Geldpolitik
Wie die Europäische Zentralbank gegen die Inflation vorgeht

Stabile und verlässliche Preise sind eine der Grundbedingungen für eine funktionierende Wirtschaft. Eine Institution, die die Geldpolitik stark beeinflusst, ist die Europäische Zentralbank. Ihre Hauptwaffe: der Leitzins. Wird er weiter gesenkt?

    Vor einem Bürohaus steht eine Skulptur in Form eines Euro-Zeichens. Um dieses herum sind gelbe Sterne. Es steht vor der  Zentrale der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main.
    Zuerst zu zögerlich und dann zu früh gehandelt? Kritiker werfen der Europäischen Zentralbank eine falsche Zinspolitik vor. (picture alliance / dpa / Daniel Kalker)
    Unser aller Wohlstand hängt vor allem davon ab, dass die Wirtschaft brummt. Um sie am Laufen zu halten, ist eine kluge Wirtschafts- und Geldpolitik vonnöten, die von Regierungen, aber auch von Institutionen wie der Europäischen Zentralbank betrieben wird.
    Die EZB hat vor allem die Geldentwertung – also die Inflation – im Blick. Über ihren Leitzins kann sie diese beeinflussen. Zuletzt senkte sie den Leitzins leicht, was die Hoffnung auf günstigere Kredite und mehr Wirtschaftswachstum in Europa nährte.
    Doch die Inflation liegt immer noch über der Zielmarke der EZB – ob der Leitzins weiter runtergeht, ist deswegen unklar. Wie die EZB arbeitet – ein Überblick.

    Inhalt

    Was sind die Aufgaben der EZB?

    Die Hauptaufgabe der Europäischen Zentralbank ist, für Preisstabilität zu sorgen. „Dies tun wir, indem wir dafür sorgen, dass die Inflation niedrig, stabil und vorhersehbar bleibt“, schreibt die EZB auf ihrer Webseite.
    Preisstabilität heißt für EZB und andere Zentralbanken, dass die Verbraucherpreise nicht mehr als zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr steigen. Grundsätzliches Ziel ist es, sowohl stark steigende als auch stark fallende Preise zu verhindern. Beides ist schlecht für die wirtschaftliche Dynamik und kann den Wirtschaftskreislauf erheblich stören.
    Eine weitere Aufgabe der EZB ist, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union zu stärken. Über ihren Leitzins kann die Bank dafür sorgen, dass Unternehmen durch gute Kreditkonditionen besser und günstiger an Geld kommen und so mehr Spielraum für Investitionen haben. Das stand über Jahre im Mittelpunkt der Arbeit der EZB, die die Zinsen bei null Prozent gehalten hatte, um Wirtschaftswachstum zu generieren.
    Außerdem hatten die Zentralbanker aus Frankfurt am Main durch Anleihekäufe von Staaten und Firmen viel zusätzliches Geld in die Finanzmärkte gepumpt. Das sollte die Wirtschaft des Euro-Raumes stimulieren. Dieser war infolge der Finanzkrise 2007 und der Euro-Krise im Jahr 2009 in Bedrängnis geraten.
    Der Ankauf von Anleihen ist allerdings ein Politikum. Kritiker sehen darin eine unerlaubte Staatsfinanzierung. Vor vier Jahren hat das Bundesverfassungsgericht ein 2015 aufgelegtes Programm der EZB zum Erwerb von Anleihen als verfassungswidrig eingestuft.

    Der Leitzins und seine Wirkung

    In den vergangenen Jahren lag die Inflation teils deutlich über dem von der Europäischen Zentralbank angestrebten Zielwert von rund zwei Prozent. Die Preisstabilität, Hauptaufgabe der EZB, war dammit nicht gewährleistet. Den Leitzins anzuheben ist in wirtschaftswissenschaftlichen Theorien eine mögliche Maßnahme, um die Inflation einzudämmen. Dahinter steht die Idee, dass höhere Zinsen die Nachfrage dämpfen. Weil Firmen trotzdem ihre Produkte verkaufen wollen, senken sie die Preise.
    Der Leitzins beschreibt den Zinssatz für das Hauptrefinanzierungsgeschäft – also wie viel Zinsen Geschäftsbanken zahlen müssen, wenn sie sich von der EZB Geld leihen. Wenn sie weniger zahlen müssen, können sie selbst auch günstigere Kredite gewähren.
    Sinkende Leitzinsen haben deswegen zwei Folgen. Zum einen werden Kredite für Unternehmen und Verbraucher billiger, etwa wenn sie investieren oder bauen wollen. Zum anderen wird Sparen für Verbraucherinnen und Verbraucher tendenziell unattraktiver, weil die Sparzinsen ebenfalls sinken. Theoretisch fließt dann mehr Geld in den Konsum.

    Lange lag der Leitzins bei null Prozent

    Wie andere Zentralbanken auf der Welt hat auch die EZB in der Inflationsphase nach der Coronapandemie und den gestiegenen Energiepreisen den Leitzins angehoben.
    Betrug der EZB-Leitzins seit März 2016 null Prozent, so wurden ab Herbst 2022 die Zinsen erhöht und erreichten im September 2023 einen vorläufigen Hochstand mit 4,5 Prozent. Im Juni 2024 entschlossen sich die Frankfurter Notenbanker zu einer Wende und senkten den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte auf 4,25 Prozent ab.
    Doch noch immer ist die Inflation nicht unter die Zwei-Prozent-Marke gefallen; im Juli lag sie im Euro-Raum bei 2,6 Prozent. Es herrscht also – nach den Kriterien der EZB – weiterhin keine Preisstabilität. „Wir haben große Fortschritte gemacht, aber unser Kampf gegen die Inflation ist noch nicht vorbei“, unterstreicht EZB-Präsidentin Christine Lagarde.

    Zinsen senken: Das spricht dafür

    Zum einen spricht für eine erneute Zinssenkung, dass die Inflation im Euro-Raum seit November 2023 gesunken ist. Bis Anfang des laufenden Jahres hatte die Teuerung weiter nachgelassen - auf Werte in Richtung drei Prozent und darunter. Das ist nicht weit entfernt vom EZB-Inflationsziel von zwei Prozent.
    Ein Grund für den Rückgang der Inflation wird in den im Vergleich mit den Vorjahren hohen Zinsen gesehen. Diese hätten ihre Wirkung entfaltet und zu einem Nachlassen des Inflationsdrucks geführt, betonte EZB-Präsidentin Christine Lagarde.
    Auch eine weitere Entwicklung spricht für die Zinssenkung: die schwache Konjunktur. Denn Kredite mit hohen Zinsen verteuern Investitionen. Es gibt bereits Anzeichen, dass durch die jüngste Zinssenkung Anreize für die Wirtschaft gesetzt wurden. So stieg die Nachfrage nach Krediten, wie eine Umfrage der EZB bei den Geschäftsbanken ergab. In der Regel bedeutet das, dass mehr investiert wird. Man kann also von einem positiven Impuls für die Wirtschaft sprechen, den die EZB gesetzt hat.
    Davon könnte in Deutschland unter anderem die Bauwirtschaft profitieren. Die Branche hatte sich – auch wegen hoher Bau- und Finanzierungskosten – schwach entwickelt. „2025 wird – auch dank der fallenden Zinsen – der Bausektor in Deutschland wieder anziehen“, prognostiziert Robin Winkler, Chefvolkswirt für Deutschland bei der Deutschen Bank.

    Zinsen senken: Das spricht dagegen

    Gegen eine weitere Zinssenkung spricht, dass die Inflation noch immer über der Zielmarke der Europäischen Zentralbank von rund zwei Prozent liegt. Vor allem bei den Dienstleistungen sind die Preise im Vergleich zu Energiekosten oder Lebensmitteln noch hoch. Deswegen gibt es Kritiker, die der EZB vorwerfen, zu früh die Zinsen gesenkt zu haben.

    Gewöhnung an dauerhaft hohe Preise

    Durch dauerhaft hohe Preisen kann es zu einer Gewöhnung kommen, wie EZB-Chefin Christine Lagarde warnt: „Das würde bedeuten, dass sich Unternehmen bei der Festlegung ihrer Preise und Arbeitnehmer bei Gehaltsverhandlungen darauf berufen.“ Und das könne wiederum dazu führen, dass „sich die hohe Inflation auf Dauer in der Wirtschaft“ festsetzt, warnt die Bankerin.
    Auch wer Geld zurücklegen will, ist von fallenden Zinsen betroffen. Diese sorgen tendenziell dafür, dass es für Verbraucherinnen und Verbraucher unattraktiver wird zu sparen, weil die Sparzinsen sinken. In der Realität dürfte sich das allerdings nur geringfügig auswirken, meint Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Institutes für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

    Prognose: Die Zinsen werden weiter fallen

    Was die EZB künftig tun wird, kann nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. Doch Beobachter sehen derzeit eine Tendenz: Die von EZB-Direktorin Christine Lagarde eingeleitete Zinswende wird weitergeführt. Allerdings nicht geradlinig, sondern – Lagarde nutzt das Bild einer Straße – steinig und holprig. Grund dafür sind die anhaltenden Preissteigerungen bei Dienstleistungen. Dort liegt die Inflation noch immer bei mehr als vier Prozent. Diese Entwicklung werde genau beobachtet, unterstrich Lagarde bei einer Notenbankkonferenz im portugiesischen Sintra im Juli.

    Warum es keinen Zins-Autopiloten gibt

    Volkswirte wie etwa Jörg Krämer von der Commerzbank vermuten dennoch, dass die Europäische Zentralbank bereits im September die Zinsen erneut senken könnte. Das Lager derjenigen, die die Zinsen weiter senken wollen, sei sehr groß, sagt der Banker. „Solange die Inflationszahlen halbwegs hinkommen“, werde die EZB wohl weiter runtergehen.
    Aus der EZB gibt es indes andere Stimmen. Bundesbank-Präsident Joachim Nagel, der im EZB-Rat über die Geldpolitik mitentscheidet, hatte betont, aus einer ersten Zinssenkung könne man keine "Art Autopilot" ableiten. Man dürfe nichts überstürzen.
    Auch EZB-Chefvolkswirt Philip R. Lane vertrat in einem Interview mit der britischen Wirtschaftszeitung "Financial Times" die Auffassung, die EZB-Geldpolitik müsse trotz absehbarer Lockerungen "das ganze Jahr über restriktiv", der Leitzins also unverändert bleiben. Im kommenden Jahr sehe es dann vermutlich etwas anders aus – unter der Bedingung, dass die Inflation in den Zielbereich der EZB sinke, so Lane.

    Mischa Ehrhardt, rzr