Lindner merkte an, dass sich EZB-Chef Draghi, wie von den Richtern bestätigt, innerhalb seines Mandats bewegt. "Die eigentlichen Probleme liegen heute auf anderer Ebene, nämlich, dass es eine große Reformabstinenz gibt", sagte der FDP-Vorsitzende im Deutschlandfunk. Draghi sei mit der EZB in die Bresche gesprungen und habe versucht, der Politik Zeit zu kaufen.
Lindner forderte die deutsche Regierung auf, die Probleme auf europäischer Ebene anzusprechen: "Es kann nicht sein, dass der Stabilitätspakt letztlich unverbindlichen Charakter hat." Deutschland müsse zeigen, dass es wieder für Stabilitätspolitik stehe.
Draghi sei nicht der Schuldige, die Verantwortung liege bei den Regierungen, betonte der FDP-Vorsitzende. Der EZB-Chef habe versucht, die Konjunktur zu stützen. "Das ist ein ehrenwertes Motiv, aber am Ende nicht erfolgreich. Denn ohne dass es strukturelle Reformen gibt, kann die Euro-Krise nicht abgewendet werden."
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Was ist damals, als dieses Verfahren vor dreieinhalb Jahren startete, nicht alles prognostiziert und schwarzgemalt worden. Das kommende Urteil werde der EZB-Politik zur Rettung des Euros einen Riegel vorschieben. Die Schuldenkrise werde mit Macht zurückkehren und Euroland unter den aufgetürmten Schuldenbergen begraben. Oder auch: Deutschland würde vor der Haftung für Billionen Schulden anderer Länder endlich höchstrichterlich bewahrt. Das alles war damals zu hören, als der CSU-Chefankläger Peter Gauweiler gemeinsam mit ein paar anderen Politikern, einer Handvoll Professoren und Unterstützung von ein paar tausend Deutschen vor das Bundesverfassungsgericht zog, um Mario Draghis OMT-Programm, das unbegrenzte Programm zum Aufkauf von Staatsanleihen zu Fall zu bringen. Gestern dann ein ziemlich unspektakuläres Ende eines spektakulären Prozesses. Das Bundesverfassungsgericht schloss sich der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs an. Draghis OMT ist rechtens, solange er einige Leitplanken beachtet.
Bei uns am Telefon Christian Lindner, der Vorsitzende der FDP. Guten Morgen, Herr Lindner!
Christian Lindner: Guten Morgen, Herr Kapern.
Kapern: Herr Lindner, wie bewerten Sie das Urteil aus Karlsruhe, als verfassungsrechtliche Seligsprechung Mario Draghis?
Lindner: Nein! Aber das Urteil bestätigt unserer Auffassung nach, dass man sich mit Herrn Draghi und der Notenbankpolitik auf der politischen Ebene auseinandersetzen muss und nicht vor Gericht.
Kapern: Warum dies?
Lindner: Karlsruhe hat klar gesprochen, dass sich Herr Draghi im Rahmen seines Mandats bewegt. Es gibt, wie Sie eben in der Anmoderation gesagt haben, einige Leitplanken. Das OMT-Programm selbst ist ja, wie man auch den Hörerinnen und Hörern möglicherweise noch einmal in Erinnerung rufen muss, niemals eingesetzt worden, sondern es ist lediglich aus psychologischen Gründen seinerzeit geschaffen worden.
Die eigentlichen Probleme, die wir heute haben, liegen ja an anderer Stelle, nämlich dass es eine große Reformabstinenz in Europa gibt, und Herr Draghi ist in die Bresche gesprungen mit der EZB und versucht, der Politik Zeit zu kaufen durch eine Politik des günstigen Geldes, und genau hier liegen die Probleme und die muss man politisch adressieren. Es kann nicht dabei bleiben, dass es keinen Zinsunterschied in Europa gibt, egal ob ein Staat jetzt solide wirtschaftet oder nicht, und das muss die Bundesregierung gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen in Europa auf der Ebene des Europäischen Rates ansprechen. Es kann nicht dabei bleiben, dass der Stabilitätspakt letztlich einen unverbindlichen Charakter hat.
Kapern: Können wir festhalten die Schlagzeile, die dann in etwa lautet, FDP-Chef Lindner sagt, Mario Draghi hat in der Schuldenkrise alles richtig gemacht?
Lindner: Nein! Aber Herr Draghi ist nicht der Schuldige, sondern die Verantwortung liegt an anderer Stelle, wie ich gerade sagte, bei den Regierungen. Spätestens seit dem Herbst 2013 verfolgt ja auch die Bundesregierung in Deutschland keine Reformpolitik mehr. Das Stichwort hier, das Symbol hier wäre die Rente mit 63. Herr Draghi hat dann den Versuch unternommen, den Staaten durch eine sehr günstige Finanzierung die Möglichkeit zu schaffen, Reformen zu finanzieren. Er hat versucht, die Konjunktur zu stützen. Das ist ein ehrenwertes Motiv, aber am Ende nicht erfolgreich, denn ohne dass es strukturelle Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit gibt, kann die Eurokrise nicht abgewendet werden, kann sie nicht gelöst werden, und genau da liegt jetzt das Problem und die Verantwortung in Frankfurt bei Herrn Draghi.
"Die Lirafizierung des Euro muss gestoppt werden"
Kapern: Ist dann Mario Draghi auch nicht der Schuldige für die Niedrigzinspolitik, an der es derzeit in und aus Deutschland so heftige Kritik gibt?
Lindner: Auch von uns gibt es Kritik an der Niedrigzinspolitik. Er hat versucht, eine Medizin zu verordnen und die Dosis immer weiter zu erhöhen. Und die Politik von Herrn Draghi muss beendet werden, nicht weil sie nicht erfolgreich wäre. Die Politik von Herrn Draghi muss beendet werden, weil sie zu erfolgreich ist, denn wie ich eben schon sagte: Es gibt ja keinen Unterschied mehr zwischen einem Staat, der solide wirtschaftet, und einem, der nicht solide wirtschaftet. Es gibt keine Anreize dazu, Strukturreformen voranzutreiben und das Schuldenmachen zu beenden. Und die Dosierung jetzt noch weiter zu erhöhen, noch mehr von der Medizin zu verschreiben, jetzt nicht nur Staatsanleihen zu kaufen, sondern auch noch Unternehmensanleihen zu kaufen, massiv in den privaten Sektor einzusteigen, das wird das Problem nicht lösen. Oder um es in einem Satz zu sagen, Herr Kapern: Die Lirafizierung des Euro muss gestoppt werden, damit die Regierungen wieder Reformpolitik aufnehmen.
Kapern: Ein klasse Schlagwort, die Lirafizierung des Euro. Aber noch hat Mario Draghi sein Ziel, nämlich die Geldwertstabilität, ja nicht erreicht, denn die ist ja erst dann erreicht, wenn die Inflation nahe bei zwei Prozent liegt.
Lindner: Dann müsste er für mehr Inflation sorgen. Genau die haben wir ja nicht.
Kapern: Durch mehr Geld auf dem Markt!
Lindner: Ja! Das überzeugt mich aber nicht, dieses Rezept, sondern ich bin davon überzeugt, dass wir insgesamt wieder eine solide wirtschaftliche Situation in Europa brauchen, und die kann es nur geben, wenn Staaten wie Griechenland in der Lage sind, sich auch innerhalb der Maastricht-Kriterien zu bewegen. Das tun sie offensichtlich nicht und das kann man nicht auf Dauer über die Geldpolitik lösen.
Ich sehe da auch nicht das Mandat der EZB, die Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, sondern die Geldwertstabilität. Die EZB hat ein Inflationsziel von zwei Prozent, wir liegen darunter. Wir haben in der letzten Woche gesehen, dass deutsche Staatsanleihen sich negativ verzinsen. Oder um es anders zu sagen: Deutschland bekommt Geld dafür, dass es Schulden macht, und das ist pervers und genau diese Perversion zeigt an, dass es so nicht weitergehen kann.
Mein Appell ist, es muss zu einer Umkehr kommen, und die Umkehr muss zuerst von Regierungen vorgenommen werden. Am Zug ist die Bundesregierung mit einem doppelten Signal, das notwendig ist, an die Partner in der Eurogruppe, dass Deutschland weiter für die Stabilitätspolitik steht, oder - ich will es anders sagen, Herr Kapern - wieder für Stabilitätspolitik steht. Die ist verlassen worden. Und der dringende Appell an Herrn Draghi, der muss auch von der Bundesregierung kommen: Diese Niedrigzinspolitik inklusive des Ankaufs von Staatsanleihen kann nicht weiter fortgesetzt werden. Herr Draghi sollte die Märkte darauf vorbereiten, dass es in den nächsten Jahren auch wieder höhere Zinsen geben wird, die wir sehen werden.
"In Deutschland keine Reformpolitik mehr"
Kapern: Jetzt haben Sie gerade von der Bundesregierung das Signal verlangt, dass sie wieder für die Stabilitätspolitik stehe. Ich habe von Angela Merkel aber den Satz, dass sie nicht mehr für die Stabilitätspolitik steht, noch nicht gehört.
Lindner: Aber es zählen ja nicht nur Worte, sondern es zählen Taten. Wir haben in Deutschland erstens keine Reformpolitik mehr, sondern die Agenda 2010 wird abgewickelt - Stichwort Rentenpaket von Frau Nahles. Wir haben zweitens Äußerungen der Bundesregierung schon unmittelbar nach der Bundestagswahl 2013 gehört, man müsse - Zitat Gabriel - den Stabilitätspakt flexibler auslegen. Was das bedeutet, haben wir vor Kurzem gesehen. Obwohl einige Eurostaaten zu viele Schulden machen, gibt es keine Sanktionen. Grund: Da wird ja bald gewählt. Wahltermine sind plötzlich auch ein politisches Kriterium in der Währungspolitik.
"Aus Stabilitätspolitik ist Transferpolitik geworden"
Kapern: Das sind ja alles Punkte, die man doch eigentlich schon Jean-Claude Juncker, dem EU-Kommissionspräsidenten vorwerfen müsste. Der hat ja beispielsweise von dieser Rücksichtnahme auf Spanien und Portugal gesprochen.
Lindner: Ich stimme Ihnen zu. Das heißt aber nicht, dass die Bundesregierung das zu akzeptieren hat. Ich halte das für eine Form von währungspolitischem Opportunismus und der macht den Euro nicht stabil, sondern im Gegenteil weich.
Und zum dritten: Wir haben letztes Jahr im Deutschen Bundestag eine Entscheidung gesehen, dass Deutschland das dritte Griechenland-Rettungspaket gebilligt hat, ohne den Internationalen Währungsfonds, der nicht davon ausgeht, dass mit dieser Politik eine Schuldentragfähigkeit wiederhergestellt wird. Das heißt, mit dem dritten Griechenland-Rettungspaket wird jetzt wirklich zum ersten Mal - und die Entscheidung ist ja vor Kurzem auch noch mal bestätigt worden von Herrn Schäuble und anderen -, mit dem dritten Griechenland-Rettungspaket wird erstmals Geld ohne eine wirkliche Gegenleistung nach Athen überwiesen. Das heißt, damit wurde markiert der Eintritt der Stabilitätspolitik und der Währungsunion insgesamt in die Phase der Transfers.
Das hat sich verändert, aus der Stabilitätspolitik ist eine Transferpolitik geworden. Wir haben de facto eine Art Länderfinanzausgleich auf der europäischen Ebene bekommen, und auch das halte ich für falsch.
Kapern: Christian Lindner, der Vorsitzende der FDP, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Lindner, danke, dass Sie Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag!
Lindner: Ihnen auch, Herr Kapern! Tschüss!
Kapern: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.