
Der Experte für Sicherheitspolitik Markus Kaim bestätigte zudem, dass sich das „schlimmste militärische Szenario“ jetzt bewahrheitet habe. Der Westen habe lange angedeutet, was für Russland im Fall einer Aggression wirtschaftlich auf dem Spiel steht. Darum habe der russische Präsident jetzt Wochen und Monate Zeit gehabt, um sein Kosten-Nutzen-Kalkül anzustellen. Und sich für die militärische Invasion entschieden.
Alle aktuellen Entwicklungen: Newsblog von den Nachrichten zum Krieg in der Ukraine
Jasper Bahrenberg: Passiert genau das, Herr Kaim, was alle Beobachter, wir alle zusammen für den schlimmsten Fall befürchtet haben, tatsächlich ein massiver Angriff der russischen Streitkräfte aus drei verschiedenen Richtungen, also diese Zangenbewegung, die wir beim Aufmarsch der russischen Truppen seit Wochen, seit Monaten im Grunde verfolgt haben?
Markus Kaim: In der Tat, Ihre Beobachtung ist völlig zutreffend. Das schlimmste oder größte militärische Szenario hat sich bewahrheitet. Diejenigen, die immer noch auf Diplomatie gesetzt haben und die militärischen Drohgebärden oder militärischen Aufmarsch Russlands kleingeredet oder unterschätzt haben, sind jetzt eines Besseren belehrt. Letztlich steht jetzt die Frage im Raum, wie weit die militärische Operation gehen wird – das ist ja gerade im Vorgespräch angeklungen –, und daraus abgeleitet, da traue ich mir heute auch noch kein rechtes Urteil zu, was für politische Optionen Präsident Putin anstrebt. Also gesetzt den Fall, er wird seinen Feldzug eines Tages beenden, in den nächsten Tagen oder Wochen, was ist die Ordnungsvorstellung, die er für die Ukraine hat und verfolgt.
"Wir können nur mutmaßen, was Putin vorschwebt"
Bahrenberg: Einige wichtige Aspekte haben Sie da genannt, versuchen wir ein bisschen zu sortieren: In dem Auszug aus der Rede von Wladimir Putin redet der russische Präsident von Denazifizierung und von Demilitarisierung. Unsere Korrespondenten haben das so interpretiert, dass die wehrlose Ukraine das Ziel dieses Angriffs ist, dass er die Ukraine vollständig unter Kontrolle bringen will. Ist das auch Ihre Lesart der militärischen Ereignisse und der Begleitung, sagen wir mal, der Rhetorik von Wladimir Putin, dass er darauf zielt, zunächst einmal das ganze Land militärisch unter Kontrolle zu bringen?
Kaim: Ich würde sogar noch einen Schritt zurückgehen und vielleicht eine gewisse Ambivalenz bei ihm konstatieren, die vielleicht bezeichnend ist für seine politischen Äußerungen der letzten Wochen. Der erste Teil der Rede, den Sie gerade vorgestellt haben in dem Beitrag, lautet ja noch, es geht darum oder, der in der Rede auftauchte, lautete, es ginge darum, einen Völkermord in Donbass zu verhindern. ... (teils unverständlich) die russischsprachige Minderheit dort zu schützen.Das klingt ja nach begrenztem Kriegsziel, nach einer Befreiung oder Besetzung oder Erweiterung des Gebiets der zwei sogenannten Volksrepubliken. Der zweite Teil, den Sie angesprochen haben, der reicht natürlich weiter, (teils unverständlich) militärisch natürlich unpräzise.
Wie soll eine Demilitarisierung und vor allen Dingen Denazifizierung erreicht werden? Das sind ja keine militärischen Begriffe, sondern politische Begriffe. Das deutet dann doch aber auf eine vollständige politische Transformation der Ukraine mit ungewissem Ausgang, und wir können hier nur mutmaßen, was ihm vorschwebt, also eine Art Marionettenregime in Kiew zu errichten, was der russischen Führung folgsam folgt, Scheinwahlen durchzuführen oder anderes mehr. Das bleibt jetzt erst mal im Unklaren, aber es bleibt natürlich eine unangenehme Perspektive nach einem möglichen militärischen Sieg, die Regierungsverantwortung übernehmen zu müssen, und da bin ich doch mal gespannt, ob er davor nicht zurückschreckt.
SPD-Außenpolitiker Schmid: „Russland vor Sanktionspaket nie dagewesenen Ausmaßes“
Kaim: Sanktionen sind „eine Strafaktion im Nachhinein“
Bahrenberg: Können wir für den Moment, Markus Kaim, annehmen oder voraussetzen, dass alle auf dieser Seite des Konfliktes, also die Ukraine selber, aber auch die Europäische Union, auch die Bundesregierung, auch die Vereinigten Staaten, dass wir für den Moment nichts tun können, um dem Vorgehen der russischen Truppen irgendwie Einhalt zu gebieten, wir werden abwarten müssen, wie weit Putin selber seine Truppen gehen lassen will.
Kaim: Ich würde es so formulieren: Jetzt sprechen die Waffen, die Entscheidung hat der russischen Präsident getroffen. Jetzt könnte man theoretisch darüber mutmaßen, ob der Westen auf genau dieser Ebene dem russischen (unverständlich) entgegentritt, also selber Truppen entsendet. Das ist absurd, das hat der amerikanische Präsident auch ausgeschlossen, das will niemand, aber runtergebrochen könnte man ja über die Waffenlieferungen an die Ukraine noch mal verstärkter diskutieren. Aber die Zeit der Diplomatie ist erloschen, die gesamten Bemühungen der letzten Wochen, die ja wirklich erkennbar gewesen sind – sei es der amerikanische Präsident, der französische, der deutsche Bundeskanzler –, das ist verpufft, die sind zum Teil glatt belogen worden.
Und die Sanktionen haben doch jetzt, glaube ich, eher, wie das heute beschlossen wird, die Funktion einer Strafaktion im Nachhinein. Und ob dieses tatsächlich einen Gesinnungswandel in Moskau bewirkt, das sei noch mal dahingestellt, weil der russische Präsident hatte ja jetzt Wochen und Monate, um sein Kosten-Nutzen-Kalkül anzustellen. Der Westen hat ihm immer das Preisschild genannt oder das Preisschild zumindest angedeutet, und in seinem Kosten-Nutzen-Kalkül ist der russische Präsident jetzt zu der Schlussfolgerung gekommen, dass der Nutzen einer militärischen Invasion in der Ukraine die Kosten überwiegt und dass er das so beschlossen hat, das haben wir heute morgen gesehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen