Im Fall eines Wahlsiegs des demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden rechnet der ehemalige US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum, mit einer anderen Politik und einem anderen Regierungsstil. Kornblum sagte im Deutschlandfunk, die Vereinigten Staaten würden sich offen und freundlich gegenüber Freunden verhalten, in internationalen Organisationen aktiv werden, die NATO unterstützen und wieder dem Pariser Klimaabkommen beitreten. Biden werde aber auch nationale Ziele definieren müssen. Er werde dies anders tun als der gegenwärtige Präsident Trump, aber für die Europäer werde dies nicht einfach sein.
Wenn es keinen Erdrutschsieg für Biden gebe, könne die erste Woche nach der Wahl eine ziemlich turbulente Zeit werden. Präsident Trump hätten dann Zeit, um Abwehrmaßnahmen zu ergreifen und rechtliche Schritte einzuleiten.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Herr Kornblum, bei Ihnen in Nashville, etwa 200 Meter von Ihrem Haus entfernt, fand die letzte Fernsehdebatte der beiden Präsidentschaftskandidaten statt. Wer hat Sie überzeugt?
John Kornblum: Zuerst würde ich sagen, die Debatte im Allgemeinen war ziemlich zivilisiert und ziemlich sachlich. Ich würde sagen, mich hat überzeugt, dass die Debatte wahrscheinlich gar nichts geändert hat. Biden war sachlicher. Er hatte auch sehr gute Argumente. Trump hat ganz klar seine Bemerkungen an seine Basis gerichtet. Aber ich glaube, im Endeffekt hat die Debatte nur wenig Einfluss auf den Wahlausgang gehabt.
Heinemann: War das Donald Trumps letzte Chance?
Kornblum: Es war seine letzte Chance und er hat es nicht vermasselt. Er hatte viel mehr zu verlieren als Biden. Biden musste sich nur so ein bisschen tapfer durchkämpfen. Trump musste beweisen, dass er nicht so unbeherrscht war wie in der ersten Debatte oder in anderen Interviews, die er in letzter Zeit gegeben hatte. Und das hat er geschafft. Er war nicht gerade sachlich und nicht gerade beherrscht, aber er war nicht unmöglich.
Kornblum: Trump liegt ziemlich weit zurück
Heinemann: Und das war ein Vorteil?
Kornblum: Ja, ein Vorteil. Sein Ziel muss jetzt sein, die Wahlbeteiligung bei seinen festen Anhängern zu erhöhen. Und ob er das getan hat, werden wir sehen. Im Moment liegt er ziemlich weit zurück. Und interessant für mich – und mehrere Kommentare hier sagen das auch –, er versucht überhaupt nicht, neue Wähler oder neue Wählerschichten anzusprechen, sondern versucht an und für sich seine Basis zu befestigen.
Heinemann: Wieso keine neuen Wählerschichten?
Kornblum: Alle wissen, wie dieses komische System bei uns funktioniert mit dem Electoral College, mit den Wahlmännern. Seine Strategie im Moment scheint zu sein die paar Bundesstaaten zu gewinnen, die notwendig wären, mindestens eine Pattsituation herzustellen. Und das sind Bundesstaaten, wo es doch ziemlich große Reservoirs von Trump-Anhängern gibt. Es gibt ein paar Bundesstaaten, zum Beispiel Florida, zum Beispiel Pennsylvania, wo Trump vielleicht das nachholen könnte, wenn er seine Basis anspricht. Und das scheint seine Strategie zu sein.
Heinemann: In den USA spricht man von der Oktober-Überraschung, wenn sich die Stimmung im Monat vor der Wahl umkehrt. Kann das in den kommenden neun Tagen noch passieren?
Kornblum: Ich glaube nicht. Letztes Mal, vor vier Jahren, hat das anscheinend geklappt. E-Mails von Hillary Clinton. Im Nachhinein ist es klar geworden, dass diese E-Mails aus Russland gehackt waren und dass das eine ganz klare russische Unterstützung von Trump war. Das bestreitet er bis heute natürlich. Aber das war die große Oktober-Überraschung, die vielleicht Trump geholfen hatte zu gewinnen. Er hat das wieder versucht. Dieses Mal mit wirklich sehr fragwürdigen E-Mails, die beweisen sollten, dass Bidens Sohn profitiert hatte durch seine Arbeit in der Ukraine, aber auch in China. Das war alles fabriziert. Das weiß man. Er versuchte gestern Abend einmal, dieses Thema anzusprechen und hatte so wenig Echo. Das hörte sich wahrscheinlich sogar für ihn so unlogisch an, dass er diesen Versuch aufgegeben hatte. Es sieht jetzt so aus, als dass es keine Oktober-Überraschung geben wird.
Präsident Joe Biden? "Ich rechne damit"
Heinemann: Stand heute, rechnen Sie damit, dass Joe Biden am 3. November zum Präsidenten gewählt wird?
Kornblum: Es sieht so aus. Ich rechne damit. Man ist sehr vorsichtig geworden, weil es letztes Mal auch so aussah, dass Hillary Clinton gewinnen würde und Trump hat das im letzten Moment durch diese Strategie mit den Wahlmännern gewinnen können. Dieses Mal sind die Umstände ganz andere. Aber wie gesagt, man ist ein gebranntes Kind. Und niemand, wahrscheinlich auch ich, ist bereit zu sagen: Das Rennen ist gelaufen.
Heinemann: Am 3. November werden ja auch alle 435 Abgeordnete des Repräsentantenhauses und 35 der 100 Mitglieder des Senats gewählt. Die Republikaner verfügen im Senat über eine Mehrheit, im Repräsentantenhaus die Demokraten. Erwarten Sie Veränderung?
Kornblum: Wahrscheinlich. Von den 35, die sich neu aufstellen müssen, sind, glaube ich, nur drei oder vier Demokraten. Das heißt, die Demokraten haben nicht so ein großes Risiko wie die Republikaner. Und noch dazu gibt es mindestens vier oder fünf Republikaner, die sehr gefährdet sind oder sogar mehr oder weniger verloren haben. Und es gibt noch drei oder vier, die nicht fest im Sattel sitzen. Zum Beispiel Lindsey Graham in South Carolina. Der hat einen sehr starken Gegner, einen Afroamerikaner, und die sind im Moment Kopf an Kopf. Und das sagt sehr viel, da South Carolina, wahrscheinlich der konservativste Bundesstaat neben Mississippi im ganzen Lande ist.
Heinemann: Sodass Joe Biden eine komfortable Mehrheit in beiden Häusern haben könnte?
Kornblum: Könnte, ja. Und die Optimisten sagen, dass das schon mehr oder weniger gemacht ist. Aber es gibt immer noch ein bisschen Zurückhaltung. Und dann gibt es einen anderen Punkt, der hier sehr wichtig ist. Trump hat schon seit Wochen behauptet, dass diese Wahl vielleicht sowieso illegitim sein würde, weil es zu viel Missbrauch geben würde auf Seiten der Demokraten. Und im Hinterkopf hat man das Gefühl oder die Angst, dass Trump eine große Unruhe stiften würde nach dem Wahltag und versuchen würde, die Wahl durch die Gerichte, durch irgendwelche Methoden zu beeinflussen. Das ist auch eine Unsicherheit, die da ist, die man nicht ausschalten kann.
"Wer weiß, was Trump unternehmen wird"
Heinemann: Das heißt, es kann sein, dass er nicht aus dem Weißen Haus ausziehen will?
Kornblum: Ja. Oder dass er mindestens das alles in den Gerichten so festhält, dass man nicht zu einem Ergebnis kommt. Und dann muss vielleicht der Oberste Gerichtshof was entscheiden. Und man meint, deshalb wollte er so gerne diese neue Richterin bestätigen lassen. Oder im letzten Moment könnte es sein, dass durch das Abgeordnetenhaus entschieden werden würde im Januar. Man weiß, dass Trump sehr fest an diesem Amt klemmt. Teilweise, weil er natürlich viele rechtliche Probleme hat, die, wenn er nicht mehr Präsident ist, ihn wirklich belästigen könnten. Ja, und die Demokraten, man sagt, die machen sogar Kriegsspiele draus. Die versuchen, die verschiedenen Möglichkeiten auszuspielen, zu sehen, wie sie darauf reagieren. Es wird bestimmt unmöglich sein, schon am 3. November zu wissen, wer gewonnen hat. Es wird mindestens eine Woche dauern. Und in der Zeit, wer weiß, was Trump unternehmen wird.
Heinemann: Wie würden sich in dem Fall republikanische Spitzenpolitiker verhalten? Leute wie Mitch McConnell, wie Steve Scalise? Würden sie dem Präsidenten sagen, "Du hast verloren, du musst aufgeben"?
Kornblum: Ja, das ist eine sehr gute Frage. Die Kalkulationen der Republikaner sind nicht unbedingt die Kalkulationen von Trump. Aber sie haben natürlich in letzter Zeit ihn mehr oder weniger mindestens durch Nichts-sagen unterstützt. Und die Frage ist, ob die Front bröckeln würde und ob er dann die Unterstützung der Republikaner verlieren würde. Das kann man im Moment nicht sagen. Aber Sie haben Recht, die Möglichkeit ist da.
"Kamala Harris wird eine wichtige Persönlichkeit sein"
Heinemann: Joe Biden ist 77 Jahre alt. Er wirkt manchmal unkonzentriert, hat sich auch Ausrutscher geleistet. Ist Biden fit für eines der wichtigsten politischen Ämter der Welt?
Kornblum: Ich glaube ja. Er ist sehr rüstig. Er redet sehr gut. Und als einer, der sehr viel reden muss und hin und wieder nicht alles so klar sagt, wie man es sagen würde, habe ich großes Verständnis, wenn es hin und wieder einen Versprecher gibt. Ich habe, wie viele andere bestimmt, gestern Abend auch sehr darauf geachtet. Hin und wieder hat er ein Wort falsch gesagt oder suchte ein bisschen nach einem Wort. Aber wie gesagt, das tun wir alle. Und die Presse und auch die Kommentare haben kein Wort darüber verloren heute Morgen, ob er fit war oder nicht. Ich glaube, er ist gesundheitlich – und man sagt natürlich mental ist noch wichtiger in diesem Fall – ist er fit. Bestimmt fitter als Trump.
Heinemann: Wie mächtig würde eine Vizepräsidenten Kamala Harris unter einem Präsidenten Joe Biden werden?
Kornblum: Das Amt des Vizepräsidenten hat eigentlich zwei Funktionen. Der Vizepräsident ist auch der Präsident des Senats. Und er kann auch, wenn es eine Pattsituation im Senat gibt, die letzte Stimme abgeben. Das ist eine sehr wichtige Funktion. Die zweite wichtige Funktion ist, da zu sein, wenn der Präsident stirbt. Und deshalb, ohne irgendwie zu direkt zu sein, meint man, dass die Person des Vizepräsidenten dieses Mal wichtiger ist als sonst, gerade, weil Biden etwas älter ist. Und in diesem Fall ist es aber noch viel wichtiger, weil Kamala Harris die erste farbige Kandidatin ist. Sie ist halb Afroamerikanerin und halb Inderin. Sie spiegelt sozusagen die neue Vielfalt der amerikanischen Demokratie. Ich glaube, sie wird eine wichtige Persönlichkeit sein. Wie viele wichtige Funktionen sie hat, das hat damit zu tun, wie sie das mit Biden ausarbeitet. Unter Obama hatte Biden, der immerhin 30 Jahre Senator gewesen war, eine sehr wichtige Funktion. Ich nehme an, dass es für Harris auch genau der Fall sein wird.
Heinemann: Welche Rücksicht müsste ein Präsident Biden auf die Linken in der demokratischen Partei nehmen, auf Leute wie Alexandria Ocasio-Cortez oder Bernie Sanders?
Kornblum: Sehr gute Frage. Er muss Rücksicht auf sie nehmen, weil sie wichtige Abstimmungen auch beeinflussen können. Ihre Ideen sind viel weiter als die meisten Amerikaner im Moment. Aber sie sprechen Umstände an oder Missstände, besser gesagt, die auch zum Vorschein gekommen sind jetzt bei Corona. Er muss sehr auf sie aufpassen, ein bisschen mehr als im lieb ist bestimmt. Und heute Morgen steht in der Presse, Bernie Sanders möchte Arbeitsminister sein, er will eine sehr liberale, vielleicht sogar radikale Arbeitspolitik durchsetzen.
Heinemann: Was heißt radikale Arbeitspolitik? Womit rechnen Sie?
Kornblum: Zum Beispiel genau dieselben Fragen, die man in Deutschland hat. Mindestlohn zum Beispiel – ein großes Thema bei uns. Arbeitsbedingungen, Arbeiterschutz, Umweltbedingungen, Investitionen in Arbeiterschutz. All diese Sachen, wo die Vereinigten Staaten ziemlich weit zurück sind und wo es tatsächlich Missstände gibt, die man auch behandeln müsste, aber aus verschiedenen Gründen das nicht getan hat. Es ist eine ziemlich delikate Balance, die Biden hier finden muss. Denn er muss zur gleichen Zeit irgendwie auch Verständigung für die Trump-Wähler zeigen, denn die Trump-Wähler sind nicht unbedingt bösartige Menschen, sondern das ist eher die traditionelle, industrielle Arbeiterklasse, die keine Funktion mehr hat und die ziemlich verbittert ist. Die kann er auch nicht vergessen.
Heinemann: Muss auch ein Präsident Biden versuchen, Einwanderung zu kontrollieren und gegebenenfalls einzudämmen?
Kornblum: Na ja, kontrollieren ja. Trump hat das gestern Abend angesprochen. Das stimmt auch. Sogar Obama hat die Maßnahmen an der Südgrenze verschärft, als er Präsident war. Es ist nicht so sehr Einwanderung, Einwanderung ist bei uns gesetzlich geregelt, viel mehr als in Europa. Es gibt Quoten. Es gibt Bestimmungen. Man ist Einwanderungsland. Und vor allem die neue Hightech-Industrie braucht Einwanderer, braucht gute Kräfte. Nicht nur aus Indien, sondern aus Europa. Es gibt ja zehntausende Deutsche, die im Silicon Valley arbeiten zum Beispiel. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist – genau wie in Europa, es ist fast spiegelbildlich dasselbe wie in Europa – die Flüchtlinge. Und die Flüchtlinge in Europa sind aus dem Nahen Osten mehr oder weniger oder aus Afrika und unsere Flüchtlinge kommen aus Mittelamerika und Südamerika. Und das ist wirklich ein sehr schwieriges Problem.
"Amerika wird die Unbeweglichkeit von Europa nicht mehr dulden"
Heinemann: Wenn wir auf die Handelspolitik schauen, auf das Thema Verteidigungsausgaben oder überhaupt die internationale Zusammenarbeit schauen, was erwartet Europa und Deutschland unter einem Präsidenten Joe Biden?
Kornblum: Biden hat schon gesagt, sehr klar zu verstehen gegeben, dass das Verhalten der Vereinigten Staaten sich grundsätzlich ändern wird. Das heißt, wir werden auch offen und freundlich zu unseren Freunden sein. Wir werden in internationalen Organisationen aktiv sein. Wir werden die NATO unterstützen. Wie werden wieder in das Pariser Abkommen eintreten et cetera. Also, das Offizielle wird er sehr schnell wahrscheinlich ändern, sodass sowohl die Partner wie auch die Gegner wissen woran sie sind. Das ist Punkt Eins und das ist sehr wichtig.
Punkt Zwei aber ist, die Welt hat sich auch ziemlich verändert. Und das hat nicht nur mit Trump zu tun, sondern mit der Technologie, mit Umweltfragen und auch mit dem Verhalten von Staaten wie Russland und China. Und Biden wird eine neue Richtung finden müssen, die auf der einen Seite klar und nicht nachgiebig ist, aber auf der anderen Seite auch mit denen zusammenarbeiten müssen. Das wird für Europa nicht unbedingt leicht sein, denn die Art, wie Europa das machen möchte, ist nicht unbedingt das, was in Amerika jetzt eine Mehrheit bringt, das heißt, nur durch Dialog, nur durch internationale Organisationen, nur durch Multilateralismus – das ist an sich nicht mehr das Klima, in dem Biden jetzt hier arbeiten muss. Er muss auch zeigen, dass er für Amerika ist, er muss auch ein bisschen nationale Ziele definieren – anders als Trump–, aber für Europäer wird es vielleicht nicht so einfach sein. Und jetzt sage ich meine persönliche Meinung: Europa hat zu lange gelebt mit der Erwartung, dass Amerika alles dulden würde, und jetzt wird man sehen, dass Amerika die Unbeweglichkeit von Europa nicht mehr dulden wird.
Heinemann: Sie sprachen gerade von Implikationen der Amtszeit oder Auswirkungen der Amtszeit Trump. Die politische Sprache der vergangenen dreieinhalb Jahre erinnerte häufig an Krieg. Donald Trump bezeichnet Kritikerinnen und Kritiker als Amerikas Feinde oder Feinde des Volkes. Wie kann die kulturelle Demobilisierung in den USA gelingen?
Kornblum: Rhetorisch kann Biden ziemlich viel erreichen. Das hat er getan. Ich erinnere mich sehr daran. Es war vor zwölf Jahren, als Biden als Vizepräsident zuerst nach Deutschland gekommen ist, nach einer wirklich ziemlich unbefriedigenden Zeit der Bush-Administration auch für Europa. Und er stand da in München auf der Sicherheitskonferenz und sagte: "Wir sind zurück." Und er meinte "wir", die Good Guys, wie man auf Englisch sagen würde, wir sind zurück. Das wird er dieses Mal noch mal machen. Zwölf Jahre später wird er es wieder machen müssen. Wir sind wieder zurück, und ironischerweise in derselben Person. Aber wie gesagt, das ist nur der Anfang. Der Teufel liegt im Detail, wie man sagt. Und es gibt eine Menge Entwicklungen, auch in den letzten vier Jahren erst gekommen, die Biden in seiner Amtszeit als Vizepräsident nicht hat angehen müssen.
Wie zum Beispiel die Regulierung des Internets, zum Beispiel Energiefragen, Umweltfragen. Und dann müssen wir sehen, wie gut er das tut, ob er auch die Mannschaft hat. Die Demokraten sind ja ziemlich lange nicht mehr im Amt. In Europa hat man durch das Beamtentum einen ständigen Nachschub von führenden Beamten. Bei uns ist das anders. Wir haben natürlich auch das Beamtentum und wir haben sogar ein sehr gutes Beamtentum, aber das Regieren von Amerika ist so kompliziert, dass ein Präsident auch politische Beamte braucht. Und das System – Sie kennen das auch von Think Tanks, von Anwaltskanzleien etc. –, das sind die Plätze, wo diese Leute, auch wenn sie nicht im Amt sind, ausgebildet werden. In diesen vier Jahren von Trump, aber auch in den acht Jahren von Obama hat es einen Generationswechsel gegeben. Und aus verschiedenen Gründen, auch weil es andere Gebiete gibt, die vielleicht etwas interessanter sind, wie zum Beispiel Internet oder so was, sind die nicht ausgebildet worden. So hat er eine ziemlich dünne Decke von erfahrenen politischen Beamten, die jetzt reinkommen würden. Es ist interessant, wie in Amerika … die Generation von Biden oder Trump ist auch meine Generation, wie wir noch aktiv sind. Das ist das erste Mal in der Geschichte, wo Menschen über 70 eine aktive Rolle in der Politik spielen. Und das zeigt aber, dass die Generationen darunter, die 60- und 50-Jährigen, nicht mehr so präsent sind wie in der Vergangenheit.
Außenpolitik ist nicht mehr so interessant für die jüngere Generation
Heinemann: Die interessiert sich nicht mehr so für politische Karrieren?
Kornblum: Das ja, aber nicht für die Außenpolitik. Die Außenpolitik ist nicht mehr so interessant für die jüngere Generation. Das ist ganz normal. Der Kalte Krieg ist vorbei. Die großen Herausforderungen sind tatsächlich diese entweder technologischen oder Gesellschaftsfragen. Und deshalb ist die Decke, die man hat für solche Menschen, weniger als in der Vergangenheit.
Heinemann: Eine der ersten Aufgaben oder die weiterhin wichtigste Aufgabe kurzfristig des neuen Präsidenten, wird Corona sein einerseits.
Kornblum: Ja.
Heinemann: Welche Rolle spielt im Wahlkampf die Pandemie einerseits und andererseits auch George Floyd und die Black-Lives-Matter-Bewegung für die Entscheidung in dieser Präsidentschaft?
Kornblum: Beide spielen eine sehr große Rolle. Es ist interessant zu spekulieren, wie wir jetzt stehen würden in diesem Wahlkampf, wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte. Trump würde bestimmt viel besser dastehen. Ob er gewinnen würde, weiß ich nicht, aber er würde viel besser dastehen. Es gibt nur ein Thema im Moment, nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa, und das ist die Pandemie. George Floyd ist auch – richtig – für Trump eine sehr negative Entwicklung. Es hat die afroamerikanischen Wählerschichten motiviert. Es ist nachgewiesen worden statistisch, dass wenn die Afroamerikaner 2016 in derselben großen Zahl ihre Stimme abgegeben hätten wie 2008 und 2012 für Barack Obama, dann hätte Trump keine Chance gehabt. Aber 2016 haben die Afroamerikaner gesagt: "Na ja, Hillary wird sowieso gewinnen und jetzt haben wir unser Soll getan bei Barack und wir brauchen nicht abzustimmen." Dieses Mal werden sie wahrscheinlich eine noch höhere Quote haben.
Heinemann: Wenn sie abstimmen können. Und damit sind wir bei dem Stichwort "voter supression", das heißt dem Versuch, Bürgerinnen und Bürger die Stimmabgabe möglichst zu erschweren. Wie und vor allen Dingen wieso funktioniert das?
Kornblum: Ja, das ist eine gute Frage. Die Republikaner versuchen seit Jahren, die Stimmen der Minoritäten, ob Latinos oder Afroamerikaner, zu drücken, weil sie wissen, dass die meisten bei den Demokraten sind. Das ist ein großer Kampf. Nur dieses Mal hätte man auch wieder gewartet, gerade in den Südstaaten, wo das ein großes Problem ist, da sind die Demokraten ziemlich gut organisiert. Das bedeutet nicht, dass das Problem weg ist. Es ist nicht weg, aber es wird mindestens aktiv behandelt.
"Woche nach der Wahl wird eine ziemlich turbulente Zeit sein"
Heinemann: Sodass Sie glauben, dass diesmal eine größere Gerechtigkeit bei der Stimmabgabe möglich ist?
Kornblum: Ich hoffe es. Wir werden sehen. Da spielt Corona auch eine Rolle. Es gibt drei Möglichkeiten, eine Stimme abzugeben. Die erste ist die Traditionelle, an die Wahlurne zu gehen am Wahltag. Die zweite ist, was wir hier early voting nennen. Das heißt, man kann hier in Tennessee zum Beispiel, wo ich wohne, schon seit zwei Wochen zum Wahlort gehen und seine Stimme abgeben. Oder man kann auch per Briefwahl abstimmen. Und alle diese drei Möglichkeiten sind da. Wenn es eine große, große Menge von Briefwählern gibt, dann ist die Auszählung von diesen Briefstimmen langsamer und verzögert sich ein bisschen. Und das bedeutet höchstwahrscheinlich, dass wenn es keinen Erdrutsch gibt für Biden, was durchaus möglich ist, wenn man die Umfragen anschaut, dass das Ergebnis erst nach einer Woche oder so bekannt wird. Und das wird natürlich Trump Zeit geben, um allerlei Schikanen einzubauen und Abwehrmaßnahmen und rechtliche Maßnahmen, wer weiß was. Die erste Woche nach der Wahl wird eine ziemlich turbulente Zeit sein.
Heinemann: Stichwort "Trump" – Populismus gibt es nicht nur in den USA. Welche Lehren sollten Menschen in Europa und in Deutschland aus Donald Trumps Präsidentschaft ziehen?
Kornblum: Ja, die Lehren sind, dass die Umstände, die Konditionen, die zu Trump geführt haben, nicht unbedingt nur amerikanisch sind, sondern die widerspiegeln einen Gezeitenwechsel, der stattfindet, eine Unsicherheit, die auch so im Gezeitenwechsel kommt und teilweise die Unfähigkeit der etablierten Parteien, diese Gezeitenwechsel im Voraus zu sehen und im Voraus darauf zu reagieren. Ich habe in einer deutschen Zeitung zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung einen Artikel publiziert. Und meine Überschrift war: Die Situation in Amerika ist in Europa schon längst angekommen. Und das ist auch meine persönliche Meinung. Es wird nicht dasselbe sein, aber man sieht schon, es gibt Länder wie, sagen wir, Polen oder Ungarn, da redet man immer darüber, aber das gibt es auch in Deutschland und in Frankreich und Italien. Es gab Brexit. Man sieht, dass die festen Strukturen in Europa auch nicht mehr so fest sind. Diese Situation ist für Europa viel schwieriger als für die Vereinigten Staaten.
Warum? Unser System ist ziemlich unten durch im Moment, aber es ist ein System, das schon fast 250 Jahre besteht. Und es kann auch ziemlich viel Unsicherheit und ziemlich viel Strapazieren aushalten. Die Strukturen in Europa sind knapp 50 Jahre alt. Es gibt auch Teile von Europa, die erst seit 30 Jahren in der Demokratie leben. Die Situation in Europa ist viel unsicherer. Das Vertrauen in die Institutionen ist viel weniger als in den Vereinigten Staaten. Europa muss sich darauf vorbereiten, dass es eine turbulente Zeit geben wird, genauso wie in den Vereinigten Staaten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.