die 1929 in Grevenbroich geborene Politikerin in Bonn getroffen.
Küpper: Helmut Kohl war an diesem Tag nicht in Berlin.
Wilms: Nein, aber er kam ja dann sozusagen postwendend über kleine Umwege nach Berlin. Und es gab ja eine große Kundgebung, die zum Teil friedlich war, aber zum Teil auch von dem Geschrei von linken Gruppierungen unterbrochen wurde. Es gab dann an dem Abend des nächsten Tages noch eine große CDU-Veranstaltung an der Gedächtniskirche, und das war nur Jubel, und es war schon anrührend, das muss ich auch sagen.
"Nicht alle europäischen Freunde waren hochbegeistert vom Thema Wiedervereinigung"
Küpper: Heute wissen wir, dass der Prozess der Wiedervereinigung dann relativ schnell anlief, relativ schnell, in knapp einem Jahr, über die Bühne ging.
Wilms: Ja, das musste auch sein. Das ist übrigens ein Punkt, der in der heutigen Diskussion, 30 Jahre danach, mir viel zu kurz kommt. Es gibt ja die These heute, der Wiedervereinigungsprozess, der hätte etwas länger dauern können, man hätte noch etwas mehr verhandeln müssen. Ich kann nur sagen: Wer diese These vertritt, berücksichtigt nicht die außenpolitische Situation. Gorbatschow war auf höchst wackligen Beinen. Der Zeitraum, der zu Verhandlungen bereitstand, war relativ kurz. Und wenn man nicht sofort gehandelt hätte, wäre möglicherweise eine außenpolitische Tür zugeschlagen, denn nicht alle europäischen Freunde waren hochbegeistert von dem Thema Wiedervereinigung, das ist ja auch bekannt.
Küpper: Welche Rolle hatten Sie damals, hatte das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen?
Wilms: Nein, die Federführung für den Prozess, für den Einigungsvertrag lag beim Kanzleramt. Damals unter Leitung von Wolfgang Schäuble. Aber unsere Fachbeamten waren natürlich auch voll da mit eingebunden, ich selber auch war mit eingebunden. Wir haben zum Beispiel federführend die Kulturverhandlungen geführt und den ganzen Bereich Kultur im Einigungsvertrag bearbeitet. Das war auf die einzelnen Ministerien aufgeteilt. Aber Kanzler Kohl selber wollte die Federführung für dieses für ihn politisch herausragendste Thema seiner Amtszeit natürlich nicht aus den Händen geben. Und das ist auch wohl ganz selbstverständlich.
Wilms: Über das Thema Gefangenenfreikauf wird heute noch nicht gern gesprochen
Küpper: Dann gehen wir ein paar Schritte, zeitlich gesehen, nach vorne. Sie haben 1987 dieses Ministerium übernommen. Wie muss man sich das – viele Menschen können das heute vielleicht nicht mehr nachvollziehen, erst recht nicht die, die später geboren sind –, wie muss man sich das vorstellen? Welche Aufgabenstellungen hatte dieses Ministerium?
Wilms: Ja, es gab mehrere Aufgabenstellungen, wobei ich einige vertieft habe. Also ein altes Projekt des innerdeutschen Ministeriums oder früher auch gesamtdeutschen Ministeriums, wie es hieß, war der Gefangenenfreikauf. Ein Thema, über das bis heute immer noch nicht so ganz gerne gesprochen wird. Das Ministerium hatte schon sehr frühzeitig politische Gefangene gegen Geld zurückgekauft und man schämt sich fast, das Wort kaufen für diesen Vorgang in den Mund zu nehmen, aber es war schlicht so. Und das Ministerium hatte die Durchführung und die Federführung für diesen Prozess. Und vielleicht darf ich ja mal Zahlen nennen. Zuletzt wurden für einen politischen Gefangenen 95.000 D-Mark bezahlt und für eine Familienzusammenführung je nach Größe der Familie 45.000. Das waren damals hohe Beträge, die wir aber gerne gegeben haben, wenn damit Menschen wieder in Freiheit kamen. Und ich darf wirklich sagen, ich werde bis zum heutigen Tag immer wieder noch von Menschen angesprochen, die mir sagen: "Wir sind damals freigekommen durch die Verhandlungen, die das innerdeutsche Ministerium führte."
Küpper: Sie haben gerade Beträge genannt. Lässt sich das auch quantifizieren an der Anzahl der Personen? Wie viele Menschen haben Sie etwa oder wurden damals so …
"Ziel unseres Ministeriums ist, die Existenz des Ministeriums überflüssig zu machen"
Wilms: Ja, das kann ich heute nicht mehr so sagen, ich habe ja keine Akten mehr davon. Jedenfalls geht es in die Zigtausende im Laufe der Jahrzehnte. Dieser Prozess ist ja damals von Wehner in Gang gesetzt worden, ist von Rainer Barzel dann, als Kohl an die Regierung kam, von Rainer Barzel ganz streng weitergeführt worden. Und das war immer eine der Hauptaufgaben des gesamtdeutschen oder innerdeutschen Ministeriums. Das ging aber im Stillen. Das klappte deshalb so gut, weil die DDR ja ständig in Geldnöten war und es wirtschaftlich immer nur so haarscharf gutging – auch etwas, was heute zum Teil nicht mehr so dargestellt wird.
Küpper: Sie haben das Ministerium, die Aufgabe Ende der 80er-Jahre dann übernommen. Relativ rasch nach Ihrer Amtsübernahme haben Sie damals im Nachhinein prophetische und legendäre Worte gefunden. Sie haben gesagt, das Ziel unseres Ministeriums oder die Aufgabe ist es, ich zitiere das jetzt sinngemäß, eine Lösung herbeizuführen und damit unsere Existenz, die Existenz des Ministeriums überflüssig zu machen.
"Ich denke, ich habe die richtige Meinung vertreten"
Wilms: Ja, nun, ist klar, das Ministerium hatte die Aufgabe innerdeutsche Beziehungen und hatte sich das im Laufe der Jahrzehnte auf eigentlich alle Ministerien verteilt, auch das Wirtschaftsministerium hatte ja eine eigene Abteilung für die Wirtschaftsbeziehungen, wir hatten vor allem die Kulturbeziehungen zu pflegen. Und ich habe meine Hauptaufgabe – in Absprache des gesamten Regierungsprogramms – darin gesehen, unserer westdeutschen Jugend damals klarzumachen, dass der andere Teil Deutschlands zu uns gehört, dass wir also zusammengehören. Denn der Gedanke an die Wiedervereinigung war in der jungen Generation nicht mehr so stark vertreten. Wir haben also sehr viel Geld ausgeschüttet für entsprechende Bildungsmaßnahmen in Schulen, in Jugendverbänden. Wir haben verstärkt wieder Reisen nach Berlin und an die innerdeutsche Grenze veranstaltet. Ich habe wirklich meine Aufgabe darin gesehen, der jungen Generation in der Bundesrepublik klarzumachen, da gibt es noch den anderen Teil Deutschlands. Und das ist kein fremder Staat, während die DDR ja immer die Selbstständigkeit betont hat. Außerdem bin ich sehr viel im Ausland gewesen. Ich bin in den Hauptstädten gewesen - London, Paris, Rom - um auch dort in Reden vor entsprechenden Gremien, Parlamentsvereinen und Ähnlichem, also nicht jetzt offiziell in der Regierung, sondern in entsprechenden vorpolitischen oder politischen Gremien deutlich zu machen, dass die Westmächte immer noch eine große Verantwortung für Deutschland haben. Wir waren ja noch nicht souverän, das wird ja häufig übersehen. Die vier Sieger des Zweiten Weltkrieges hatten die Souveränität über die DDR und über die Bundesrepublik. Das war aber auch der jungen Politikergeneration, zum Beispiel bei den Westmächten, auch nicht mehr geläufig. Man war immer höchst überrascht zu hören, dass man da noch im Obligo stand. Und ich habe also sehr meine Aufgabe darin gesehen, hier ein bisschen das Bewusstsein für die Situation auch in Europa zu schärfen. Genau wie ich ja auch immer der Meinung gewesen bin, eine Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands ist nur im europäischen Kontext möglich. Und ich bin ganz stolz drauf, ich denke, ich habe die richtige Meinung vertreten, obwohl ich dafür von sehr konservativen Kreisen in der Bundesrepublik auch sehr angegriffen worden bin.
Küpper: Über den Mauerfall haben wir gesprochen, dann über den relativ schnellen Prozess der Wiedervereinigung. Sie haben damals gesagt für Ihr Haus: Entweder, wir stehen im Zentrum dieses Prozesses, oder wir machen uns überflüssig und lösen uns auf.
Wilms: Ja, es war damals eine lange Diskussion. Sollte man das Ministerium erhalten oder eben auflösen? Wissen Sie, ich hatte ja schon während der Erarbeitung des Einigungsvertrages gesehen, dass die einzelnen Fachministerien, Wirtschaft, Soziales, Außenpolitik, sehr eigenständig agierten. Und wir hatten manchmal durchaus auch ein bisschen zu kämpfen, uns zu behaupten da drin. Aber das ist ja auch die Aufgabe der Fachministerien, dass sie die Gebiete bearbeiten. Und von daher sah ich, dass das innerdeutsche Ministerium auch nicht dafür aufgestellt war, nun alle einzelnen Gebiete fachlich gerecht zu bearbeiten. Und nachdem ich auch sah, dass Bundeskanzler Kohl auch für eine Auflösung plädierte, weil er sagte, wir sind jetzt vereinigt und dazu braucht es jetzt kein Oberministerium mehr. Und von daher habe ich dann auch dafür mit plädiert, das Haus aufzulösen. Und meine Sorge war dann, dass die Beamten und Angestellten des Hauses vernünftig bei anderen Ministerien unterkamen. Und ich denke, im Großen und Ganzen ist das auch gelungen.
Kindheit, Studium, Berufseinstieg
Küpper: Sie wurden im Jahr 1929 in Grevenbroich geboren, das ist eine Stadt in Nordrhein-Westfalen im Stadtdreieck zwischen Düsseldorf, Köln und Mönchengladbach. Woran denken Sie, wenn Sie an Ihren Geburtsort denken?
Wilms: Das ist erstens, dass ich eine sehr gute Jugend gehabt habe, in einem Beamtenhaushalt groß geworden, ich war einziges Kind. Und wie das damals in Beamtenhaushalten üblich war wurde man sparsam erzogen, man bekam ein gutes Benehmen beigebracht, man versuchte, Kinder zu vernünftigen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Ich bin religiös erzogen worden, ich bin katholisch, das spielte auch eine Rolle in der Familie, und das ist der eine Teil.
Das Zweite, was mich außerordentlich geprägt hat, ist der Krieg, der Luftkrieg. Wir haben praktisch seit 1940 Bomben gekannt. Die erste Bombe in Grevenbroich, das ist nachweisbar, ist im Mai 1940 gefallen, ohne Schaden anzurichten. Aber von da ab war der Luftkrieg, der Bombenkrieg das Erlebnis meiner Jugend. Und wie viele Stunden habe ich im Keller gesessen, im Luftschutzkeller gesessen, wie oft hat man die Sirene gehört, hat man Flak-Geschütze wummern gehört, hat man das Dröhnen der Bomberverbände gehört. Dies Grevenbroich lag eben im Dreieck Düsseldorf, Köln, Mönchengladbach. Und immer, wenn diese Städte angegriffen wurden oder wenn die Verbände auch mehr nach Mitteldeutschland flogen, es ging über unser Land. Und vor allen Dingen, wenn der Rückflug kam, sind viele Bomben noch abgeworfen worden. Die Flugzeuge damals konnten wohl nicht landen mit Bomben noch an Bord. Und so wurden also die letzten Bomben, die man über den Städten nicht losgeworden ist, wurden dann auf dem Rückflug abgeworfen. Und so ist manches dann noch passiert, obwohl der Angriff nicht dem kleinen Ort Grevenbroich galt. Das hat mich geprägt, dieses Im-Keller-Sitzen, die Sirenen hören, die Bomberverbände. Ich könnte Ihnen heute noch genau sagen, das war ein amerikanischer Verband und das war ein englischer Verband. Die hatten andere Motorengeräusche, weil sie andere Maschinen hatten.
Küpper: Sie waren vier Jahre alt, als die NS-Zeit sozusagen in Deutschland begann, Hitlers Aufstieg. Haben Sie Erinnerungen an diese Zeit?
Wilms: Nein, nein, überhaupt nicht, nein. Also meine Eltern waren in hohem Maße distanziert und Jubelarien sind da nie gesungen worden. Und der Krieg war auch etwas, was abgelehnt wurde.
Küpper: Ihr Vater war Bürgermeister für die Zentrumspartei.
"Ich bin in großer Distanz zur NS-Zeit großgeworden"
Wilms: Mein Vater war Bürgermeister, aber Vater war Zentrumspolitiker, er war seit 1924 Bürgermeister. Von daher war er also sehr, sehr distanziert zur NS-Partei.
Küpper: Hat er Probleme bekommen?
Wilms: Ja, natürlich, weil er ging in die Kirche und er schickte mich zur ersten Kommunion, was alles also ganz schrecklich war in den Augen der Nazis. Also von daher habe ich von der Nazizeit … Ich war zwar bei den Jungmädchen, wie das hieß, aber eine Schnur, also eine Führungsposition, habe ich nie bekommen, wollte ich auch nicht. Und als ich nachher mit der Mutter evakuiert war im Bergischen Land, war das Thema sowieso erledigt. Also ich bin in großer Distanz zur NS-Zeit großgeworden.
Küpper: Sie waren damals in der Schule, das heißt, es war eine Schulzeit, die auch immer wieder …
Wilms: Ja, wir haben oft im Keller gesessen und die Schule hat dann auch im Oktober 1944 aufgehört, sie wurde auch dann bombardiert. Der Ort wurde zwangsevakuiert. Damit war meine Schulzeit erst mal zu Ende. Ich bin erst wieder im Sommer 45 zur Schule gegangen.
Küpper: Zur Schule gegangen als eine große Ausnahme: Sie sind vor allem mit Jungs zur Schule gegangen.
Wilms: Ja, es war eine Oberschule für Jungs, später also Gymnasium, da war das aber koedukativ. Nur es war damals bei uns für Mädchen noch nicht so üblich. Die Mädchen gingen bis zur Untersekunda mit und dann gingen sie meistens auf Schulen nach Neuss oder Rheydt. Also Mädchenschulen, die ein mehr hauswirtschaftlich geprägtes Abitur machten. Wir sagten spöttisch: ein Puddingabitur. Und ein wissenschaftliches Abitur, wie es dann das Gymnasium in Grevenbroich vermittelte, machten nur ganz wenige Mädchen. Und dann bröckelte auch aus unterschiedlichen Gründen die Zahl der Mädchen dann im Laufe der letzten Schuljahre noch weiter ab. Und beim Abitur war ich dann letztendlich das einzige Mädchen, mit neun Jungs, ein Mädchen und neun Jungs, die dann die Abiturzeugnisse ausgehändigt bekamen.
"Der Wunsch, zu studieren, der kam dann allein von mir"
Küpper: Warum war das bei Ihnen anders als bei dem Großteil der anderen Mädchen damals?
Wilms: Ich glaube, das Wichtigste, ich war vielleicht nicht so ganz dumm, das sage ich mal so. Aber ich wurde vor allen Dingen von meinen Eltern unterstützt, und gerade mein Vater, der jetzt pensioniert war, als Beamter pensioniert, drängte darauf, dass das Kind was Ordentliches lernt, wenigstens Abitur macht. Der Wunsch, zu studieren, der kam dann allein von mir. Da hat mich niemand gedrängt, im Gegenteil, damals, ich erinnere mich an eine alte Tante, die mir sagt, wie lange willst du eigentlich noch lernen? Du solltest dich jetzt lieber um einen Ehemann kümmern.
Küpper: Es war die Nachkriegszeit. Ihr Vater, Sie haben es gesagt, war pensioniert, er war Zentrumspolitiker. Hat er Sie auch politisch geprägt oder auch …
Wilms: Nein, er hat mich wirklich laufen lassen. Aber das politische Gespräch war bei uns in der Familie üblich. Also man hat sich beim Mittagstisch über Politik unterhalten, was so passiert war, und zwar Stadtpolitik natürlich, aber auch – es war ja das Land Nordrhein-Westfalen gegründet worden – Landespolitik. Also Adenauer wurde bei uns in der Familie hochverehrt, mein Vater kannte ihn noch aus der Weimarer Zeit, war ihm mal begegnet. Also die Gründung der Bundesrepublik war ein Hauptthema bei uns. Das heißt, die Tischgespräche drehten sich um Politik. Und ich glaube, dass das so mein Interesse für diesen Bereich auch sehr geprägt hat. Und ich muss sagen, ich hatte dann nach '45 oder '46 in der Schule einen hervorragenden Geschichtslehrer, der es auch verstand, lebendigerweise das Interesse an Geschichte in uns zu wecken. Diese Liebe zur Geschichte ist bis heute geblieben.
Küpper: 1949 kam dann der erste Wahlkampf.
Wilms: Wir waren dann so eine Clique in der Klasse, also die Jungs und ich, da haben wir Wahlplakate für die CDU geklebt. Das war großartig. Ja, da waren wir ganz stolz.
Küpper: Aber es war klar, dass Sie für die CDU waren?
Wilms: In Grevenbroich hatte die CDU auch die dicke Mehrheit. Also für mich gab es gar nichts anderes.
"Wir Mädchen mussten uns immer ein bisschen anstellen"
Küpper: Dann kam das Sommersemester 1950, als Sie nach Köln gezogen sind, dort das Studium angefangen haben.
Wilms: Ja, das war für Mädchen immer noch etwas schwierig, weil die Unis waren doch zunächst bestrebt, die jungen Männer aus dem Krieg und die zum Teil noch aus der Gefangenschaft, aus der Sowjetunion kamen, bevorzugt einzustellen, was ja auch in Ordnung ist. Und wir Mädchen mussten uns immer ein bisschen anstellen. Und ich habe aber Glück gehabt und konnte dann eben doch schon zum Sommersemester aufgenommen werden in die Philologie. Aber ich war sehr stolz, dass ich angenommen wurde, weil das nicht so ganz selbstverständlich war. Die Kölner Uni war auch noch immer bombengeschädigt und war begrenzt in der Aufnahme von Studenten. Es war alles noch ein bisschen mühselig.
Küpper: Aber gesellschaftlich – Sie mussten kämpfen, um den Studienplatz, um eine Wohnung?
Wilms: Ja, Wohnung habe ich nie gehabt. Köln war so zerstört, das kam gar nicht infrage. Nein, ich war Fahrstudent. Wir waren mehrere aus Grevenbroich, vor allen Dingen junge Männer, die aus der Gefangenschaft gekommen waren, waren, glaube ich, nur zwei oder drei Mädchen, die morgens nach Köln fuhren. Und das war so eine ganze Clique. Wir bevölkerten dann so die alten Personenzüge. Da wurde dann Skat gedroschen und Ähnliches. Es war eine sehr von den jungen Männern geprägte Gesellschaft. Wir Mädchen spielten nur eine Nebenrolle da.
Küpper: Sie haben zuerst Germanistik studiert und Geschichte und haben dann aber relativ schnell …
Wilms: Ja, mir hat das in der Germanistik nicht so zugesagt. Ich hatte dann entdeckt, dass die Volkswirtschaftslehre, wo ich mal mich ein bisschen orientiert hatte, Volkswirtschaftslehre, … Das war damals noch keine mathematische Richtung, sondern das war mehr die historisch-systematische Richtung der Volkswirtschaftslehre. Und es war sehr auch politisch. Wir hatten Müller-Armack als einer der Gründungsväter der sozialen Marktwirtschaft. Dann habe ich Soziologie studiert, sehr gut von auch zum Teil Emigranten, René König zum Beispiel, die zurückgekommen waren. Und Sozialpolitik, wobei gerade in der Sozialpolitik uns die Diskrepanz zwischen, sozialistischer und christlicher Politik sehr deutlich gemacht wurde.
Küpper: 1954 machen Sie dann Ihre Diplomprüfung, bekommen anschließend eine Anstellung beim Deutschen Industrieinstitut, heute bekannt als Institut der Deutschen Wirtschaft. Auch da waren Sie sozusagen erst mal als Frau in der Minderheit.
Wilms: Ja, da war nur eine ältere Kollegin, die aber als Referentin, sonst waren das alles nur Männer im Institut. Das war damals so. Das war nichts Besonderes. Und im Institut waren auch eine Menge Referenten, ältere Herren, die aus Berlin gekommen waren. Es war also sehr stark von der Flüchtlingsgeneration geprägt, viele Berliner, Brandenburger. Ich glaube, ich war die erste Rheinländerin, die auch da eingestellt wurde. Und ich war, wie gesagt, die erste junge Frau, die dort war. Und das war auch nicht so ganz einfach, weil es war halt ein Männergeschäft erst mal. Und ich weiß, dass ich kämpfen musste, eine Sekretärin zu bekommen, wie es bei den Männern ja üblich war. Und ich beharrte darauf, und dann bekam ich auch eine Sekretärin zugeteilt. So war das damals. Und man musste sich dann immer nur ein bisschen durchsetzen.
"Ich bin ein großer Anhänger der beruflichen Ausbildung"
Küpper: Was haben Sie beim Deutschen Industrieinstitut gemacht?
Wilms: Als ich dann festangestellt wurde nach meiner Diplomprüfung und nach der Doktorprüfung, wurde ich beauftragt, mich um berufliche Mädchenbildung zu kümmern. Das war ein Thema, was so allmählich in die politische Diskussion kam. Und die Wirtschaft war auch daran interessiert, Nachwuchs zu bekommen. Und ich bin ja auch ein großer Anhänger der beruflichen Ausbildung. Dieses duale System, was wir in Deutschland haben, worum uns übrigens andere Länder beneiden. Deshalb sage ich auch heute, man soll dieses System modernisieren, aber doch bitte beibehalten. Und da musste ich mich eben um die berufliche Mädchenbildung kümmern. Das heißt, ich bin zu Betrieben gefahren, um die Betriebe zu ermuntern, jetzt nicht die Mädchenseite, sondern die betriebliche Seite, dass man bitte auch Mädchen einstellt und schult und ausbildet. Und das ist so nachher eines meiner Hauptthemen geworden, mit denen ich mich dann ja auch politisch bisschen nach vorne geschoben habe.
Küpper: Über die politische Seite Ihres Lebens möchte ich gleich noch sprechen. Nichtsdestotrotz: In diesem Institut sind Sie auch aufgestiegen später in die Geschäftsleitung.
Wilms: Ja, ich war nachher in der Geschäftsleitung, das heißt, man nahm an den Leitungsgesprächen … Da war ich natürlich die einzige Frau, das war immer so, und was mich aber auch natürlich sehr wiederum selbst gefördert hat. Man bekommt ja, wenn man auf der Leitungsebene mit agiert, einen ganz anderen Blick für die Dinge, als wenn man unten sein Fachgebiet bearbeitet.
"Ich wusste, wie Männer beruflich ticken"
Küpper: Wie ist Ihnen das gelungen, haben Sie sich das mal gefragt?
Wilms: Ja, vielleicht habe ich mich nicht ganz so doof angestellt, das kann ja sein. Ich war natürlich, und das sage ich immer wieder, ich war den Umgang mit Männern gewohnt. Bitte jetzt: Ich meine das in beruflicher Hinsicht. Ich war ja auf der Jungenschule gewesen, habe mich da auch bewähren müssen. Und ich sage es mal etwas salopp, ich wusste, wie Männer ticken beruflich. Und Männer und Frauen sind nämlich nicht gleich, das wird vielleicht manchmal heute vergessen. Sie sind schon sehr unterschiedlich, auch im Angehen von Themen. Und mir war das aber geläufig. Und ich habe mich nicht angepasst, aber ich habe es berücksichtigt. Vielleicht war ich auch nicht so ganz dumm und habe was geleistet, kann ja auch sein.
Küpper: Gab es denn damals Widerstände oder Stimmen, die gesagt haben, …
Wilms: Ja, das war immer so, also es war ein langer Gang, verstehen Sie. Da gab es viele, gerade im Bereich der Wirtschaft, viele ältere, traditionell ausgerichtete Herren, hervorragende Fachleute, die sagten, Gott, wer kommt denn da? Seit wann haben wir denn hier noch Frauen? Frauen hat man als Gattinnen zu Hause, aber nicht als Kollegin im Geschäft. Das war noch, jedenfalls im Verbandsbereich der Wirtschaft damals, sehr ausgeprägt.
"Eigentlich bin ich in die Politik gekommen über mein fachliches Arbeiten"
Küpper: Ihnen war es immer wichtig, zu arbeiten, selbstständig zu sein, auch bei Ihren Wechseln, später dann ja dauerhaft, aber in die hauptamtliche Politik. Wann hatten Sie diese Erkenntnis?
Wilms: Ach, ich bin eigentlich in die Politik reingerutscht so nach und nach. Ich bin da nicht reingegangen. Eigentlich bin ich in die Politik gekommen über mein fachliches Arbeiten. Ich hatte auch viel publiziert, ich habe auch Vorträge gehalten – wird man etwas bekannter in Fachkreisen, also alles immer die Thematik zunächst berufliche Bildung, dann auch nicht nur für Mädchen, sondern im weiteren Sinne. Und so war ich in Beratergremien von Ministerien, Bundesministerien, Landesministerien, und auf diese Weise wird man einfach bisschen bekannt.
Küpper: Dann sprechen wir über Ihre Zeit in der Politik, als Politikerin. Erst im April 1961 werden Sie Mitglied der CDU.
Wilms: Ja, auf Aufforderung von Frau Brauksiepe, das hat einen Hintergrund. Frau Enne Brauksiepe (MdB) und auch für einige Jahre Familienministerin, von mir hochgeschätzt, die hat mich sehr gefördert. Die hat gesagt, wir müssen die jungen Frauen fördern. Und ich bin ihr bis heute dankbar. Sie hat viel für mich getan, indem sie mich vorgeschoben hat, gehen Sie mal, oder Sie hat mich nachher so halb geduzt, geh mal den Vortrag halten. Oder du musst mal den Artikel da schreiben in der Zeitschrift, vom katholischen Bereich, im Frauenbereich. Ich habe ihr sehr viel zu verdanken. Und sie hat mich 1961 aufgefordert, einen Beitrag zur beruflichen Bildung von Frauen auf dem Bundesparteitag der CDU in Köln zu halten. Und ich war aber nicht in der Partei, und das ging nun gar nicht. Also musste ich schnell in die Partei eintreten. Und ich durfte dann meinen Beitrag leisten, heute noch in den Protokollen des Parteitages nachzulesen.
Küpper: Im Januar 1974 bekommen Sie dann einen Anruf von Kurt Biedenkopf, dem damaligen CDU-Generalsekretär. Helmut Kohl, Heiner Geißler, das waren so Namen, die die Partei dann modernisiert haben. Wie war das?
Wilms: Ja, es hat mich überrascht. Und ich weiß, dass ich Herrn Biedenkopf dann sogar noch am Telefon gesagt habe, also ich weiß gar nicht, ob Sie mich überhaupt da richtig einsetzen können – ich habe ein bisschen gepokert – oder ob Sie mich auch entsprechend bezahlen können. Denn ich hatte zwar kein Riesengehalt beim Industrieinstitut damals, aber ich habe eben sehr viel publiziert und Vorträge gehalten. Das waren schöne Nebeneinnahmen.
"Ich möchte nicht abhängig von einer Partei sein"
Küpper: Sie sollten dann stellvertretende Bundesgeschäftsführung der CDU werden.
Wilms: Ja, und ich war aber zunächst mal der Meinung, die können dich da gar nicht bezahlen. Ich wusste von der alten Geschäftsstelle, dass die Bezahlung ziemlich niedrig war für Frauen. Und so habe ich ein bisschen gepokert. Und habe gesagt, das weiß ich gar nicht. Und dann habe ich einen Anruf bekommen von Herren aus der Wirtschaft, die den Kohl unterstützten, und: Machen Sie das! Und dann war meine Bedingung, ich mache das, aber ich habe ein Rückkehrrecht in das Institut. Das war vielleicht noch eine Erinnerung an die Nazizeit: Ich möchte nicht abhängig von einer Partei sein. Ich möchte jeden Tag einer Partei sagen können, grüß Gott, es war schön, aber nun reicht es. Und dann ist mir dieses Rückkehrrecht zugesichert worden, und das habe ich behalten, bis ich Bundesminister wurde 1982, da musste ich es ja abgeben, weil als Minister darf man ja keine Tätigkeit haben. Aber bis dahin hatte ich ein formales Rück… ohne Gehalt, ohne Bezüge, versteht sich. Ja, und dann bin ich 1974 hier nach … Seitdem bin ich hier in Bonn.
"Das war ein echter Aufbruch"
Küpper: Sie haben dann später auch für den Bundestag kandidiert, sind 1976 dann gewählt worden. Aber noch einmal auf die Parteiarbeit damals: Die CDU hat sich damals dann gewandelt von einer Honoratiorenpartei hin zu einer Mitgliederpartei. Wie war das? War das ein Aufbruch?
Wilms: Das war ein echter Aufbruch. Manchmal denke ich: Hoffentlich kriegt die Partei auch heute noch mal so einen Aufbruch. Das war ein toller Aufbruch. Biedenkopf und Kohl damals, zunächst war das noch völlig spannungsfrei, später hat es ja Spannungen gegeben, aber im Anfang war das wirklich eine Begeisterung. Es waren viele jüngere Damen und Herren in der Bundesgeschäftsstelle, es wurden die Fachausschüsse neu begründet, es wurden Programme entwickelt, man war mit Begeisterung dabei. Und ich erinnere mich an den Wahlkampf 1976: Wir sind ja alle mit Parteiabzeichen oder mit Emblemen am Revers rumgelaufen, so begeistert war man. Das war also damals üblich überall, auch bei anderen Parteien. Also die CDU war von einer Begeisterungswelle erfasst. Und das hat ja auch zu dem Wahlsieg von Kohl beigetragen – der dann nicht zur Regierungsbildung führte aus Koalitionserwägungen.
"Die CDU war eine reine Männerpartei"
Küpper: Aber Sie waren im Bundestag dennoch, ich habe das noch mal nachgeschaut, 1976. Sie sprechen gerade an: Es war ein Aufbruch, es war eine Modernisierung, aber Sie scheiterten dennoch mit Ihrem Thema, eine neue Definition der Berufstätigkeit der Frau beispielsweise ins CDU-Parteiprogramm …
Wilms: Na ja, das war auch für die Herren, sage ich jetzt bewusst mal, nicht das Hauptthema. Das war also noch nicht so. In den Jahren danach haben wir aber gemeinsam dahin gewirkt. Mit anderen Kolleginnen in der Partei, Helga Wex etwa haben wir das schon dann bewirkt, Hanna-Renate Laurien möchte ich hier erwähnen, haben wir die Dinge schon vorangetrieben. Rita Süssmuth kam sehr viel später, das war erst mal Helga Wex, Laurien und noch einige, Frau Griesinger, Annemarie Griesinger aus Stuttgart, also ich könnte da noch eine Menge von Kolleginnen damals nennen.
Küpper: Mit denen man dann auch zusammengearbeitet …
Wilms: … mit denen man auch gut zusammen. Überhaupt das Thema mal in diese Männerpartei reinzukriegen: Die CDU war eine reine Männerpartei, eine zunächst ja auch Honoratiorenpartei. Und das änderte sich unter Kohl. Kohl hat hier große Verdienste.
Küpper: Sie sind dann kurzzeitig zurückgegangen zum Deutschen Industrieinstitut, aber dann …
Wilms: Nein, ich bin nicht mehr zurückgegangen, ich habe noch ein paar Aufgaben sozusagen nebenbei erledigt. Ich bin also bei der Partei beziehungsweise dann als MdB geblieben, habe aber dann sozusagen nebenbei noch ein paar Dinge für das Institut erledigt.
Küpper: Und haben Karriere gemacht in der Politik, wurden parlamentarische Geschäftsführerin der CDU/CSU.
Wilms: Ja, das war die erste und einzige Frau. Und bis heute hat es in der CDU-Fraktion immer nur noch eine Frau, da hat sich seit 1980 nichts geändert, stelle ich mit Stirnrunzeln fest.
Küpper: Woran liegt das?
Wilms: Ja, es gibt ja nur eine begrenzte Zahl von Geschäftsführern. Ich denke, es sind vier heute, waren damals auch, und ja, dann haben die Männer den Vorrang. Da hat sich leider noch nicht so viel geändert.
"Eine gewisse Unsicherheit war zunächst, wie man denn Minister macht"
Küpper: Es kam dann das konstruktive Misstrauensvotum 1982, und Kohl berief Sie dann zur Bundesministerin für Bildung.
Wilms: Für Bildung und Wissenschaft. Und ich bilde mir auch heute noch ein, von Bildung verstand ich was, nicht so sehr von der universitären Bildung. Das habe ich mir dann noch angeeignet und mich mit entsprechenden Fachleuten umgeben, auch Kolleginnen, muss ich hier sagen, aus der Fraktion. Aber in der beruflichen Bildung war ich wirklich fit und auch bisschen führend mit. Und von daher habe ich mich in dem Bildungsministerium vom ersten Tag an inhaltlich voll sicher gefühlt. Eine gewisse Unsicherheit war zunächst, wie man denn Minister macht oder spielt oder ausübt. Das wusste ich ja nicht so richtig, denn es gab keine Vorbilder im Grunde genommen. Und da habe ich mich in der ersten Zeit ein bisschen schwergetan. Nicht aber im Fachlichen, nein, da habe ich mich dann doch voll zuhause gefühlt.
Küpper: Was haben Sie gemacht, wie hat man das gelernt, Ministerin zu sein?
Wilms: Ach Gott, das lernt man halt, man muss vor allen Dingen gute Mitarbeiter haben, man muss ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen. Ich hatte mir zwei Herren als direkte persönliche Referenten beziehungsweise Büroleiter genommen. Zwei jüngere Herren aus dem Ministerium, mit denen ich übrigens bis heute noch einen freundschaftlichen Kontakt pflege. Ich habe bewusst mich mit zwei Herren umgeben, weil erstens mal gab es damals im Ministerium keine jungen akademischen Frauen. Und zweitens, eine Frau war sowieso so verblüffend für das Ministerium, dann darf man so ein Haus auch nicht erschrecken. Man muss dann, sagen wir mal, die Gleichberechtigung peu à peu einführen, nicht so mit dem Holzhammer. Das hat auch keinen Zweck. Dann weckt man nur Widerstand. Vielleicht ist manchmal heute der Holzhammer auch ein bisschen zu stark, ich weiß es nicht.
Küpper: Sie haben dieses Ministerium eine Legislaturperiode geführt und sind dann gewechselt in ein anderes Haus, in das Haus für innerdeutsche Beziehungen, über das wir gerade eben schon gesprochen haben. Wieso?
Wilms: Ja, ich habe das nicht freiwillig gemacht, das wäre also eine Lüge. Ich wäre gern noch im Bildungsministerium gewesen, aber Kohl war die Koalitionsfrage von der FDP gestellt worden, und zwar ging es darum, Jürgen Möllemann als Minister die Regierung zu nehmen. Das war die Conditio der FDP, weiter in der Koalition zu bleiben, und für Möllemann bot sich, weil er ein ausgebildeter Lehrer war, bot sich das Bildungsministerium an. Und offensichtlich hat Kohl gedacht, die Wilms kann auch noch was anderes oder sollte das dann wenigstens lernen. Und ich wurde zu ihm gerufen, völlig ahnungslos, weil es auch keine Gerüchte gegeben hatte, sonst brodelt ja … In Bonn brodelte immer die Gerüchteküche. Aber nichts war, weil das alles in der Nacht vorher ganz kurzfristig wohl gelaufen war im Koalitionsgespräch. Und ich ging also zu Kohl in der frohen Erwartung, dass er mir wieder das Bildungsministerium geben würde, und er eröffnete mir dann: Sie müssen das innerdeutsche übernehmen.
Und dann geht einem schon durch den Kopf, man ist erschrocken, man fragt sich, ja, davon hast du doch eigentlich gar keine Ahnung, du hast dich zumindest nie damit besonders beschäftigt, also intensiv beschäftigt. Ich meine, im Großen und Ganzen wusste man schon, aber nicht doch jetzt intensiv, und dann geht einem schon durch den Kopf, sagst du jetzt vielleicht nein? Aber das wusste ich: Wenn ich Kohl in dieser Situation – er war ja auch in einer Zwangslage –, wenn du jetzt dem Kohl nein sagst, dann kannst du auch gleich dein Köfferchen packen und nach Köln, nach Hause zurückkehren. Das war mir klar, und innerhalb von zehn Minuten ging das, war mir klar, mach es. Du hast schon so viel in deinem Leben gemacht und gemeistert, dann musst du halt noch mal lernen. Und ich habe ja auch zu Beginn meiner Ministertätigkeit im Innerdeutschen wirklich vier Wochen mich völlig zurückgezogen, habe gelernt, habe gelesen, habe mich unterrichten lassen von den Fachabteilungen und habe wirklich gelernt. Wissen Sie, ein Ministerium führen, das konnte ich ja, aber ich musste jetzt lernen, die Materie zu beherrschen. Und dafür muss man halt noch mal arbeiten und lernen, und das ist mir hoffentlich auch einigermaßen gelungen.
Küpper: Sie waren die letzte innerdeutsche Ministerin oder Ministerin für innerdeutsche Beziehungen, Sie haben das Haus abgeschafft, sind danach aber noch im Bundestag geblieben, aber nicht mehr im Kabinett, haben dann später noch Stiftungen geführt, Stiftungsarbeit gemacht.
Wilms: Ja, aber vielleicht darf ich Sie unterbrechen: Wolfgang Schäuble, der seinerzeit, 1994, Fraktionsvorsitzender war, rief mich zu sich und sagte, es wird eine Enquete-Kommission kommen zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und Sie werden die Obfrau der Fraktion. Und das hat mich natürlich sehr erfreut. Ich konnte wirklich nun in dieser neuen Aufgabe, Obfrau der CDU/CSU, in der ersten Enquete-Kommission für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, konnte ich wirklich nun meine Erfahrungen, mein Wissen jetzt einbringen. Und diese Arbeit in den drei Jahren hat mich noch mal sehr also auch begeistert, also auch gefangengenommen. Und da habe ich auch noch mal meine ganze Kraft da reingelegt, sodass ich eigentlich auch bis zum Ausscheiden aus dem Bundestag 1994 in der Materie geblieben bin und auch meine Tätigkeit im innerdeutschen Ministerium nicht für die Katz war so gesehen, also für mich.
"Ich bin immer gerufen worden"
Küpper: Rückblickend – würden Sie sagen, die erste, die einzige Frau zu sein in der Schule, im Studium, im Beruf, auch in dem politischen Leben, war das die Rolle Ihres Lebens?
Wilms: Offensichtlich, ja, von mir nicht gewollt. Also ich habe mich nie gedrängt. Wenn ich ehrlich bin, bin ich immer gerufen worden. Ich habe mich nie, also jedenfalls nicht bewusst gedrängt, vielleicht unbewusst, wenn jemand versucht etwas Gutes zu leisten, ich war immer bemüht, gut zu sein in der Sache. Aber ich habe mich, glaube ich, das darf ich von mir sagen, nicht nach vorne geschubst oder gedrängt. Und vielleicht war das meine Rolle im Leben. Der Mensch hat wohl immer eine besondere Aufgabe, vielleicht war es das. Ich weiß es nicht. Soll dann mal die Geschichte … Geschichtsschreibung wird vielleicht mal noch ein Votum dazu fällen.
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