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"Expected Goals"
Von Chancentoden und fast unmöglichen Toren

Fußball-Fans diskutieren gerne über die vermeintlich „100-prozentige Torchance“, Goalgetter und Chancentode. Um festzustellen, ob eine Torchance tatsächlich sehr groß war, hilft eine neue Methode.

Von Matthis Jungblut |
    Der Ball fliegt nach einem Freistoss durch Toni Kroos (nicht im Bild) zum Tor zum 2:1 Siegtreffer ins Netz.
    Der Ball fliegt nach einem Freistoß durch Toni Kroos (nicht im Bild) zum 2:1 Siegtreffer Deutschlands gegen Schweden. (imago sportfotodienst)
    Deutschland – Schweden. Zweites WM-Gruppenspiel bei der WM in Russland. 95. Minute. Freistoß. Unglaublich, unfassbar, total unwahrscheinlich, dass der noch reingeht! Doch war das Tor bei der Schusstechnik von Kroos wirklich so unwahrscheinlich? War das nur Zufall? Glück? Oder Können?
    Über Situationen wie diese hat der Journalist Christoph Biermann ein Buch geschrieben: Seine Ausgangsfrage: Welche Rolle spielt der Zufall beim Fußball? Sein Mittel: Eine neue Art der Fußball-Daten, qualitative Statistiken.
    Mit qualitativen Daten erwartete Tore berechnen
    "Schießt ein Spieler glücklich seine Tore oder gelingt es ihm, von Positionen aus zu schießen, wo es gefährlich ist. Also da kommt man auch bei der Bewertung von einzelnen Spielern zu etwas genaueren, etwas komplexeren Einschätzungen als das mit klassischen Fußball-Daten der Fall ist."
    Biermann konzentriert sich in seinem Buch auf die so genannten expected goals, also die zu erwartenden Tore eines Spiels. Dieser Wert gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein Schuss im Tor landet. Anders gesagt: Er kann mathematisch belegen, ob eine Torchance sehr groß oder sehr gering war. Doch wie funktioniert das?
    Feld wird in Quadranten unterteilt
    Für die Bundesliga wird seit Ende der 90er-Jahre jeder Schuss, jedes Tor und vieles mehr in riesigen Datenbanken vermerkt und archiviert. Diese Daten haben Statistiker ausgewertet. Dazu haben sie zunächst das Spielfeld in kleine Quadranten unterteilt. Anschließend haben sie berechnet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, aus einem dieser Quadranten ein Tor zu erzielen.
    Dabei wurden die Entfernung zum Tor, die Anzahl der Verteidiger zwischen Ball und Tor, die Spielminute und der Spielstand berücksichtigt.
    Zwischen eigener Eckfahne und gegnerischem Fünf-Meter-Raum
    Am Ende bekommt jeder Fleck auf dem Spielfeld einen sogenannten X-Goal-Wert zugewiesen, der aussagt, wie wahrscheinlich es ist, von dieser Stelle aus ein Tor zu schießen. Die eigene Eckfahne hat dabei einen sehr niedrigen Wert, der gegnerische Fünf-Meter-Raum einen sehr hohen.
    "Die X-Goals sind aus meiner Sicht gut geeignet, ein Fußballspiel im Nachhinein zu charakterisieren, weil sie am Einfachsten darstellen, wie die tatsächlichen Kräfteverhältnisse auf dem Platz waren."
    Bessere Einschätzung von Mannschaften und Spielern möglich
    sagt der Blogger Michael Karbach, der Fußballdaten sammelt und aufbereitet. Auf lange Sicht sagen erwartete Tore aber noch viel mehr aus: Welche Mannschaft schafft es regelmäßig, sich große Chance herauszuspielen? Welcher Spieler nutzt seine Chancen, wen man kann man ruhig schießen lassen?
    Der X-Goal-Wert einer einzelnen Chance liegt immer zwischen 0 und 1. Liegt er bei einem Schuss des Angreifers bei 0,9, heißt das: Die Chance ist zu 90 Prozent ein Tor. Addiert man nach dem Spiel alle X-Goal-Werte einer Mannschaft, kann man ihre Torgefährlichkeit gut bewerten. Im Vergleich zu vielen anderen Statistiken messen viele Experten dem x-goal Wert eine hohe Aussagekraft bei.
    Ein gutes Beispiel ist das WM-Achtelfinale Russland gegen Spanien, das Russland im Elfmeterschießen gewonnen hat. Bis dahin sahen die Zuschauer ein zähes Unentschieden.
    Russland - Spanien: trotz Überlegenheit wenige Torchancen
    "Wenn man sich die Spieldaten ansieht – Torschüsse, gespielte Pässe, angekommene Pässe, Fehlpässe, Passquote – zeigen alle Spieldaten eine unfassbare Überlegenheit der Spanier. Die tatsächlichen X-Goal-Werte lagen aber nur bei 1,5 zu 1. Also es wurden extrem wenige Torchancen herausgespielt."
    Laut den Daten des Wettanbieters Stratabet kam Deutschland in der Vorrunde auf zusammengerechnete 8,1 erwartete Tore – Nur Belgien war mit knapp 9 etwas stärker.
    Das Problem: Kein einziger Schuss der Deutschen hatte einen höheren Wert als 0,5. Bedeutet: Das Team hatte zwar einige Chancen, aber keine guten.
    Deutschland: zwei Tore bei acht erwarteten Toren
    Außerdem ist die Differenz zwischen X-Goals und tatsächlichen Toren auffällig. Zwei Tore bei 8,1 erwarteten Toren. Das war der größte Unterschied aller Teams der Vorrunde. Das kann Pech, Unvermögen oder vor allem fehlende Form bei denjenigen sein, die die Toren machen sollen.
    Lionel Messi schoss für Barcelona 34 Tore – bei einem X-Goal-Wert von 28,9. Das bedeutet: Messi ist so gut, dass ihm für seine Tore auch qualitativ schlechtere Chancen reichen. Wo wir wieder bei Toni Kroos sind.
    Der X-Goal-Wert von diesem Schuss lag bei unter 0,1. Also wenn ein Spieler zehn mal von dieser Position aus aufs Tor schießt, fällt nur ein Mal ein Tor. Vielleicht hat das deutsche Team sein ganzes Abschlussglück in diesem einen Augenblick aufgebraucht.