Eigentlich hört Kuerban Haiyuer nur noch selten Musik aus seiner Heimat. Der Berliner Exil-Uigure meidet alles, was ihn an die autonome Region Ostturkestan – oder Xinjiang, wie die Chinesen offiziell sagen – erinnert:
"…die kann benzinartig das alles wieder hochkochen. Meine Frau hört so die Lieder aus der Heimat und wird sofort traurig. Und sie braucht viel Kraft, Energie, das wieder zu überwinden."
Seit seiner Flucht vor zwölf Jahren war Kuerban Haiyuer nicht mehr Zuhause. Wie die meisten der gut 600 in Deutschland lebenden Uiguren gilt er der Regierung in Peking als Verräter. Die Informationen, die ihn aus seiner zunehmend isolierten Heimat erreichen, sind spärlich und selten gut. Von islamistischen Anschlägen ist da die Rede, von Verhaftungen und zuletzt von Hunderttausenden Gefangenen in chinesischen "Erziehungslagern". Immerhin: Seit Kurzem weiß der 36-jährige Haiyuer, dass seine Mutter noch am Leben ist.
"Sie war einige Zeit verschwunden, seit Februar 2017. Also ich kann sie wirklich nicht befragen, wo sie eigentlich war. Ob sie in eine solche Einrichtung ist oder ob sie eine andere Art von Verfolgung ausgesetzt wurde, kann ich sie nicht leider fragen. Weil solche Sachen ist auch tabu. Und sobald ich auf das Thema kommen wollte, sie macht ihren Mund zu und zeigt mir: Nichts, gar nichts. Nein, nein, nein."
Im Namen der Partei
Haiyuer hält kurz inne, schaut auf sein Handy, als könnte er seine Mutter dort noch sehen.
"Ich bin überhaupt froh, sie noch lebendig zu sehen, aber es bringt leider nichts weiter. Weil es gibt keine Kommunikation. Sie fühlt sich immer, immer… alles beobachtet, gesehen, gehört. Die andere Sache: Sie verabschiedet sich im Namen der Partei. In der uighurischen Sprache, wenn wir uns verabschieden, ganz gewöhnlich, wir sagen 'Ich verlasse dich auf Gott', so etwa. Und meine Mama sagte, 'Ich verlasse dich auf die Partei'. Und dann gibt es diese gewöhnliche, also das hat mit Religiosität gar nichts zu tun, diese gewöhnlichen Worte wie mashallah, inshallah… Und das ist ein Tabu. Sobald ich aus Versehen dieses Wort, Roda – also Gott – oder eines dieser Wörter spreche, sie wird sofort nervös."
Haiyuers Familie war nie besonders religiös. "Grüß Gott" oder "Gott sei Dank" zu sagen gehörte für sie zur Umgangssprache. Insgesamt, so bestätigt die Sinologin Kristin Shi-Kupfer vom Berliner Mercator Institute for China Studies, galt der Islam der Uiguren lange Zeit als eher liberal.
"Die Uiguren, die ich kenne, auch in den Familien war es beispielsweise immer sehr wichtig, dass auch Mädchen zur Schule gehen, dass die Universitäten besuchen können. Auch das Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau war immer ein sehr respektvolles. Also in der Tat war es eher eine freiere Form des Islams, die jetzt nicht so sehr extremistischen oder sehr orthodoxen Schulen nahestand."
Extremistische Darstellung
Dennoch stellte Peking die Uiguren auch international pauschal als Extremisten dar. Seit gewalttätigen Ausschreitungen in Xinjiang im Jahr 1997 ist zahlreichen Moscheen der Gebetsruf untersagt, Verbotsschilder vor den Eingängen untersagen Regierungsbeamten, Frauen und Minderjährigen das Betreten der Gebetsräume. Ausgerechnet im Fastenmonat Ramadan, so berichten Angehörige der Minderheit, werden Uiguren immer wieder zum Trinken – ja teilweise gar zum Verzehr von Schweinefleisch gezwungen…
"Das Ziel der chinesischen Regierung ist, eine ganze Volksgruppe zu brechen. Sie ist unter Generalverdacht gestellt worden und es geht jetzt in der Tat darum, sie ihrer kulturellen Identität zu berauben."
So die Sinologin Kristin Shi-Kupfer. Doch die vergangenen Jahre haben gezeigt: Je härter die chinesische Regierung durchgriff, desto wichtiger wurde den Uiguren ihre Religion.
"Ich war zuletzt 2011 in Ürümqi, da hatte ich schon den Eindruck, dass Moscheen Zulauf haben, dass auch gerade jüngere Leute, Studierende, dort mehr Rückhalt suchen und Orientierung. Und einfach auch diese Gemeinschaft, aber auch diese spirituelle Dimension zunehmend wirklich als Identitätsmerkmal und Zuflucht empfunden haben. Sei es äußerlich, durch einen Bart, dass man ihn wachsen lässt, dass man sich entsprechend auch kleidet, aber vor allem auch durch den Besuch von Moscheen. Und teilweise in der Tat auch in eine Richtung, die extremistischen Predigern sehr viel mehr Boden geliefert hat."
Regelmäßige Anschläge und blutige Ausschreitungen in Xinjiang seit dem Jahr 2007 scheinen diese These zu belegen – und dienen der chinesischen Regierung zugleich als Rechtfertigung für die riesigen Umerziehungslager in ihrer westlichsten Provinz. Eine "Präventionsmaßnahme" zur "Verhinderung von Terrorismus" seien die Lager, heißt es aus Peking. Denn jeder Uigure gilt in China heute als potenzieller Terrorist.
"... aufgrund der Moscheen, aufgrund der Gemeinschaften, die sich bilden und auch aufgrund der Netzwerke, die es ja in der Tat auch gibt, zu islamistischen aber auch zu gemäßigten regulären Gemeinschaften. Und natürlich auch die spirituelle Dimension, dass es eine andere Art von Loyalität gibt, dass man sich auch weniger fürchtet Konflikte einzugehen, weil man eben als gläubiger Muslim um das Versprechen weiß, dann jenseits dieser Welt gegenüber Allah Frieden finden zu können."
Religionen im Fadenkreuz
Argumente, die übrigens nicht allein die Muslime in China unter Generalverdacht stellen.
"Unter dem jetzigen Parteivorsitzenden sind die Religionen grundsätzlich mehr ins Fadenkreuz geraten. Vor allem die so genannten ausländischen Religionen. Ausländische Religionen sind der Islam und das Christentum. Die indigenen Religionen, so nennt China das, die sind ja eher stark darauf angelegt entweder in einer Klostergemeinschaft zu leben, aber dann ist man ja komplett raus aus dem Leben, oder sich individuell zu kultivieren. Während das Christentum und der Islam ja auch innerhalb dieser Welt eben diese Gemeinschaftsstrukturen anbieten. Und ich glaube das ist vor allem etwas, was Peking ein Dorn im Auge ist."
Das glaubt auch Kuerban Haiyuer, der sich im Berliner Exil unermüdlich für die Sache der Uiguren einsetzt. Vor allem dafür, dass die Deutschen überhaupt von dem Konflikt um seine Heimat erfahren. Denn viele, so weiß er, regen sich über das Unrecht gegenüber den Tibetern in China oder auch den Christen in der Türkei auf – haben aber von den Uiguren, die zu Hunderttausenden in Umerziehungslagern stecken, noch nie gehört. Vielleicht, so glaubt, Haiyuer, weil sie Muslime sind.
"Meiner Meinung nach, der Westen verliert schon jetzt die moralische Autorität. Sie müssen eine vernünftige, verantwortungsvolle mit China engagieren. So wie es jetzt aussieht, ich will nur noch dein Geld, ich will nur noch wirtschaftliche Entwicklung und alles andere ist mir egal. So geht das nicht mehr. Also wenn die Westen ihre Politik der Menschenrechte und Demokratie nicht mehr verteidigt, dann unsere freie Demokratie hat keine Zukunft mehr."