Hinter einer Gitterkonstruktion in einem kleinen Vorraum haben die Zuschauer gewartet, bis sie den Bühnenraum nach und nach betreten können. Eng ist es auch für einige der Tänzerinnen und Tänzer - sie sind eingesperrt in hohe, schmale Glasvitrinen, die wie kostbare Ausstellungsstücke effektvoll ausgeleuchtet werden. Jede Hautpore können wir betrachten, alle Schweißtropfen zählen, herumflanieren und uns diese merkwürdige Installation anschauen. Zugleich Kunstwerke und Gefangene werden uns hier vorgeführt; wir sehen aber auch zu, wie einige Tänzer andere an einem Seilzug nach oben hieven, einfach nur auf der Erde liegen oder mit uns durch den Raum gehen. Die Situation des Beginns bleibt, trotz aller Bildhaftigkeit, unbestimmt.
Und so geht es weiter: Auch wenn später eine Tänzerin mit einem Kinderskelett auf dem Arm und auf dem Hintern über den Boden robbend allzu direkt an die vielgescholtenen innerstädtischen Bettler erinnert, kommen doch andere Szenen ganz spielerisch rüber, etwa wenn eine Tänzerin die Zuschauer immer wieder erregt lachend auffordert, ihr beim Sprung von einem Platz zum andern zu helfen.
Aus Chaos wird Choreographie
Exodus bezeichnet unter anderem den Auszug der Israeliten aus Ägypten, also einen Akt der Befreiung, des Auswegs. Aber auch Flucht – und in der Deutung Sasha Waltz’, das Ausgehen ins Nachtleben. Alle diese Motive verarbeitet die Choreografin in Exodus, einem fast dreistündigen, polystilistischen Abend, der ungeheuer viele verschiedene Assoziationen zum Thema eröffnet. Langsam entsteht aus den ungeordneten und individuellen Bewegungen der Tänzer, die immer zugleich auch Bewegungen des Publikums sind, eine Ordnung, das heißt eine freie Mitte im Raum - und ab diesem Moment zeigt Sasha Waltz, wie meisterhaft sie Gruppen in unterschiedlichen Rhythmen und Dynamiken durch den Raum bewegen kann. Flucht, Ausweg, Auszug - das sind nicht nur die beschriebenen, der Realität abgeschauten Bilder, sondern auch das freie Spiel der zur Masse organisierten, zu kleineren und größeren Gruppen verdichteten Körper, die vor und zurück wogen durch den Raum - atemlos und mitreißend, getrieben von der musikalischen Begleitung des Soundwalk Collectivs, mit dem Sasha Waltz bereits mehrfach zusammengearbeitet hat.
Ästhetisierung der Wirklichkeit
Bei aller Lust an der Überwältigung aber keimt an diesem Abend immer wieder die Frage des Verhältnisses von gesellschaftlicher Realität und Kunstschaffen auf. Durch die Öffnung des Themas Exodus über die Flucht als politisches Massenphänomen hinaus in persönliche Fragen wie ‚Wovor flüchte ich - oder ‚flüchten wir?’, durch die Hinwendung zu einem Exodus als Auszug in den Club, durch die Frage nach einer möglichen Utopie des Kollektivs erhält das Stück zwar einen großen Reichtum an Bildern und Anspielungen - die Frage nach dem Ge- oder gar Missbrauch der politischen Wirklichkeit, die im Kern vor allem menschliches Leid bedeutet, wird damit aber umso virulenter. Das ist nicht nur bei Sasha Waltz so - viele Choreografen und Choreografinnen beschäftigt die derzeitige Weltlage, auch auf der Bühne. Und natürlich waren und sind Künstler immer auch die ‚Seismografen’ ihrer Zeit. Dennoch bleibt ein subtiles Befremden zurück, wenn hier die Tänzer und Tänzerinnen in ihren aus unterschiedlichen Schichten und Materialien bestehenden, vor allem aber exquisit geschneiderten Kostümen Zuschauer um Hilfe anflehen, sich gegenseitig auf die Flucht mitnehmen oder zur Technoparty ansetzen.
Eine emotionale wie mentale Herausforderung
Und wiederum: Die Fülle der Assoziationen, die die Definition von Exodus als Massenbewegung hervorruft, greift einen an, bewegt einen mit. Auch wenn es in den drei Stunden zahlreiche Längen gibt und zum Schluss einiges dramaturgisch zerfasert, kommt man mit vollem Kopf und körperlich, mental und emotional sehr bewegt aus diesem Abend, der unter den jüngeren Arbeiten der Choreografin Sasha Waltz als einer der gelungensten gelten kann.