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Exot im All
Erstes Bose-Einstein-Kondensat auf der ISS erzeugt

Fast auf den Tag genau 25 Jahre ist es her, da verkündeten zwei Forschungsteams eine physikalische Sensation – die Erzeugung eines neuen Materiezustands, des Bose-Einstein-Kondensats. Nun gelang US-Fachleuten ein neuer Coup: Sie erzeugten ein Bose-Einstein-Kondensat in der Schwerelosigkeit - an Bord der ISS.

Von Frank Grotelüschen |
Die die Internationale Raumstation (ISS)
Auf der Internationalen Raumstation wird auch physikalische Grundlagenforschung betrieben (Nasa)
"We have some exercise equipment on board of the space station."
Vor einiger Zeit auf der Internationalen Raumstation. Astronautin Sunny Williams zeigt die Fitnessgeräte, mit denen sich die Crew der ISS in Form hält. Zum Beispiel das Fahrrad:
"All you need to do is clip your feet in, and then you can start pedaling."
Einem aber bereitet der Heimtrainer Kopfzerbrechen – dem Physiker Rob Thompson vom Jet Propulsion Laboratory der NASA.
"Unser Experiment befindet sich gleich neben dem Fahrrad, sagt Thompson. Deshalb machen wir unsere Versuche möglichst dann, wenn die Crew schläft."
Der Grund: Das Experiment von Rob Thompson ist hochempfindlich: eine Wolke aus zig Millionen Atomen, in der Schwebe gehalten durch einen Magnetkäfig und per Speziallaser gekühlt bis nahe an den absoluten Temperaturnullpunkt. Unter diesen Extrembedingungen passiert etwas Bemerkenswertes. Die kalte Wolke transformiert sich in einen exotischen Materiezustand, ein Bose-Einstein-Kondensat.
Das Kondensat lässt sich viel genauer vermessen
"Man nennt das manchmal den fünften Zustand der Materie, einst postuliert von Albert Einstein. Kühlt man die Gaswolke extrem ab, gewinnt die Quantennatur die Oberhand: Die Atome überlappen sich wie Wellen und sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. So gesehen marschieren sie in perfektem Gleichschritt."
Erstmals erzeugt wurde dieser Zustand vor 25 Jahren in den USA. Die Fachwelt war fasziniert – plötzlich konnte sie die Kuriositäten der Quantenphysik nicht mehr nur an einzelnen Atomen beobachten, sondern an einem makroskopischen Objekt, einer Wolke aus ultrakaltem Gas. Doch ein Problem blieb: Oft genug stört bei den Experimenten die Schwerkraft. Sie zieht und zerrt an den Atomen und reißt die Wolke nach Sekundenbruchteilen in Stücke.
"Deshalb wollten wir mit dem Experiment in den Weltraum, dort lässt sich ein Bose-Einstein-Kondensat viel länger aufrechterhalten als auf der Erde – nicht nur für Sekundenbruchteile, sondern mehrere Sekunden lang. Und dadurch lässt sich das Kondensat viel genauer vermessen."
2018 begann das Experiment, eine Rakete brachte es zur ISS. Es ist eine Box vom Format eines kleinen Kühlschranks, mit dem die ISS-Crew nur wenig Arbeit hat. Denn es wird vom Boden aus ferngesteuert.
"Im Moment machen wir das von zu Hause aus, wegen der Corona-Pandemie. Das ist schon komisch: Da schießt die ISS mit 17.000 Meilen pro Stunde über unsere Köpfe hinweg, und wir steuern unser Experiment vom Bett aus oder vom Esstisch."
Bose-Einstein-Kondensat als ultrasensibler Schwerkraft-Sensor
Doch die Sache hat Erfolg: Mittlerweile gelingt es dem Team, pro Tag bis zu 200 Kondensate zu erzeugen und zu studieren. Derzeit sei das alles noch pure Grundlagenforschung, sagt Rob Thompson. Aber in Zukunft könnte ein Bose-Einstein-Kondensat im All auch handfeste praktische Anwendungen bringen, zum Beispiel als ultrasensibler Schwerkraft-Sensor.
"Ein Kondensat an Bord eines Satelliten, der um den Mond oder um einen Asteroiden kreist, könnte dort geringe Abweichungen der Schwerkraft aufspüren, die auf Bodenschätze hindeuten. Und Erdbeobachtungssatelliten könnten das Abschmelzen von Eisschilden durch den Klimawandel beobachten – und zwar zehnmal präziser als heute."
Bis 2024 soll das Experiment auf der ISS noch laufen. Danach träumen die Fachleute bereits von einem Nachfolger, der die schwebenden Kondensate noch deutlich genauer unter die Lupe nehmen soll.