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EZB-Urteil des Verfassungsgerichts
Ein Erdbeben, ausgelöst in Karlsruhe

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank hat Schockwellen ausgelöst, die noch lange spürbar sein werden. Während das Urteil unter Ökonomen umstritten ist, kämpft die EU bereits gegen seine politischen Folgen an.

Von Caspar Dohmen und Peter Kapern |
Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht, setzt nach der Urteilsverkündung des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) am 05.05.2020 seine Kopfbedeckung auf.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat zu einem Kompetenzstreit zwischen Karlruhe und dem Europäischen Gerichtshof geführt (dpa / Sebastian Gollnow)
Eine stellvertretende Präsidentin des Europaparlaments zerbricht sich den Kopf darüber, ob das Karlsruher Urteil ein Sargnagel für die EU sein könnte. Katarina Barley von der SPD: "Ich habe viele solche Reaktionen bekommen, bis hin zu Kommissaren, die mir das geschrieben haben."
Einen Ökonomen in Brüssel erfasst beim Lesen des Urteils blankes Entsetzen. Guntram Wolff, Chef der Brüsseler Denkfabrik Bruegel: "Wie die meisten Wissenschaftler, die an Europa und über Europa arbeiten, war ich natürlich geschockt über den Stil und die Schärfe des Urteils."
Und ein alter EU-Fahrensmann sorgt sich sogar um den Frieden in Europa. Elmar Brok, 39 Jahre lang CDU-Europaabgeordneter: "Als ich vom Karlsruher Urteil gehört habe, musste ich an Bismarck denken, der gesagt hat: "Deutschland ist zu klein für die Vorherrschaft in Europa und zu groß für die Balance." Zwei Mal haben wir das im vergangenen Jahrhundert nicht beachtet. Die Katastrophen sind bekannt. Die EU hat Deutschland diese Balance verliehen. Und ausgerechnet Deutschland, oder sogar das Bundesverfassungsgericht, zerstört jetzt diese Balance, durch ein Urteil, das die europäische Rechtsordnung zerstört."
PSPP: Marode Staaten mit billigem Geld versorgen
Das Karlsruher Urteil hat Schockwellen ausgelöst, die noch lange spürbar sein werden. PSPP – Public Sector Purchase Program: Hinter diesem technisch klingenden Namen verbirgt sich ein Anleihekaufprogramm der EZB. In dessen Rahmen hat die Europäische Zentralbank seit 2015 für mehr als zwei Billionen Euro Staatsanleihen der Euroländer gekauft.
Das Ziel: Die Erhöhung der Inflationsrate. PSPP war nicht das erste Anleihe-Ankaufprogramm der EZB. Und wie seine Vorgänger zog auch PSPP scharfe Kritik auf sich. Dessen wahres Ziel sei es, schlecht wirtschaftende Staaten mit billigem Geld zu versorgen. Und diese Staatsfinanzierung sei laut EU-Vertrag verboten. Mehrfach zogen die Kritiker vor das Bundesverfassungsgericht. Und in der vergangenen Woche bekamen sie dann Recht. Wenn auch nicht so, wie sie es sich gewünscht hatten.
Der Turm der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main
Was Sie über den Kauf von Staatsanleihen wissen müssen
Das Bundesverfassungsgericht hat das Anleihekaufprogramm der EZB namens PSPP für teilweise verfassungswidrig befunden. Das aktuelle Corona-Programm der Notenbank bleibt davon aber unberührt. Ein Überblick.
Bei PSPP, so der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, handele es sich nicht um verbotene Staatsfinanzierung. Das Ankaufprogramm sei aber dennoch grundgesetzwidrig. Weil die EZB keine Folgenabschätzung ihrer Ankaufpolitik vorgelegt habe. Also: Die Zentralbanker hätten nicht öffentlich dargelegt, ob der Erwerb von Staatsanleihen, selbst wenn er geldpolitisch sein Ziel erreichen würde, wirtschaftspolitisch möglicherweise unverhältnismäßige Nachteile mit sich bringen könnte.
Mit ihrem Urteil haben sich die Karlsruher Richter auf das Terrain der Wirtschaftswissenschaften begeben. Und dort haben sie kein gutes Bild abgegeben. Besonders beim Versuch, Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung von Anleiheankaufprogrammen zu definieren. Im Urteilstext werden unter anderem negative Folgen für die Sparguthaben, die Altersvorsorge und die Immobilienpreise genannt, ausgelöst durch das Zinsniveau, das die EZB auch durch die Anleihekäufe niedrig hält. Guntram Wolff:
Urteil einseitig bei den ökonomischen Argumenten
"Diese Kriterien sind Kriterien, die Verhältnismäßigkeit definieren nach deutschem Interesse. Und nicht nach dem Interesse von ganz Deutschland, sondern von dem von bestimmten Interessensgruppen in Deutschland, insbesondere der Sparer in Deutschland und der Finanzindustrie, die mit diesem Geld arbeitet."
Ansicht vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit einer deutschen und einer europäischen Flagge
Im Spannungsfeld zwischen Europarecht und Grundgesetz: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (imago / Rainer Unkel)
Keine Erwähnung finden im Karlsruher Urteil die Folgen der EZB-Anleihekäufe, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen EU-Mitgliedstaaten als Erfolg verbucht werden: Günstige Zinsen für die Refinanzierung von Start-Up-Unternehmen etwa oder die generelle Sicherung von Arbeitsplätzen, die viele Ökonomen herausstreichen. Diese Einseitigkeit der ökonomischen Argumentation der Karlsruher Richter ist für Guntram Wolff ein zwangsläufiges Ergebnis der Auswahl jener zehn Experten, die vom Verfassungsgericht angehört worden waren:
"Von diesen zehn Experten sind fünf Experten der verschiedenen Verbände der deutschen Finanzindustrie. Also im Prinzip Lobbyisten der deutschen Finanzindustrie."
Und so kommt es eben, dass das Narrativ vom deutschen Sparer, der das Opfer der EZB-Politik sei, einen zentralen Stellenwert im Karlsruher Urteil einnimmt. Ein Narrativ, zu dem die deutsche Finanzindustrie auch vorher erheblich beigetragen hat. Regelmäßig meldete sich etwa das genossenschaftliche Spitzeninstitut - die DZ Bank - zu Wort und berechnete die Zinseinbußen für den deutschen Sparer. Von 2008 bis 2018 hätten die Zinseinbußen 648 Milliarden Euro betragen. Als normal wurde das Zinsniveau der Vorkrisenzeit angesetzt. Was aber normal ist und was außergewöhnlich, wurde bei solchen Gelegenheiten nicht thematisiert.
Die Sache mit den Zinsen und den Sparern
Natürlich erhalten Sparer seit der Finanzkrise 2008 deutlich weniger Zinsen, bisweilen sogar gar keine oder negative Nominalzinsen. Aussagekräftig sind aber nur die realen Zinsen, also die nominalen Zinsen abzüglich der Inflation, was in der Debatte oft untergeht. Der Ökonom Peter Bofinger:
"Das Problem ist, die meisten Menschen leiden unter dem, was wir Ökonomen als Geldillusion bezeichnen. Das heißt, sie berücksichtigen bei den Zahlungen, die sie machen, bei den Zahlungen, die sie bekommen, berücksichtigen sie die Inflationsrate nicht."
Manches wird so verklärt. Tatsächlich betrug in der Zeit von 1967 bis 1998 – als noch die Bundesbank geldpolitisch Regie in Deutschland führte – der Realzins auf Sparguthaben null. Seitdem ist es nur marginal weniger geworden.
Erschrocken ist Bofinger über den einseitigen Blick der deutschen Verfassungsrichter bei dem EZB-Urteil.
"Nur auf den Sparer zu schauen, wie das Verfassungsgericht es macht, das ist eben leider Stammtischniveau."
Ein Stapel von Euromünzen.
Negativ-Zins - "Die Konsumnachfrage ist nicht zu niedrig"
Was die EZB mit der aktuellen Geldpolitik erreichen wolle, sei nicht klar, sagte der Finanzwissenschaftler Aloys Prinz im Dlf. Der Versuch, durch Negativzins mehr private Investitionen und mehr Konsum zu generieren, laufe ins Leere.
Schließlich sind wir nicht nur Sparer, sondern auch Kreditnehmer, Beschäftigte, Steuerzahler, Rentner oder Aktionäre. Wer wissen will, wie sich die Geldpolitik der EZB auf uns auswirkt, darf deswegen nicht isoliert auf Sparkonten schauen. Wer eine gesetzliche Rente bezieht, gehörte etwa in den vergangenen Jahren zu den Profiteuren der EZB-Geldpolitik, weil diese eine Ursache des Aufschwungs war, der zu steigenden Löhnen und damit steigenden Renten in Deutschland führte. Wer einen Kredit aufnimmt, profitiert ebenfalls von niedrigen Zinsen. Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft:
"Wir haben natürlich diesen Effekt auf die Sparer, wir haben aber auch den Effekt auf den Schuldner. Sie haben quasi einen Umverteilungseffekt von den Älteren zugunsten der Jüngeren, die eher Nettoschulden im Haushalt haben, Wohneigentum erwerben und ähnliches. Wir haben einen Impuls in die Europäische Union hinein. Wir haben den europäischen Binnenmarkt auch dadurch stabilisiert und seine Funktionsfähigkeit gestärkt."
Stimulierte Wirtschaft in der Eurozone
Die EZB stabilisierte und stimulierte mit ihrer Geldpolitik die Wirtschaft in der Eurozone, was gerade für deutsche Unternehmen wichtig ist – sie verkaufen dorthin einen gehörigen Teil ihrer Produkte. In Deutschland entstanden deswegen mehr Jobs, stiegen die Löhne und infolgedessen auch die Geldvermögen. Trotz anhaltend niedriger Zinsen sind die Geldvermögen der Deutschen in den vergangenen vier Jahren im Schnitt um 4,3 Prozent gestiegen. Als Hauptgrund dafür nennt das Institut der deutschen Wirtschaft in einer aktuellen Studie die geringe Arbeitslosigkeit. Sie sei ein wichtiger Faktor für die Vermögensbildung.
"Die meisten Sparer bauen ihr Vermögen (eben) nicht über Zinsen auf, sondern über ihr Arbeitseinkommen. Für die Vermögensbildung ist daher eine gesunde Konjunktur wichtiger als ein hoher Zins."
Die Niedrigzinsen resultieren nach Ansicht vieler Ökonomen auch keinesfalls einzig aus der Zinspolitik der Notenbanken, sondern auch aus strukturellen Veränderungen. Dazu zählt das veränderte Spar- und Investitionsverhalten. Denn in alternden Gesellschaften sparen die Menschen mehr. Weil aber reife Industriegesellschaften weniger wachsen und die Transformation in die digitale Wirtschaft vergleichsweise wenig Kapital benötigt, sinkt die Nachfrage nach Spargeldern und damit auch dessen Preis, der Zins. Der Ökonom Michael Hüther:
"Das heißt, von beiden Seiten des Kapitalmarktes gibt es einen Druck auf das Realzinsniveau."
Niedrigzinsen könnten vom Staat kompensiert werden
Der Zinsschwund setzte in den Industrieländern schon vor Jahrzehnten ein – also lange vor der Finanzkrise von 2008, zu deren Bekämpfung die EZB ihre umstrittene Lockerung der Geldpolitik startete. Aber das bedeutet nicht, dass Sparer bis zum Sankt Nimmerleinstag keine Zinsen mehr erhalten. Helfen könnte der deutsche Staat. Peter Bofinger:
"Man hätte ja die Niedrigzinsen, wenn man das als Problem sieht, als deutscher Staat locker kompensieren können. Man hätte einfach nur Anleihen ausgeben müssen, mit einer positiven Verzinsung, sagen wir von zwei Prozent, und man hätte dann sagen können, diese Anleihen sind jetzt speziell für Menschen, die für Altersvorsorge sparen."
Die EZB und ihre Unabhängigkeit
Unter Ökonomen – so viel steht fest - wird das Urteil des Verfassungsgerichts also umstritten bleiben. Aber die Politik muss jetzt einen pragmatischen Umgang damit finden, damit die Bedingungen, die Karlsruhe für die Fortsetzung des Anleihekaufprogramms PSPP unter Beteiligung der Bundesbank formuliert hat, erfüllt werden können. "Wir verlangen von der EZB, dass sie vor der Öffentlichkeit ihre Verantwortung übernimmt und auch begründet", so hat es der als Berichterstatter an dem Karlsruher Urteil beteiligte Verfassungsrichter Peter Michael Huber dieser Tage in einem Zeitungsinterview gesagt. Und die Pflicht der Bundesregierung und des Bundestags ist es dem Urteil zufolge, bei der EZB darauf hinzuwirken, dass sie der Aufforderung des Gerichts Folge leistet. Guntram Wolff vom Thinktank Bruegel:
"Damit müsste sich die Bundesregierung direkt an die Europäische Zentralbank wenden. Und das würde natürlich die Unabhängigkeit dieser Zentralbank unterminieren."
Der EZB ist es nämlich laut Artikel 130 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU ausdrücklich untersagt, Weisungen von anderen EU-Institutionen oder von nationalen Regierungen entgegenzunehmen. Und selbst wenn die EZB ohne förmliche Aufforderung aus Berlin künftig Folgenabschätzungen veröffentlichte, würde dies nach dem Karlsruher Urteil ihre Unabhängigkeit in Zweifel ziehen.
Deshalb fällt der Blick derzeit auf die Bundesbank, die Mitglied des ESZB, des Europäischen Systems der Zentralbanken ist. Guntram Wolff setzt darauf, dass die deutsche Notenbank, die ebenfalls unter dem Schirm des Unabhängigkeitspassus der EU-Verträge steht, von sich aus leistet, was Karlsruhe verlangt:
"Ich hoffe sehr, dass die Bundesbank als Teil des Eurosystems versteht, worum es geht, und tatsächlich auch plausible Erklärungen dafür liefert, warum das Ankaufen von Staatsanleihen absolut gerechtfertigt ist und auch verhältnismäßig ist nach den europäischen Verträgen."
Ein Konflikt zwischen zwei Gerichten
Selbst wenn dieser Balanceakt gelingen sollte, bleibt der weit größere Konflikt, der mit dem Karlsruher Urteil verbunden ist, ungelöst: Das ist der Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof. Beide beanspruchen für sich, die letzte Instanz bei der Auslegung des Europarechts zu sein. Wer hat Recht? René Repasi, Europarechtler an der Erasmus-Universität in Rotterdam:
"Beide Seiten haben Recht. Das ist das Problem."
In Artikel 19 des EU-Vertrags ist festgelegt, dass der Europäische Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sichert. 1964 begründeten die Luxemburger Richter im Urteil zum Fall Costa gegen Enel zudem, warum das Europarecht Vorrang vor dem nationalen Recht habe. Dieses Urteil zählt, nachdem es in einer Erklärung dem EU-Vertrag hinzugefügt worden ist, als kodifiziertes Recht, also als Teil der Verträge. Das Ergebnis ist der Anspruch des EuGH, das letzte Wort in europarechtlichen Fragen zu haben. René Repasi:
"Die EU ist kein Superstaat, sie hat aber eine eigene Rechtsquelle. In den Verträgen steht drin, der EuGH ist die letzte Instanz, die sagt: 'So ist das Europarecht zu verstehen, so weit geht es!'"
Ein Gordischer Knoten
Genau dieses Recht beansprucht aber auch das Bundesverfassungsgericht für sich. Jedenfalls in bestimmten Fällen. Nämlich immer dann, wenn europäische Institutionen mit ihren Entscheidungen ,,ultra vires", also über den Kompetenzrahmen hinausgreifen, den ihnen die Mitgliedstaaten als ihre Schöpfer zugewiesen haben.
Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht, verlässt nach der Urteilsverkündung des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) den Sitzungssaal. Voßkuhles Amtszeit endet am 6. Mai 2020.
Senatsvorsitzender Andreas Voßhuhle nach dem Urteil zum Anleihenkaufprogramm der EZB (dpa / Sebastian Gollnow)
"Sie haben der EU ursprünglich mal das Leben eingehaucht, wenn jetzt die Europäische Union aber über das hinausgeht, was die nationalen Parlamente ihr erlaubt haben, dann greifen sie in den Raum der Mitgliedstaaten über. Und da sagt dann die nationale Seite: 'Das dürft ihr nicht! Wir haben euch das Leben eingehaucht, deswegen sagen wir auch, wie weit es gehen darf!'"
Das Fazit des Rechtswissenschaftlers René Repasi lässt nicht auf eine baldige Beilegung des höchstrichterlichen Kompetenzstreits hoffen.
"Deswegen stehen sich jetzt hier zwei Positionen gegenüber, die beide berechtigt sind, die beide im Kern nachzuvollziehen sind, und, wenn sie in Konflikt zueinander treten, unlösbar sind. Ein klassischer Gordischer Knoten."
Das Bundesverfassungsgericht will diesen Knoten durchtrennen - durch eine neue juristische Dialogkultur der höchsten europäischen Gerichte. Es sieht den Kompetenzstreit zwischen Karlsruhe und Luxemburg als dialektisches Verfahren, das in einem europäischen Gerichtsverbund verstetigt werden sollte. So Verfassungsrichter Peter Michael Huber in der Süddeutschen Zeitung. Er schlägt die Einrichtung eines formellen Vermittlungsverfahrens zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten vor. Oder ein umgekehrtes Vorlageverfahren, bei dem die Luxemburger Richter vor einer Entscheidung bei den nationalen Gerichten nachfragen müssen, ob sie Einwände haben. Kaum vorstellbar, dass so eine Lösung in Luxemburg oder Brüssel Akzeptanz findet.
Eine Erosion europäischen Rechtsordnung?
Unterdessen kämpft die EU gegen die politischen Folgen des Karlsruher Urteils. Katarina Barley sah schon Stunden nach der Urteilsverkündung eine Erosion des rechtlichen Fundaments der EU. Denn die polnische Regierungspartei PiS, die mit den europäischen Institutionen seit Jahren in einen Konflikt um die Demontage des polnischen Rechtsstaats verstrickt ist, geriet unmittelbar nach dem Urteilsspruch in Partylaune. "Eines der schönsten Urteile der EU-Geschichte", so Regierungsschef Mateus Morawieczki. Und Katarina Barley, früher Justizministerin und heute Vizepräsidentin des Europaparlaments, fürchtet:
"Die holen sich die Textbausteine raus aus dem Urteil, die ihnen in den Kram passen und werden so ihre Propaganda weiterfahren."
Der CDU-Politiker Norbert Röttgen kandidiert für den Vorsitz seiner Partei. Er erläutert seine Bewerbung in der Bundespressekonferenz in Berlin.
Röttgen (CDU) - „Verfassungsgericht hat EU in einen unlösbaren Konflikt geführt"
Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit seinem EZB-Urteil über den Europäischen Gerichtshof hinweggesetzt. Das habe Deutschland und die EU in eine Sackgasse geführt, sagte Norbert Röttgen (CDU) im Dlf.
Was also kann die EU unternehmen, um zu verhindern, dass sich nach Polen auch noch Ungarn und möglicherweise immer mehr EU-Staaten unter Berufung auf das Karlsruher Urteil gegen die Rechtsprechung des EuGH wenden, Urteile aus Luxemburg einfach ignorieren und so das Fundament zerstören, auf dem die EU errichtet wurde: die gemeinsame Rechtsordnung?
"Wenn die EU ihre Bindungskraft behalten möchte, muss der EuGH mit allem was sie hat geschützt werden."
Sagt der Rechtswissenschaftler René Repasi. Und das schärfste Schwert ist das Vertragsverletzungsverfahren. Die EU-Kommission erwägt die Einleitung eines solchen Verfahrens. Keine schlechte Überlegung, sagt Repasi. Schließlich ermögliche es ein solches Verfahren in der Anfangsphase, in dem lediglich Schriftsätze zwischen der Kommission und der Bundesregierung ausgetauscht werden, den Konflikt elegant zu den Akten zu legen. Also eine politische Verständigung dort zu finden, wo eine rechtliche ausgeschlossen scheint.
Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht
Katarina Barley hingegen hat Zweifel, ob ein solches politisches Appeasement tatsächlich dem Kompetenzstreit zwischen Karlsruhe und Luxemburg die Sprenggraft nehmen kann. Sie ist dafür, ein Vertragsverletzungsverfahren bis zum prozeduralen Ende, also bis zu einem Urteil des EuGH durchzuziehen. Und da sie vermutet, dass auch dieses Urteil kein Ergebnis bringt, das in Karlsruhe akzeptiert würde, zieht sie noch eine weitere Lösung in Betracht.
"Das Problem ist: Solange das Ganze in diesem Bereich bleibt, dass das die Gerichte sich gegenseitig streitig machen, kommen wir da vielleicht gar nicht zu einem Ende. Vielleicht müssen wir tatsächlich auch über eine Grundgesetzänderung nachdenken."
Die dann den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht festschreibt. Aber selbst für diesen Fall scheint Karlsruhe vorgebaut zu haben. Das Verfassungsgericht leitet sein EZB-Urteil nämlich aus dem Demokratiegebot in Artikel 20 des Grundgesetzes ab. Und dieser Artikel darf nicht geändert oder eingeschränkt werden. Eine Grundgesetzänderung zur Klärung des Kompetenzstreits würde also wieder in Karlsruhe landen. Und wie dort entschieden würde, lässt sich seit der letzten Woche wohl begründet vermuten.