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Das "System Auto" hinterfragt
Mobilitätsexpertin Katja Diehl zeigt Konzepte für den Alltag

Ländliche Regionen in Deutschland, in denen man kein eigenes Auto mehr braucht: weil die meisten Erledigungen am Tag in der Nähe, sprich zu Fuß machbar sind. Solche und weitere Visionen entwirft die Mobilitätsexpertin Katja Diehl in ihrem Buch „Autokorrektur“.

Von Moritz Klein |
Das Buchcover zu Katja Diehl: "Autokorrektur" vor einer Straßenfestszene ohne Autoverkehr
Lebensqualität durch bessere Mobilität und Infrastruktur (Cover s. Fischer Verlag / Hintergrund picture alliance / Robert B. Fishman)
Wer bei „Verkehrswende“ zuerst an E-Autos denkt, hat für Katja Diehl noch kaum zu denken angefangen. Der Mobilitätswandel, der ihr vorschwebt, setzt auf Systemebene an und nicht beim einzelnen Vehikel. Die Fixierung auf das Auto sei vielmehr das zentrale Übel des gegenwärtigen Verkehrssystems, dessen Misere in weit mehr als den Klima-Folgen der Verbrennungsmotoren bestehe. Die Autorin beginnt daher mit einer umfassenden Rekapitulation der Konstruktionsfehler dieses Systems, das privaten Autobesitz als Norm voraussetze, aktiv fördere, priorisiere und privilegiere, wodurch andere Mobilitätsformen strukturell verkümmerten.
Das „System Auto“ schafft nach Diehls Darstellung kranke Räume und Gerechtigkeitsprobleme. Automobilität als Planungsprämisse zerdehne und fragmentiere den Raum bis zur Dysfunktionalität. Private Pkw okkupierten (nicht zuletzt als geparkte) öffentlichen Raum und verschlechterten die Aufenthaltsqualität in diesem. Die massiven Folgekosten des exklusiv privat Genutzten würden zwangsweise von der Allgemeinheit getragen.

An den Bedürfnissen orientieren

Doch auch die Menschen, die im Auto sitzen – oft schlicht aus Mangel an Alternativen, glaubt Diehl – seien von den Nachteilen des Systems betroffen. Das Auto bedeute gegenwärtig für sehr viele Menschen nicht Freiheit, sondern Abhängigkeit: Das legen die vielen, im Buch zitierten Interviews nahe, die die Autorin geführt hat. Daher sei es wichtig, die wirklichen Bedürfnisse und Lebenssituationen hinter dem privaten Autobesitz zu kennen. Um die Normalität der Automobilität abzubauen, müssten Routinen hinterfragt und Abhängigkeiten bewusst werden.
„Welche Dinge machen Sie werktäglich? Welche Erledigungen sind unabdingbar, um Ihren Alltag zu gewährleisten? Ich nehme an: berufliches Pendeln, Kinderbetreuung, Einkäufe und Hobbys [...]. Sind diese Wege weit? Wünschen Sie sich manchmal, dass Sie weniger Zeit auf diesen Wegen verbringen müssten? Hinterfragen Sie, warum diese Wege so weit sind, oder haben Sie diese als unveränderliche Tatsache in Ihr Leben integriert?“
Die Stärke von Diehls Ansatz ist, individuelle Lebensrealitäten mit dem Systemkontext von Mobilitiät zu verbinden. Dabei geht sie von gesellschaftlichen Problemen aus, die bei einem eher technischen Blick auf das Thema scheinbar wenig mit Verkehr zu tun haben.

Männlicher Fokus

Zentral für Diehls Ansatz ist der Fokus auf die Belange von Gesellschaftsgruppen, die in der Raum- und Verkehrsplanung marginalisiert seien, weil die dafür Verantwortlichen ihre Alltagswirklichkeit nicht teilen und kaum kennen.
„Unser gesamtes Verkehrssystem wurde in der Vergangenheit, analog dem patriarchalen System, in dem wir leben, von einer Gruppe von Personen gestaltet: männlich, weiß, cis, heterosexuell und wohlhabend. Das so entstandene Muster besteht bis heute fort. Weil es auch in unserer Gesellschaft fortbesteht.“
Das heißt, die Mobilitätsinfrastruktur ist für genau die Gruppe entworfen und optimiert, die sich in unserer Gesellschaft ohnehin am ungehindertsten bewegen kann. Allen anderen – und die seien zahlenmäßig letztlich die Mehrheit – werde Mobilität ohne Auto erschwert.
Diehls Analyse setzt bei den kulturellen und gesellschaftlichen Wurzeln an: den Werten und Normen, die sich in der Infrastruktur manifestieren: etwa der Zuschnitt öffentlicher Verkehrssysteme auf Standard-Bewegungsprofile traditionell männlicher Berufstätigkeit; generell die Priorisierung von Erwerbsarbeit gegenüber unbezahlter Care-Arbeit, die auf anderen Wegen und zu anderen Zeiten stattfindet; oder auch der Zusammenhang von Berufsverkehr und dem Anwesenheitszwang in Büros zur Kontrolle der Angestellten.

Mobilität für alle

Die Menge derer, die vom Systemstandpunkt aus – dem Normprofil des gesunden, wohlhabenden, weißen Mannes – als Ausnahmen, als „die anderen“ marginalisiert werden, ist sehr groß: Frauen und andere von Sexismus oder von Rassismus betroffene Menschen, die sich im öffentlichen Raum ­oft nicht sicher fühlen und deshalb lieber Auto fahren, aber auch Kinder und Alte, Menschen mit Einschränkungen, von Krankheit und Armut Betroffene und alle, die nicht Auto fahren können oder wollen. Die Bedürfnisse all dieser nicht als Sonder- und Mehrbedarfe, quasi Extrawürste, sondern vielmehr als Grundmaß der Mobilitätsermöglichung zu betrachten, führe zu einer guten Raumplanung für alle:
„Wenn wir auf die Schwächsten schauen und für sie die öffentlichen Räume gestalten, ist es meiner Meinung nach nahezu unmöglich, dass die aktuelle Mehrheitsgesellschaft darunter leidet.“
Denn so divers die Gesellschaft ist, so seien die Grundsätze guter Mobilität letztlich für alle Menschen ähnlich. Der erste Grundsatz einer wahren Mobilitätswende sei: Wege vermeiden, Wege verkürzen, den alltäglichen Lebensraum und Bewegungsradius wieder auf ein menschliches Maß der Fußläufigkeit bringen und nicht vom Auto her denken. Erfolgreiche Beispiele für solche Raumgestaltung gibt es bereits, bislang vor allem in einzelnen Städten und Projekten, die wegweisend auch für die Gestaltung ländlicher und suburbaner Räume werden könnten, meint Diehl. Privater Autobesitz wäre in einer solchen Welt nicht verboten, aber schlicht überflüssig.
Katja Diehl: „Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“, mit Illustrationen von Doris Reich, S. Fischer Verlag, 263 Seiten, 18 Euro.