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Existentialisten-Roman auf der Bühne

Historisch hat die post-68er-Generation den "Fremden" zu ihrem Säulenheiligen gemacht. In jüngster Zeit scheint es eine Renaissance von Albert Camus' "Der Fremde" zu geben: Das Theater Basel hat den Text als szenische Lesung gezeigt, und jetzt inszenierte ihn Sebastian Baumgarten in Frankfurt als grandioses Bühnenstück.

Von Christian Gampert |
    "Der Fremde" von Albert Camus ist ein Text, der untergründig in einer Vielzahl anderer Texte wuchert. Das Gefühl, nicht dazuzugehören und dem ja nur scheinrationalen gesellschaftlichen Begründungszusammenhang nicht unterworfen zu sein, ist lebensgeschichtlich in der Pubertät besonders ausgeprägt, da liest man dieses Buch. Historisch hat die post-68er-Generation den Fremden zu ihrem Säulenheiligen gemacht.

    Dabei ist er ein Mörder, allerdings nur aus einem dummen Zufall heraus: Es ist einfach zu heiß am Strand, und da steht dieser Araber und provoziert und spielt mit dem Messer, und da schießt man schon einmal. Man hätte es auch lassen können - aber das sind die Weggabelungen, wo sich ein Schicksal entscheidet.

    Verurteilt wird Meursault, der Fremde, nicht in erster Linie wegen eines Tötungsdelikts, sondern wegen seiner Haltung, seiner Gleichgültigkeit sich und den anderen und der Welt gegenüber: Wer am Tag nach der Beerdigung seiner Mutter eine Affäre beginnt und sich einen Fernandel-Film anschaut, der kann nach Ansicht der bürgerlichen Gesellschaft kein guter Mensch sein.

    Das ist die bisherige Lesart des Romans. Der Regisseur Sebastian Baumgarten, 1969 geboren, lenkt unseren Blick nun auf einen ganz anderen Aspekt, der bislang eher als Folie der Erzählung diente: Meursaults Totalverweigerung spielt sich 1942 in Algerien ab, von Camus zum Land der flirrenden Hitze hochmythologisiert, in Wahrheit aber ein simples Kolonialreich, in dem Franzosen und Araber, der weiße und der schwarze Mann sich als Herr und Knecht gegenüberstehen.

    Baumgarten, ein Meister der Rhythmisierung von Tönen, Bildern und Worten, faltet die Erzählung mit dem Besteck der Postdramatik nun völlig auseinander, spult sie vor und zurück, legt per Video-Monitor eine zweite, historische Schiene unter Camus' Philosophie des entfremdeten, absurden Menschen - und geht ganz von außen an das Thema heran. Eingeblendetes Motto, sehr katholisch: "Rekonstruktion eines Sündenfalls".

    Während Camus lange nur monologisch die Sicht des bewusstlosen Außenseiters erzählt und in einem zweiten, dem Gefängnisteil, dann gänzlich philosophisch wird, untersucht Baumgarten das kollektive Unbewusste und lässt im Video zuerst mal Frantz Fanon zu Wort kommen, Psychiater, Freiheitskämpfer und Sprecher der "Verdammten dieser Erde". Da geht es um französische Folterer und impotent gewordene Araber - und erst dann kommt Meursault mit seinem "Ich werde ihn abknallen" und ein Chor aus Schreien und Flüstern.

    Die Schauspieler sitzen halbnackt in Bademänteln am Strand im Sand - und auf Schalensitzen der Pariser Metro-Stationen, die der Bühnenbildner Thilo Reuter sehr symbolisch auf arabische Teppiche montiert hat. Der ermordete Araber, der farbige Schauspieler Falilou Seck, spielt auch Untersuchungsrichter und Priester. Marie (Ruth Marie Kröger) räkelt sich als nasse Bikini-Puppe mit Pariser Akzent. Man malt sich schwarz an und wäscht sich wieder ab. Auf Marc Stephans Videos sieht man Kamelrennen und Schmeißfliegen. Meursault halluziniert eine Hinrichtung - und richtet selber den Araber hin, eine per Bahnhofslautsprecher eingesagte Hitze-Fantasie:

    "Er hat sein Messer herausgezogen … Mir dröhnt der Kopf … Diese glühende Hitze!"

    So bringt Sebastian Baumgarten seine somnambule Politparabel zum Tanzen und erzeugt mit der Zeit jenes sengende Klima - zwischen kolonialem Strand-Tourismus und revolutionärem arabischem Polit-Terrorismus - das Meursaults sinnlosen Mord erst hervorbringt. Der alte Salamao und sein Hund, der Zuhälter Raymond und seine arabische Geliebte - das Politische, Gewalttätige dieser Beziehungen wird weit nach vorn gezoomt, und der radikale Nihilismus der Hauptfigur kommt erst ganz am Ende zum Tragen.

    Wolfram Koch gelingt da etwas wirklich Großes: den Meursault ganz von innen heraus zu spielen, vorsichtig, apathisch, um in einer finalen Aggression dann die Bedeutungslosigkeit eines jeden Lebens zu behaupten. Eine grandiose Inszenierung, die in der orientalischen Musik von Andrew Pekler noch jede Ohrfeige als Pistolenschuss kenntlich macht.