Nach mehreren Übergriffen und dem Tod eines palästinensischen Kindes im Westjordanland haben die israelischen Behörden angekündigt, verstärkt gegen jüdische Extremisten vorzugehen. Gestern hatte das Verteidigungsministerium eine sechsmonatige sogenannte Administrativhaft für einen jüdischen Extremisten angeordnet.
Der Soziologe Zuckermann sagte, bisher sei die Administrativhaft, wobei ein Terror-Verdächtiger auch ohne Anklage festgehalten werden kann, nur gegen Palästinenser verhängt worden. "Es ist kein Kurswechsel, sondern nur die Reaktion auf etwas, das wirklich ein Ausnahmefall gewesen ist, der im Grunde genommen aber nur ein Symptom für einen Gesamtzustand ist, der von der Regierung selber dauernd getragen wird." Das Vorgehen sei nicht ausreichend und komme zu spät, sagte er. Jahrelang habe man den jüdischen Fundamentalisten im Westjordanland zugeschaut. Religöser Fanatismus sei mittlerweile "tief in der Regierung" vorhanden. Die Regierung sei ein Symptom, sagte der Historiker, und "nun mal das, was die Gesellschaft sich wählt."
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Erst die Messerattacke auf Teilnehmer an einer Schwulenparade in Jerusalem vor einer Woche, nach denen eine 16-Jährige starb, und dann am letzten Freitag der Brandanschlag auf das Haus einer palästinensischen Familie im Westjordanland, bei dem 18 Monate alter Junge umgekommen ist. Israel erlebt gerade eine Welle religiöser Gewalt, und zwar von jüdischer Seite. Die Regierung hat härter darauf reagiert als zuvor, so scheint es zumindest, Verteidigungsminister Mosche Jaalon hat am vergangenen Sonntag angekündigt, Israelis, die Anschläge planten, würden in sogenannte Administrativhaft genommen, damit kann ein Terrorverdächtiger auch ohne Anklage festgehalten werden. Bisher ist diese Art von Haft nur gegen Palästinenser verhängt worden, und gestern dann kam tatsächlich ein jüdischer Extremist aus einer Siedlung in diese Administrativhaft: Der 18-Jährige soll an - so heißt es - gewaltsamen Aktivitäten und Terroranschriften beteiligt gewesen sein. In Tel Aviv erreichen wir Moshe Zuckermann, er ist Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Guten Morgen, Herr Zuckermann!
Moshe Zuckermann: Guten Morgen!
Kaess: Zum ersten Mal Administrativhaft also für einen jüdischen Siedler – ist das ein Kurswechsel in der Regierungspolitik?
Zuckermann: Na ja, es ist ein Kurswechsel insofern, als ein Präzedenzfall geschaffen worden ist, dass zum ersten Mal ein Jude in Administrativhaft genommen wird, aber natürlich wird damit überhaupt die Idee der Administrativhaft erst recht legitimiert, und die geht ja zumeist gegen Palästinenser. Also von daher mag es ein Kurswechsel gegenüber den Juden sein, aber es ist im Grunde genommen nur die Fortsetzung einer zu verurteilenden Politik: Man soll keine Administrativhaft.
Kaess: Aber - um es noch einmal festzuhalten - Sie würden es tatsächlich sehen als ein härteres Vorgehen gegen jüdischen religiösen Fundamentalismus?
Zuckermann: Ja, aber das muss ich jetzt auch gleich relativieren. Das heißt ja, wer geht hier gegen wen vor. Im Grunde genommen würde sich das ausnehmen, als würde eine liberale Regierung gegen den religiösen Fundamentalismus vorgehen. Der religiöse Fundamentalismus ist ein Teil dieser Regierung. Die Partei HaBajit haJehudi, die von Bennett geführt wird, ist im Ganzen eine Partei, die im Großen und Ganzen das befürwortet, was Siedler insgesamt und auch die fanatischen Siedler machen, das sind ja ihre parlamentarischen Vertreter. Von daher ist das nur ein Lippenbekenntnis, wenn man sagt, man will jetzt gegen die härter vorgehen. Man geht härter vor gegen diejenigen, die irgendwie gefasst worden sind, aber das, was über Jahre und lange Jahre von diesen Fundamentalisten tagtäglich in der West Bank, vor allem in der West Bank angerichtet wird, das wird ja nicht angegangen, sondern wird ganz im Gegenteil auch zum großen Teil von der Regierungskoalition sogar abgesegnet.
Kaess: Sie sagen Lippenbekenntnis, Lippenbekenntnis für wen?
Zuckermann: Lippenbekenntnis, weil die Welt aufgeschrien hat, weil es auch in der israelischen Bevölkerung einen kurzen Aufschrei gegeben hat, aber dieser war ziemlich kurz, nach zwei Tagen hat sich schon wieder alles beruhigt. Und somit musste man sozusagen irgendwie in den Zugzwang geraten, mehr oder weniger dann irgendwie eine Aktion machen. Diese Aktion, die sie gestern gesagt haben, dass man irgendeinen der Beteiligten unter sehr, sehr vielen anderen Beteiligten in Haft genommen hat, das ist im Grunde genommen zu wenig, zu spät, und im Grunde genommen geht es auch nicht an das Wesen der Sache ran.
"Es ist im Grunde genommen kein Kurswechsel, sondern nur eine Reaktion"
Kaess: Herr Zuckermann, es heißt, die jüdischen Extremisten hinter den Anschlägen wollten Israel als Staat zerstören und ersetzen durch eine Art Gottesstaat. Sie leben in illegalen Siedlungen im Westjordanland - wäre das ein Ansatz für die Regierung, jetzt zu sagen, zumindest diese illegalen Siedlungen akzeptieren wir nicht mehr?
Zuckermann: Schauen Sie, Sie reden wirklich aus einer Perspektive, die in irgendeiner Weise von legalen Siedlungen redet - es gibt keine legalen Siedlungen. Alle Siedlungen, die ...
Kaess: Aus Perspektive der Regierung.
Zuckermann: Aus der Perspektive der Regierung ist das Spiel mit den illegalen Siedlungen ja immer wieder schon ein zweigesichtiges Spiel gewesen. Man baut eine illegale Siedlung ab, um dafür dann 300 neue Wohneinheiten zu legitimieren. Das heißt, man macht den einen eklatanten Akt, um damit die ganzen anderen völkerrechtswidrigen und anderen juristisch angreifbaren Aktionen zu legitimieren. Das heißt, es ist im Grunde genommen kein Kurswechsel, sondern nur eine Reaktion auf etwas, das wirklich ein Ausnahmefall gewesen ist, der im Grunde genommen aber nur ein Symptom für einen Gesamtzustand ist, der von der Regierung selber dauernd getragen wird.
Kaess: Um da noch mal nachzufragen: Das ist für Sie klar, es ist überhaupt nicht vorstellbar, dass diese Diskussion Israel jetzt die Siedlungspolitik innerhalb der Likud-Regierung infrage stellen könnte?
Zuckermann: Ganz im Gegenteil. Ich versuchte gerade zu sagen, indem man sozusagen Maßnahmen nimmt, die sich ausnehmen wie Kurswechsel, versucht man im Grunde genommen nur das, was entstanden ist, nämlich ein Staat im Staate, nämlich den Siedlerstaat im Staat Israel, der mehr oder weniger auch jetzt sich in der Exekutive und auch in der Legislative so festgesetzt hat, dass er im Grunde genommen gar nicht mehr erschütterbar ist, dass man dieses Moment jetzt im Moment dahingehend instrumentalisiert, dass man sagt, wir unternehmen etwas gegen diese Ausnahmeerscheinungen, die keine sind, um im Grunde genommen den Gesamtzustand, der anzugehen wäre, zu legitimieren.
Kaess: Jetzt sind in den letzten Tagen sehr harte Worte gefallen, jüdischer Dschihad, so hat es die "Jerusalem Post" genannt. Die Vorsitzende der linksliberalen Merez-Partei Sehava Galon hat gesagt, das ist jüdischer Terrorismus, das ist der jüdische IS. Sind so starke Worte vorher schon mal gefallen?
Zuckermann: Nein, das ist ja aber auch so, dass wenn eine Merez-Vertreterin - und das ist wirklich eine sehr honorige Person - das sagt, ist das wirklich nur aus einer Position der Ohnmacht. Je extremer die Rhetorik, desto mehr ist die reale, praktische Bedeutung der Merez-Partei wie im Grunde genommen auch der Arbeitspartei eine nichtige. Das heißt, es kann heute eigentlich niemand wirklich die Konstellation, die entstanden ist, einer konservativen Regierung, die sich mehr oder weniger des rechtsextremen Parteienpotenzials als Koalition gebildet hat, beikommen. Von daher ist die Rhetorik von Sehava Galon oder von anderen linksgerichteten Personen im Grunde genommen nichts anderes als ein Rufen in der Wüste.
Kaess: Und es ist eine absolute Minderheitsposition.
Zuckermann: Das ist eine verschwindende Minderheit.
Kaess: Daran ändern auch die Demonstrationen gegen Gewalt und Terror in den letzten Tagen nichts?
Zuckermann: Schauen Sie, Hunderttausende hätten rausgehen müssen auf die Straße. Wenn nicht Hunderttausende, Dutzende von Tausenden hätten rausgehen ... Wie viel waren es denn? Es waren 5.000, 6.000 - die üblichen Verdächtigen, die immer wieder rausgehen, die da immer wieder sich schon seit Jahren bemerkbar machen, aber das sind ja genau diejenigen, die man sozusagen abhaken kann, indem man sagt, ja, wir lassen sie protestieren, aber die Regierung ist doch davon nicht in irgendeiner Weise eingeschüchtert und fühlt sich auch gar nicht irgendwie großartig in Zugzwang gesetzt.
Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft und Regierung
Kaess: Hat in diesem Klima der jüdische Nationalismus und der religiöse Fanatismus in den letzten Jahren zugenommen?
Zuckermann: Und wie! Und wie, das sehen Sie ja. Das sehen Sie auf allen Ebenen, und Sie sehen das vor allem, dass das, was ursprünglich irgendwie außerparlamentarisch an Problemen war, mittlerweile parlamentarisch und bis tief in die Regierung. Sie müssen ja auch bedenken, was ...
Kaess: Ist die Regierung die einzige Schuldige dafür, oder sind das auch gesellschaftliche Entwicklungen, die dahinterstehen?
Zuckermann: Ja, natürlich ist eine Regierung nur ein Symptom, aber die Regierung ist nun mal das, was die Gesellschaft sich wählt. Und von daher können wir jetzt anfangen, über die Gesellschaft zu reden, und da muss man wirklich seit vielen, vielen Jahren einen Rechtsruck verzeichnen, der sowohl im Sozialen, im Ökonomischen als auch vor allem in der politischen Position sich sehr, sehr bemerkbar gemacht hat. Aber verstehen Sie, das kann man nicht auseinanderhalten. Diejenigen, die die Regierung wählen, ist die Gesellschaft, aber die Gesellschaft ist beeinflusst von dem, was die Regierung an Politik betreibt.
Kaess: Sagt Moshe Zuckermann, Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Danke für dieses Gespräch heute Morgen!
Zuckermann: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.