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Extremist der Selbsterfahrung

"Die Demütigung" ist keines der großen Werke, nicht einmal ein Roman. Doch nicht bei jeder Publikation eines "neuen Roth" sollte die Meisterwerk-Erwartung aufgefahren werden. Eine fesselnde, reich mit bedeutenden Motiven ausgestattete Novelle ist das Buch ganz bestimmt.

Von Dr. Eberhard Falcke |
    Die Geschwindigkeit mit der Philip Roth in den letzten Jahren die Mehrzahl seiner Helden unter die Erde bringt, ist atemberaubend. In dem Kurzroman "Jedermann" fand schon die erste Begegnung mit dem Protagonisten auf dem Friedhof bei dessen Beerdigung statt. In dem großartigen kleinen Roman "Empörung" ist der junge College-Student Marcus Messner schon dem Tode nahe, während er sich noch an sein kurzes Leben erinnert. Und nun mit Simon Axler fackelt sein Autor auch nicht lange. Zumindest dessen schauspielerische Gabe stirbt schon im ersten Satz, im letzten Satz ist dann auch der Mann selber dran.

    Er hatte seinen Zauber verloren. Der Impuls war erloschen. Auf der Bühne hatte er nie versagt - alles, was er getan hatte, war stark und erfolgreich gewesen, doch dann war das Schreckliche geschehen: Er konnte nicht mehr spielen. An die Stelle der Gewissheit, dass er wunderbar sein würde, trat das Wissen, dass er versagen würde. Sein Talent war tot.

    Simon Axler ist ein Star des amerikanischen Theaters, doch ein fallender, stürzender Stern. Roths neues Buch "Die Demütigung" zeichnet seine kurze Flugbahn nach. Das Ende seiner Schauspielerkarriere bedeutet für Axler das Ende seines Lebens. Er verliert alle produktive Energie, seine Frau verlässt ihn, er verfällt in Depressionen und hängt Selbstmordgedanken nach, was der Autor nutzt, um eine kleine Motivlese über Selbstmörder in der dramatischen Literatur aufzublättern.

    Auf einmal war Axler allein in dem Haus auf dem Land und hatte Angst, er könnte sich umbringen. Nun konnte er tun, was er nicht fertiggebracht hatte, solange sie noch da gewesen war: die Treppe zum Dachboden hinaufsteigen, das Gewehr laden, den Lauf in den Mund schieben, die langen Arme ausstrecken und den Abzug betätigen.

    Mit unerbittlicher Konsequenz und stets aufs Neue macht sich Philip Roth in seinem Alterswerk daran, die verschiedenen Wege, Krankheiten oder Schicksale durchzuspielen, die dem Leben den Garaus machen. Transzendentale, die materielle Existenz übersteigende Perspektiven wie Religion oder Spiritualität bleiben dabei geradezu gesetzmäßig ausgeschlossen, ebenso wie alle anderen Trostmittel, die Naturbetrachtung etwa. Bei Roth dreht sich alles um die Gefühle der Menschen und das, was sie miteinander treiben. Deshalb tendieren diese erzählerischen Endspiele weder zu Trübsinn noch zu Abgeklärtheit, sondern werden immer belebt und konterkariert durch die unerschöpfliche Kraft zur menschlichen Komödie, die auch noch die geplagtesten Roth-Helden zuverlässig zu vitalen literarischen Figuren werden lässt.
    Axlers Vorgänger hatten es mit Prostataproblemen, Inkontinenz, Verstopfung der Herzkranzgefäße oder der Angst vor Alzheimer zu tun. Er hat, abgesehen von Rückenschmerzen, so sehr mit Depressionen zu kämpfen, dass er sich in die Psychiatrie einweisen lässt. Dort langweilt er sich bei therapeutischen Malstunden, gewinnt aber auch Einblicke in die Leiden anderer. Eine vornehme, zierliche Dame aus den besten Kreisen schildert ihm, wie sie ihren Ehemann, einen steinreichen Machtmenschen dabei überrascht, wie er ihre kleine Tochter missbraucht. Nun will sie diesen Mann nur noch erschießen oder jemanden dafür anheuern, Axler zum Beispiel.

    "Wenn ich ein Killer wäre, würde ich es gratis machen", sagte er und nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. "Aber ich bin bloß ein arbeitsloser Schauspieler. Ich würde es vermasseln, und dann müssten wir beide ins Gefängnis."

    Weder neue Aufgaben noch der Besuch seines Agenten, der ihm rettende Möglichkeiten und glänzende Angebote unterbreitet, können Axler aus seiner Verfinsterung befreien. Doch dann wird es auf einmal heller, es tritt die große Lebensretterin auf, die Erotik. Es erscheint Pegeen, die Tochter alter Freunde von Simon Axler, und mit ihr wird für den müden Recken plötzlich eine ganze Serie von feuchten Männerträumen Wirklichkeit.

    Jetzt stand eine geschmeidige, vollbrüstige Frau von Vierzig vor ihm; in ihrem Lächeln war jedoch noch etwas von dem kleinen Mädchen und in ihrem wiegenden Gang eine Menge von der Range. Sie besaß die unverwundbare Ausstrahlung eines glücklichen Menschen.
    Pegeen ist lesbisch, aber im Zusammentreffen mit Simon erwacht in ihr das Bedürfnis, es einmal anders zu versuchen. Sie ist außerdem sexuell so experimentierfreudig, als hätte sie stets ein Porno-Lehrbuch unterm Kopfkissen. Und bei alledem verfährt sie so schonungsvoll, dass der alte Herr trotz seines lädierten Rückens ohne Weiteres mithalten kann, sogar dann, als auch noch ein flotter Dreier ansteht.
    Kaum zu glauben! Und das alles käme gewiss wesentlich platter daher, wenn es nicht in allen Einzelheiten von Philip Roth erzählt würde. Denn der versteht es, auch solche spektakelhaften sexuellen Eskapaden halbwegs plausibel in das menschliche Drama des Simon Axler einzufügen.

    Die Eigenartigkeit dieser ganzen Verbindung hätte viele abgeschreckt - doch eben sie war es, die das alles so aufregend machte. Aber auch die Angst blieb, die Angst, wieder zurückzukehren zu der Unfähigkeit eines Menschen, der vollkommen am Ende ist.

    "Die Verwandlung" heißt das zentrale mittlere der drei Kapitel des Buches, und tatsächlich ist Verwandlung hier ein Leitmotiv. Als Simons Geliebte verwandelt sich Pegeen von der jungenhaften Lesbe in einen durch Shopping und Friseurbesuche bestens ausgestatteten Männerschwarm. Ihre Eltern verwandeln sich für Simon von alten Freunden in unerbittliche Gegner, die es keinesfalls dulden wollen, dass ihre Tochter ihr Leben an einen 25 Jahre älteren Mann hängt. Simon Axler selbst aber verwandelt sich in einen munteren Liebhaber, der vom Comeback und einem neuen Leben als Ehemann und Vater träumt.

    Er hatte in ihrer Gesellschaft begonnen, sich zu verjüngen, er hatte alles Erdenkliche getan, um sich einzureden, sie könne an seiner Seite all die schönen Vorstellungen von Erfüllung Wirklichkeit werden lassen, und darum waren seine Gedanken so hoffnungsvoll wie möglich.

    Schon trifft er Vorkehrungen für den Neubeginn, erkundigt sich nach den Risiken einer späten Vaterschaft - da wirft ihn eine weitere Verwandlung aus der Bahn, und Roth hat auf keiner Seite Zweifel gelassen, dass es so kommen würde. Unverhofft und unverblümt teilt ihm Pegeen eines Tages plötzlich mit: "Es ist vorbei". "This is the end", sagt sie in der Originalfassung, als hätte sie gerade den gleichlautenden Song von den Doors gehört. Und damit steht für Axler das Ende erneut vor der Tür, die er schließlich mit einem letzten Auftritt durchschreitet. Wie Konstantin Gawrilowitsch aus Tschechows "Möwe" greift er zum Jagdgewehr. Seine letzte Rolle, sein allerletzter Auftritt.

    Simon Axler - das ist eine interessante Parallele - ergeht es ganz ähnlich wie Rosalie von Tümmler, der Heldin von Thomas Manns letzter Erzählung "Die Betrogene". In beiden Fällen erweisen sich die Zeichen neuer Lebenskräfte als Täuschung.
    Er habe das Alter einfach nicht erwartet, sagte Roth kürzlich einmal. Wie bei allem, was diesen Extremisten der Selbsterfahrung je bewegt hat, erweist er sich auch angesichts dieser Erfahrung als ein unersättlicher Erzähler, der sein Thema immer wieder aus anderen Blickwinkeln durcharbeitet.

    "Die Demütigung" ist keines der großen Werke, nicht einmal ein Roman. Doch nicht bei jeder Publikation eines "neuen Roth" sollte die Meisterwerk-Erwartung aufgefahren werden. Eine fesselnde, reich mit bedeutenden Motiven ausgestattete Novelle ist das Buch ganz bestimmt. Wenn es um humane Intensität und individuelle Passionen geht, dann erweist sich Philip Roth mit seinem dynamischen Erzählstil eben auch in seinen kleineren Texten immer wieder als ein Meister in der Darstellung menschlich-allzumännlicher Befindlichkeiten.

    Philip Roth: "Die Demütigung". Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2010. 138 Seiten, 15,90 Euro.