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Experiment gescheitert?

Die ferngesteuerten Spielfiguren bewegen sich auf den Einschaltbefehl hin geziert und erzählen von ihrer Stadt Wittenberge und ihrem Dasein, bis der Mann sie wieder abstellt.

Von Hartmut Krug |
    So stellt Regisseurin Anne Bergmann den Blick von außen deutlich aus und vor, den die Autorin Juliane Kann in ihrem Stück "Fieber" auf die Menschen wirft. Sie sollen in der schrumpfenden Stadt Wittenberge leben, denn es ist das vierte Stück des Theaterprojektes "Über Leben im Umbruch", das sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen eines Langzeit-Beobachtungsprojekts im brandenburgischen Wittenberge auseinanderzusetzen sucht. Doch Juliane Kanns Stück wirkt, wie auch andere Stücke dieses Projektes, nicht gesättigt von neuen Erkenntnissen, sondern allein geprägt von Genreklischees. Ihre Figuren und deren Konstellationen und Konflikte sind uns aus unzähligen Fernsehspielen und Theaterstücken über Vereinzelung und Einsamkeit, Sehnsucht und Traurigkeit von Menschen bekannt. Auch bei Juliane Kann kommt natürlich jemand von außen in das erstarrte, kranke Menschen-Biotop, und gerade weil dieser Mann, auf der Suche nach sich und nach der Heimat seiner verstorbenen Frau, einsam in sich vergraben ist, wird er geöffnet von einer ebenfalls einsamen Frau und entwickelt sich zugleich zum unfreiwilligen Erwecker von neuen Hoffnungen anderer.

    Doch während die Wissenschaftler ganz unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse zwischen Erstarrung und Aufschwung in Wittenberge entdeckten, einer Stadt an der Elbe, der neben der Nähmaschinenfabrik "Veritas" auch alle anderen Arbeitgeber abhandengekommen sind, erzählt das Stück recht eindimensional von einer kranken Kleinstadtbevölkerung, wie es sie schon oft in der Theatergeschichte gegeben hat. Jede Figur ist hier ein Klischee, mit nicht immer glücklich poetisierenden Sätzen festgezurrt in jeweils nur einer Haltung, und auch wenn es zum Schluss ein neues Ehepaar und weitere hoffnungsvolle neue Beziehungen gibt, werden die Figuren auf ihrem Weg nicht entwickelt, sondern allenfalls äußerlich bewegt. Was die Menschen hier tun, kommt nicht aus ihnen heraus, sondern aus dem Setzkasten der Dramatikerin. Dem die Regisseurin nicht sonderlich zu trauen scheint, denn sie überschüttet das Stück schier mit bunt unterhaltsamen Spieleinfällen. Wir erfahren letztlich wenig von den Menschen und ihren inneren Empfindungen oder gesellschaftlichen Erfahrungen, sondern allenfalls etwas von der Vielfalt der handwerklichen Theatermittel der Regisseurin.

    Bei der ist immer etwas los, ohne dass mit den Menschen wirklich etwas passiert. Ein weiteres Fenster öffnet sich zu einer Autowerkstatt, oder sollte es das Büro eines Schrottplatzes sein? Dann kommt es beim Kleinstadtschwoof unter bunter Glühbirnen-Girlande zu munteren Arrangements zwischen Konflikt und Annäherung, und immer wieder reden, singen und denken Menschen in Traumsequenzen von ihren wahren Gefühlen. Es gibt die schwangere Frau, der ein krampfhaftes Grinsen eingewachsen scheint und die mit zwei Kindern in einer ständig kriselnden Beziehung mit dem mächtig volkstümlich tuenden, berlinernden Schrottplatz-Besitzer lebt, es gibt eine Kellnerin, die ihre Hoffnungen auf den angereisten Wessie setzt, so wie ihre manchmal mit sich selbst redende pubertierende Tochter, die sich den Mann als Vater und dessen Sohn als ersten Freund aussucht, - einen maulfaulen Sohn, der im Rollstuhl anreist, aber schließlich zu gehen und zu reden lernt. So kennen wir jede Figur aus der Fernseh-, Soap- und Theatergeschichte, ohne von irgendeiner wirklich etwas zu erfahren. Jede redet über die kranke Stadt und wird dabei nicht gleich gesund, aber gewinnt doch Hoffnungen durch Beziehungen zu anderen Menschen. Und die Utopie muss gleich wieder zum Theatereffekt werden: weshalb man sich am Schluss in einer Band zusammen findet, in bunten Kostümen, als Batman, Hase, Supermann oder Girlie, und ein Lied vom Aufbau neuer Häuser singt. Hoffnung bleibt eben auch im buntesten, traurigen Theaterspektakel, auch wenn die Sqare-Dance-Gruppe im Finale wie das ganze Stück nie den richtigen Takt findet.

    Immerhin bleiben von diesem bunten, leer lärmenden Theaterabend zwei Schauspieler-Leistungen: wie Anne Müller die junge Ricarda zwischen Trotz und Sehnsucht, Abwehr und Annäherungssuche spielt, zeigt eine Schauspielerin auf der Suche nach Figurengestaltung. Vor allem aber, wie Ruth Reinecke deren nicht mehr junge Mutter spielt, deren schüchtern zielgerichtete Annäherung an den Fremden entwickelt, das ist Schauspielkunst und überwindet alle Klischees von Stück und Inszenierung.

    Doch insgesamt hat das Theater den wissenschaftlichen Erkenntnissen des Langzeitprojektes nichts Neues hinzugefügt, ja, es bleibt letztlich hinter seinen eigenen Möglichkeiten weit zurück.