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Ex-Salafist
"Unschuldige zu töten, war ein absolutes No-Go"

Mit 17 konvertierte Dominic Schmitz zum Islam und schloss sich einer salafistischen Bruderschaft an. Heute ist er 28 und hat sich wieder losgesagt. Im DLF sagte er, das Verhältnis zur Gewalt habe sich in der Szene verändert. Für ihn sei Gewalt tabu gewesen, für junge Islamisten heute sei sie ein Mittel gegen "Feinde Allahs".

Dominic Musa Schmitz im Gespräch mit Christiane Florin |
    Dominic Musa Schmitz
    Dominic Musa Schmitz (Hans Scherhaufer)
    Christiane Florin: Wenn Sie von einem islamistischen Anschlag hören, denken Sie dann: Als Attentäter hätte ich auch enden können?
    Dominic Musa Schmitz: Nein. Davon gehe ich definitiv nicht aus. Unschuldige Menschen zu töten, das war für mich und auch für die Gemeinschaft, in der ich anfangs war, ein absolutes No-Go. Allerdings habe ich schon gemerkt, wie ich mich im Laufe der Jahre mit dem Thema "Gewalt" anders beschäftigt habe. Also ich habe Dinge anders gewertet und aufgenommen und weiß nicht, ob ich vielleicht irgendwann mal in Syrien gelandet wäre oder so, wenn ich noch weitere zehn Jahre mich immer nur mit demselben Input beschäftigt hätte. Aber ich glaube, sicher sagen zu können, dass ich definitiv einen willkürlichen Anschlag auf die Gesellschaft nicht gemacht hätte.
    "Ich hatte das Gefühl, den Sinn des Lebens gefunden zu haben"
    Florin: Sie haben als Jugendlicher herumgehangen, schreiben Sie, Drogen genommen, wussten nicht so richtig, wo Sie schulisch, beruflich hin wollten. Und dann kamen die Salafisten in Ihr Leben. Was war das, das Sie so angezogen hat? War das Ratlosigkeit, Rebellion, Überzeugung?
    Schmitz: Also, das war alles, aber in erster Linie ging es mir um Spiritualität, um Gott. Ich hatte das Gefühl, in den neuen Büchern, die ich dann gelesen habe bei den neuen Brüdern, den Gott gefunden zu haben, nach dem ich so lange gesucht habe und den Sinn des Lebens gefunden zu haben, den ich so lange gesucht habe. Von da an war das für mich eigentlich der Weg. Ich hatte das Gefühl, genau das ist die Botschaft, nach der ich gesucht habe und Gott will das und jenes von mir.
    Ich habe nicht bewusst meine emotionalen Lücken stopfen wollen, aber das war mit Sicherheit unterbewusst auch sehr, sehr attraktiv für mich, der Rebell zu sein, etwas Besonderes zu sein, anders zu sein als der Mainstream, eine feste Linie zu haben, Halt zu haben, die neue Brüderschaft zu haben, sozusagen. Das waren alles Dinge, die mich angesprochen haben. Aber es war nicht der ausschlaggebende Punkt, warum ich mich für diesen Weg entschieden habe.
    Florin: Wie haben Sie sich diesen Gott vorgestellt?
    Schmitz: Also, ich habe mir Gott eigentlich bildlich nicht vorgestellt. Aber ich habe an jemanden oder etwas geglaubt, das über uns wacht, das da ist, das uns sieht, das uns hört und das auch gerecht ist. Im Islam habe ich relativ schnell das Bild von Gott, das ich hatte, wiedergefunden, weil der Islam sagt: "Wir glauben an den einen Gott, gesellen ihm keine Partner bei. Wir brauchen keine Fürsprecher zwischen uns und Gott. Wir brauchen keine Pfarrer, die uns unsere Sünden vergeben. Wenn wir gesündigt haben, bitten wir direkt Gott um Vergebung."
    Und all das waren Dinge, mit denen ich sehr, sehr schnell d'accord sein konnte. Die ganzen anderen Dinge, wie Scharia, Kopftuch usw. haben für mich erst mal überhaupt gar keine Rolle gespielt, sondern ich hatte tatsächlich das Gefühl, den Gott gefunden zu haben, an den ich eh schon, seitdem ich denken kann, glaube.
    "Ich war definitiv auf der Suche nach Halt und Struktur"
    Florin: Nun gibt es ja einige Wissenschaftler, die sagen: "Salafisten werben um verunsicherte Jugendliche." Denken Sie, wenn Ihr Leben bis dahin anders verlaufen wäre, Sie schulisch gefestigter gewesen wären, in der Familie gefestigter gewesen wären, dann wären Sie nicht so empfänglich gewesen?
    Schmitz: Ich glaube, auf jeden Fall, wenn ich die charakterliche Stärke gehabt hätte, die ich heute habe, oder eine mentale Stärke, oder auch eine Selbstsicherheit, dann hätte ich diesen Weg nicht angenommen. Ich war definitiv auf der Suche nach Halt und nach Struktur und nach jemandem, der mir sagt, gut und schlecht. Aber das alleine hätte mich nicht dazu bewegt, mein Leben so zu ändern. Die Brüderlichkeit war toll, die ich anfangs gespürt habe.
    Aber alleine wegen ein paar neuen "Freunden" hätte ich mein Leben nicht so konsequent und drastisch geändert. Also es ging in erster Linie um die Spiritualität, die ich da geglaubt hatte, gefunden zu haben. Diese anderen Dinge, die haben mit Sicherheit bei mir unterbewusst eine Rolle gespielt, aber ich habe nicht bewusst danach gesucht.
    Florin: Was wussten Sie vorher über den Salafismus?
    Schmitz: Über den Salafismus wusste ich gar nichts. Ich wusste auch nach meiner Konversion gar nichts über den Salafismus als solchen. Ich kannte dann irgendwann das Wort "Salaf", das bedeutet "Vorfahren". Und so wurde mir der Islam beigebracht. "Wir glauben an den Koran und die Sunna" - das heißt, "die Praxis des Propheten" - nach dem Verständnis der Vorfahren, der Salaf. Und das ist so, im Grunde genommen, ganz heruntergebrochen, die Denkweise der Salafisten, und deswegen nennt man sie auch so. Und das war für mich der Islam. Also ich hatte gar nicht die Möglichkeit, zwischen anderen Richtungen im Islam zu unterscheiden.
    "... und Allah vergibt dir alle deine Sünden"
    Florin: Wie sind Sie angeworben worden? Was war der erste Satz, der bei Ihnen gezündet hat?
    Schmitz: Es stand jemand bei mir vor dem Fenster – ich habe im Erdgeschoss gewohnt – ein alter Bekannter, marokkanischer Herkunft, der selbst nie viel mit dem Islam zu tun hatte. Und der stand dann plötzlich da und sah offensichtlich ganz anders aus, weil er einen langen, schwarzen Bart hatte. Und dann haben wir darüber gesprochen, was mit ihm passiert ist. Da habe ich es gar nicht bewusst wahrgenommen, dass ich angeworben wurde. Zum ersten Mal wirklich bewusst wahrgenommen habe ich es, als er gesagt hat: "Wenn du konvertierst, dann sind wir Brüder im Glauben. Und Allah vergibt dir alle deine Sünden."
    Und dann habe ich mich immer weiter mit dieser Frage auseinandergesetzt und natürlich auch die Brüder im Rücken gehabt, die immer wieder gesagt haben: "Wenn du stirbst, ohne den Islam angenommen zu haben, dann kommst du für ewig in die Hölle." Es war dann plötzlich ein Damoklesschwert über mir, auf dem stand: "Hölle, Sünde, ḥarām, verboten." Irgendwann habe ich mich dazu entschlossen, diesen Glauben anzunehmen.
    Florin: Wie muss ich mir die Konversion vorstellen?
    Schmitz: Die funktioniert relativ leicht, und zwar, indem man einen Satz sagt, dass man bezeugt, dass es keinen Gott gibt, außer den einen, Allah, und dass der Prophet Mohammed sein Diener und Gesandter ist. Wenn man diesen Satz ausspricht und daran glaubt, dann wird man Moslem.
    "Ich habe quasi meine ganze Individualität, meine Identität abgelegt"
    Florin: Sie beschreiben in dem Buch, nach welch' strengen Regeln Sie gelebt haben. Sie haben regelmäßig gebetet, sind in die Moschee gegangen, waren dreimal in Mekka, haben eine muslimische Ehe geführt. Was hat das alles mit Ihnen gemacht?
    Schmitz: Erst mal im Positiven: Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich erst mal danach an, einen Sinn im Leben zu haben, etwas Gutes zu tun für Gott, Halt zu bekommen, eine neue Familie quasi, also in eine neue Familie hereinzuwachsen. Im Laufe der Zeit habe ich mich dann dadurch zu einem anderen Menschen entwickelt. Also ich habe quasi meine ganze Individualität, meine Identität abgelegt, aus dem ganz normalen, deutschen Jungen Dominic wurde Musa. Und Musa war im Prinzip ein anderer Mensch. Ich habe den Fernseher in den Keller verbannt, habe die ganzen Musik-CDs, die ich so lange gesammelt hatte, die ich geliebt habe, kaputtgemacht und habe eigentlich alles, was Dominic ausgemacht hat, irgendwann beiseitegelegt.
    Florin: Ihre Ehe war keine ganz freiwillige Entscheidung, schreiben Sie. Welches Verhältnis haben Sie heute noch zu Ihrer Frau und zu Ihren Kindern?
    Schmitz: Ja, also freiwillig war die Ehe schon. Wir haben uns selber dafür entschieden beide. Es ist eine andere Art von Druck, der auf einem lastet. Es ist ein gesellschaftlicher Druck, aber nicht die deutsche Gesellschaft, sondern die Gemeinschaft, in der man ist. Und zum Zweiten immer dieses "Sünde" - du willst auf jeden Fall alles richtig machen und alles andere außer dem ehelichen Geschlechtsverkehr, ist verboten. Kontakt zum anderen Geschlecht ist verboten. Selbstbefriedigung ist verboten. Das heißt, der einzige Weg, um nicht zu sündigen, ist die Ehe.
    So, und dann kommt man vielleicht zu dem Entschluss, jemanden zu heiraten, den man gerade zweimal gesehen hat, den man überhaupt nicht kennt und auch nicht liebt. So machen es viele Salafisten. Natürlich funktioniert oft so was nicht, dass Menschen einfach, um des Glaubens willen, heiraten, obwohl sie sich überhaupt nicht kennen und lieben. Und so war es natürlich auch bei mir. Ich habe mich irgendwann einfach erdrückt gefühlt in einer Art Wohngemeinschaft.
    "Der Mann hat das letzte Wort"
    Florin: Wie ist denn so das Frauenbild eines durchschnittlichen Salafisten?
    Schmitz: Ja, das ist relativ komplex eigentlich, weil in erster Linie immer argumentiert wird: "Die Frau ist was Besonderes. Die Frau ist wie eine Perle in der Muschel. Sie bedeckt sich und sie zeigt sich nur ausgewählten Menschen, nämlich ihrem Ehemann. Und die Frau hat eine Stellung. Der Islam hat der Frau einen Wert gegeben und Rechte gegeben." Das mag auch tatsächlich so sein, wenn man 1430 Jahre zurückgeht und guckt, wie da die Frauen bei den Arabern teilweise behandelt wurden.
    Aber wenn man es mit den Rechten vergleicht, die die Frau hier hat, dann sind es natürlich so gesehen keine Rechte, die die Frau genießt im Salafismus. Im Alltag muss die Frau einfach nur gehorchen. Die Frau muss mit dem Mann schlafen, wenn er will. Die Frau muss um Erlaubnis bitten, wenn sie raus will. Die Frau darf nicht alleine reisen. Die Frau darf nicht mit Männern sprechen etc. Also da könnte ich endlos weitermachen, was die Frau alles an Verboten um sich hat.
    Florin: Und haben Sie das auch so als Ehemann praktiziert?
    Schmitz: Ja, mehr oder weniger. Also ich habe natürlich trotzdem meine westliche Mentalität gehabt, die natürlich lockerer ist als viele der Brüder, die um mich herum waren, aber ich habe trotzdem einige dieser Rechte, die ich aus der Sunna zum Beispiel, aus dem Leben des Propheten, irgendwie herausgelesen habe, eingefordert, ja.
    Florin: Und was war das zum Beispiel?
    Schmitz: Dass ich einfach zu meiner Frau gesagt habe: "Du musst hören." Wenn wir zum Beispiel nicht einer Meinung waren, habe ich gesagt: "Aber letzten Endes musst du definitiv auf mich hören." Einer muss irgendwie das letzte Wort haben in der Familie, und das ist nun mal der Mann, der irgendwo der Frau ein einer gewissen Verantwortung übergeordnet ist.
    "Wer demokratisch wählt, ist ein Ungläubiger geworden"
    Florin: Konnten Sie das komplett ablegen, nachdem Sie mit dem Salafismus gebrochen haben?
    Schmitz: Ja.
    Florin: Sie haben Kontakt zu, wenn man es so sagen kann, prominenten Salafisten gehabt – zu Pierre Vogel, zu Sven Lau. Mit Pierre Vogel waren Sie sogar in Mekka. Wie war das Verhältnis zur Gewalt?
    Schmitz: Also das ist eigentlich ganz interessant, dass 2005, als ich konvertiert bin, das Verhältnis zur Gewalt eigentlich überhaupt gar nicht da war, denn Gewalt war total verpönt. Selbstmordattentate gingen überhaupt nicht. Ich war der Meinung, dass ein wahrer Moslem niemals Menschen töten würde – sich selbst nicht töten würde und schon gar nicht Unschuldige töten würde. Und irgendwann bin ich dann tatsächlich auf diese Menschen getroffen.
    Und ich glaube, dass heute ein 17-Jähriger, der den Islam kennenlernt, von genau denselben Menschen wie ich damals vor elf Jahren eine ganz andere Mentalität kennenlernt, einen ganz anderen Islam kennen, der viel mehr nach vorne geht, der viel militanter ist und kompromissloser ist. Heute reden gewisse Prediger schon anders als damals. Damals haben sie zum Beispiel gesagt: "Brüder, geht wählen. Wählt das kleinste Übel." Das wäre damals die Linken gewesen." Und heute sagen dieselben Menschen, dass Wählen "Unglaube" ist. Das heißt, wer demokratisch wählt, ist ein Ungläubiger geworden, weil er dem Gesetz Gottes widersprochen hat, der Scharia.
    Florin: Wie haben Sie damals die Staatsmacht erlebt?
    Schmitz: Darüber habe ich mir damals als 17-Jähriger gar keine Gedanken gemacht. Ich habe mich gar nicht groß mit Dingen, wie der Scharia oder der Demokratie auseinandergesetzt. Ich habe natürlich Amerika und Europa und den Westen im Allgemeinen als jemanden gesehen, der in die ganzen arabischen Länder einmarschiert und meine Geschwister dort tötet. Das schon. Aber von Politik hatte ich überhaupt keine Ahnung, habe mich damit auch nicht auseinandergesetzt und habe auch zum Beispiel kein großes Problem darin gesehen, hier als Muslim zu leben.
    Also ich hatte kein Problem mit der Demokratie. Das wurde auch bei uns nicht formuliert. Aber das wird dann heute formuliert. Das ist genau dieser Change, dieser Wandel, den ich meinte, dass sich irgendwas in der Szene verändert hat. Das sind heute essenzielle Themen für viele Salafisten. Scharia, Demokratie, Wahlen, Regierungen, etc., islamischer Staat, Kalif – das sind Themen, die sind ganz präsent heute bei den Jugendlichen. Die haben bei uns damals eigentlich keine Rolle gespielt.
    Florin: Hatten Sie damals das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun?
    Schmitz: Indem ich hier lebte?
    Florin: Indem Sie Salafist waren.
    Schmitz: Etwas Verbotenes in welchem Sinne?
    Florin: Zum Beispiel, dass Sie Gedanken hatten, die Sie eigentlich nicht haben dürften, dass Sie Predigten zugehört haben, die strafrechtlich relevant sind?
    Schmitz: Nein.
    "Reiner als das westliche Leben"
    Florin: Ihr Eindruck war, dass dieser Staat, die Bundesrepublik, den Salafismus duldet, jedenfalls den Salafismus, den Sie erlebt haben?
    Schmitz: Ja, das sowieso. Also ich meine, wenn man sozusagen die Meinungsfreiheit einräumt, dann muss man das natürlich auch in gewissem Maße akzeptieren, zumindest so lange man niemand anderen mit seiner Meinung schadet. Wo da die Grenzen sind, wo man jemandem anderen schadet, das ist relativ schwierig, das irgendwo fest zu formulieren. Aber gerade in unserer Gemeinschaft damals hat Gewalt, erst mal zumindest, überhaupt keine Rolle gespielt. Es gab keine Aufrufe, irgendwie Gewalt auszuüben oder Hass auszuüben.
    Natürlich wurde es suggeriert, ja, dass das islamische Leben, das salafistische Leben mehr wert ist, besser ist, reiner ist als das westliche Leben, in dem Pornografie, Drogen etc. propagiert werden. Aber es gab keine Situation, zumindest in den ersten Jahren, die ich wahrgenommen habe, die ich erlebt habe, die strafrechtlich relevant gewesen wäre. Deswegen habe ich mich nicht gefühlt, als würde ich etwas Verbotenes tun und habe auch da irgendwie gar keinen Grund gesehen, warum der Staat da eingreifen sollte. Im Laufe der Jahre dann definitiv irgendwann.
    Florin: Haben Sie nie eine Predigt gehört, in der zum Beispiel dazu aufgefordert wurde, die Ungläubigen zu strafen oder sogar zu töten?
    Schmitz: Nein.
    Florin: Und ist das jetzt anders?
    Schmitz: Das kommt natürlich auf den Prediger an. Also die Formulierung wird anders. Damals hätte man zum Beispiel gesagt: "Wir distanzieren uns von den Attentaten." Heute sagt man: "Ja, ich halte trotzdem zu meinen Geschwistern. Warum wundert Frankreich sich, wenn Frankreich Bomben auf Syrien wirft, dass da ein Echo kommt?" Also die Argumentation ist schon eine andere. Es wird viel mehr relativiert als damals. Damals war es ganz klar: "Terror hat mit dem Islam nichts zu tun." Das ist sowieso heute eine Aussage, die falsch ist, finde ich. Aber die wurde damals so getroffen.
    Heute wird die gar nicht mehr so getroffen, sondern heute wird viel relativiert und beschönigt usw. Es gibt natürlich Prediger, die sagen: "Wir befinden uns hier, in Deutschland, in einem Kriegsgebiet, weil jeder Steuerzahler im Endeffekt den Krieg gegen Muslime unterstützt." Und deswegen ist jeder Mensch einfach potenziell ein Feind Allahs, sozusagen, und vogelfrei.
    Koran: "Diese Buchstaben kann man durchaus missbrauchen"
    Florin: "Terror hat nichts mit dem Islam zu tun." Sie sagen, Sie sind heute der Ansicht, das stimmt nicht. Warum?
    Schmitz: Ich habe nicht gesagt, dass das nicht stimmt. Ich habe gesagt, dass ich die Aussage falsch finde, weil, es ist viel zu einfach zu sagen, Gewalt, Terror, Frauenunterdrückung, das hat alles mit dem Islam nichts zu tun, denn der IS beruft sich genau auf dieselben Quellen wie ein friedlicher Muslim. Das heißt, es gibt Stellen in den Schriften, die sehr kontrovers sind, die man sehr kritisch sehen muss heutzutage. Das heißt, diese Buchstaben kann man durchaus missbrauchen. Und sie geben ja auch Anlass dazu.
    Wenn man zum Beispiel im Koran einen Vers findet: "Verfolgt die Ungläubigen und tötet sie, wo ihr sie findet." Aber in dem Vers darauf heißt es dann: "Vergebt auch! Wenn sie ihre Waffen niederlegen, dann legt auch eure Waffen nieder". Diese Buchstaben lassen viel Spielraum zum Missbrauch oder zur Interpretation, um Gewalt gegen andere auszuüben. Und genauso finde ich aber andererseits, zu sagen: "Der Islam ist an allem Schuld" und "Der Islam ist eine gewaltbereite Religion", finde ich genauso falsch. Es ist genauso einfach.
    "Gruppierungen üben einen enormen Druck auf Austeiger aus"
    Florin: Wann kam die Wende? Wann haben Sie sich vom Salafismus verabschiedet?
    Schmitz: Die Wende bzw. die ersten Denkanstöße waren 2010. Und der Punkt, an dem ich gesagt habe: "Jetzt bin ich kein Salafist mehr", war 2013. Also das war ein sehr, sehr langer Prozess, der da stattfinden musste, weil ich glaube, dass man, genauso wenig wie man zum Salafismus konvertiert, genauso wenig wie man morgens aufsteht mit einem steifen, rechten Arm und sagt: "Ich bin jetzt Nazi", muss man da reinwachsen. Und genauso, denke ich, muss man da wieder rauswachsen.
    Ich habe über viele Jahre hinweg immer denselben Input gehabt. Mein Weltbild hat sich verändert. Mein Wertesystem hat sich verändert. Und das konnte ich nicht von heute auf morgen einfach so beiseitelegen, sondern es musste da Stück für Stück irgendwie greifen. Es fing damit an, dass ich dieses Schwarz-Weiß-Denken irgendwie für mich nicht mehr wollte, dass ich Menschen nicht mehr anhand ihres Glaubens in Schubladen stecken wollte.
    Aber der Punkt, an dem ich gesagt habe: "Ich möchte mein eigenes Leben leben. Ich möchte individuell sein. Ich möchte meine eigene Identität haben, unabhängig davon, was die Salaf sagen, also die Vorfahren, unabhängig davon, was in den Buchstaben da vermittelt wird." Das war 2013. Und selbst danach gab es auch noch weitere Prozesse. Also ich glaube, man lernt ja nie aus. Man ist in einer ständigen Weiterentwicklung.
    Florin: Und es ist ja auch nicht so leicht, sich zu verabschieden, denn Sie leben durchaus in Gefahr seitdem.
    Schmitz: Ja, wobei ich glaube, dass das eher das kleinere Übel ist. Die größte Schwierigkeit ist wirklich, sich selbst zu reflektieren und vielleicht zu dem Entschluss zu kommen: "Hey, ich war viele Jahre auf dem totalen Holzweg. Ich war ein Arschloch. Ich war teilweise ein schlechter Mensch." Man beginnt von null. Und natürlich gibt es dann auch sozialen Druck, weil Sekten oder Gruppierungen Aussteiger nicht so gerne haben.
    Florin: Werden Sie bedroht?
    Schmitz: Ja. Also das ist eigentlich ziemlich wichtig. Aussteiger gelten oft als Vorbild vielleicht für Menschen, die vielleicht zweifeln, die vielleicht darüber nachdenken, auszusteigen, ja. Und deswegen üben sie enormen Druck aus. Es kommt von Gruppierungen … Also es ist unterschiedlich. Nazis sagen zum Beispiel: "Auto, Haustier, Familie." Also das ist die Rangordnung, in der sie da vorgehen. Bei Salafisten im Allgemeinen ist es nicht so schwer, auszusteigen, weil: Aus den Augen, aus dem Sinn.
    Aber wenn es dann in die Richtung Dschihad geht oder strafrechtlich Relevantes, dann gibt es da natürlich Bedrohungen. Oder wenn man, zum Beispiel wie ich, in die Öffentlichkeit geht und über seine Erfahrungen spricht, dann gibt es natürlich Bedrohungen. Die Brüder von einst standen irgendwann bei mir vor der Haustür und haben heraufgeschrien: "Komm' runter, du Hund. Ich fick' dich. Ich töte dich. Du Heuchler! Du Abtrünniger!" Diese Sätze habe ich so eins zu eins gehört, auch in der Moschee, zum Beispiel.
    "Der Zweifel ist eine Stärke des Westens"
    Florin: Wenn Sie mit Jugendlichen sprechen, wenn Sie mit Schulklassen sprechen, was fragen die dann? Was wollen die immer von Ihnen wissen?
    Schmitz: Das ist total unterschiedlich, was sie fragen. Also es ist von: "Bist du beschnitten?", "Was hörst du wieder für Musik?" bis hin zu "Wie konntest du damals als 17-Jähriger so deine Identität, deine Zweifel quasi verdrängen und deine Individualität aufgeben?" Also das sind dann schon ziemlich anspruchsvolle Fragen. Das ist aber meistens dann Oberstufe, Gymnasium. An Gesamtschulen oder so geht es meistens um banalere Sachen oder zum Beispiel Fragen, wie: "Wie reagierten deine Eltern darauf?", "Wie ist Pierre Vogel als Mensch?".
    Florin: Und wie ist Pierre Vogel als Mensch?
    Schmitz: Ich glaube nicht, dass die Öffentlichkeit der richtige Ort ist, um dreckige Wäsche zu waschen. Punkt.
    Florin: Das ist jetzt die persönliche Dimension. Die Frage war auch persönlich. Aber finden Sie grundsätzlich, dass der Staat zu lax ist im Umgang mit Salafisten?
    Schmitz: Wenn man dem Menschen im Allgemeinen das Recht gibt, sagen zu können, was er will, dann muss man auch vieles ertragen. Andererseits ist das ja gerade unsere Stärke. Im Westen ist es eine Stärke, vielleicht keine Antwort auf eine Frage zu haben oder viele Antworten auf Fragen zu haben. Das ist eine Stärke. Der Zweifel ist eine Stärke im Westen. Und es ist eine Schwäche für Fanatiker. So, und das ist jetzt die Frage: Wo muss man eingreifen? Wo muss der Staat eingreifen? Also da sind die Übergänge ziemlich fließend.
    Es wurden einige salafistische Gruppierungen schon verboten, andere wiederum nicht, die ich auch für gefährlich halte. Den Salafismus als solches kann man nicht verbieten und sollte man auch, glaube ich, nicht, denn was der Mensch daraus macht, ist ihm letzten Endes überlassen. Es gibt auch puristische Salafisten, die sehr streng leben, aber in keinster Weise eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen oder gewaltbereit sind oder so. Die leben für sich ihr Leben und geben Frauen keine Hand und hören keine Musik, aber schaden niemandem. Und wenn sie das so tun, habe ich da nichts dagegen. Wenn sie so glücklich werden, bitteschön.
    Florin: Haben Sie Frauen früher die Hand gegeben?
    Schmitz: Nein.
    Florin: Warum sind Sie dem Islam treu geblieben?
    Schmitz: Also, was heißt "treu geblieben"? Ich kritisiere natürlich heute schon ziemlich viele Stellen usw. Aber nach wie vor ist es die Religion, die am meisten das Bild von Gott, das ich eh schon als Kind hatte, beschreibt. Und deswegen, wenn ich jetzt bete, bete ich muslimisch oder islamisch, sozusagen, aber ich bete nicht fünfmal am Tag. Ich faste nicht. Ich sehe Dinge sehr, sehr kritisch und formuliere die auch so, kritisiere das Frauenbild, kritisiere die Mehrehe. "Treu" kann man so nicht unbedingt sagen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Dominic Musa Schmitz: "Ich war ein Salafist: Meine Zeit in der islamistischen Parallelwelt"
    Econ Verlag. 256 Seiten, 18,00 Euro.