Peter Kapern: Inflation, so heißt es ja immer, werde von uns Deutschen als zweitgrößtes Unglück nach einem Krieg betrachtet. Das liege daran, dass die Deutschen in den letzten 90 Jahren zweimal ihre gesamten Vermögen durch eine galoppierende Geldentwertung verloren haben. Mittlerweile taucht aber ein mindestens ebenso großes Schreckgespenst am Horizont auf, dessen desaströse Wirkung vergleichbar sein könnte: die Deflation nämlich, also das Sinken der Preise, was nicht zu einem Kaufrausch der Konsumenten, sondern zum exakten Gegenteil führen würde. Jedermann hat plötzlich einen Igel in der Tasche, weil er darauf setzt, dass die Preise noch weiter sinken. Die Folge wäre ein gravierender Wirtschaftseinbruch. Die Gefahr einer Deflation sehen allerdings nur wenige Experten und schon gar nicht EZB-Chef Mario Draghi, der heute mit dem EZB-Rat über die Zinsen im Euro-Raum berät. Zu den wenigen Rufern in der Wüste zählt allerdings das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, und dessen Präsident Marcel Fratzscher ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen.
Marcel Fratzscher: Guten Morgen.
"Die Wahrscheinlichkeit ist sicherlich nicht 90 Prozent"
Kapern: Herr Fratzscher, die Inflation ist so niedrig, wie seit vier Jahren nicht mehr, weit niedriger, als dies die EZB in ihrem Zielkatalog hat. In Spanien ist bereits die Rede von Deflation. Wie groß ist die Gefahr, dass diese Deflation den gesamten Euro-Raum ergreift?
Fratzscher: Die gegenwärtige Inflationsrate liegt bei 0,5 Prozent, ganz deutlich unter dem Ziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent. Das ist ja auch immer nur eine Zahl oder ein Index, ein Durchschnitt, und wir wissen, dass mittlerweile über ein Drittel der Güter und Dienstleistungen in Spanien, Frankreich, Italien fallen. Die Wahrscheinlichkeit ist sicherlich nicht 90 Prozent oder 80 Prozent, sondern es ist wahrscheinlich immer noch eine relativ geringe Wahrscheinlichkeit, vielleicht 20 Prozent, sagen manche wissenschaftliche Studien. Trotzdem ist das Risiko, die Wahrscheinlichkeit zwar gering, aber die Kosten so enorm hoch, dass es durchaus Sinn machen könnte, sich gegen dieses Risiko zu versichern und im Prinzip wie eine Versicherung zu kaufen.
Kapern: Ich habe ja eben versucht anzudeuten, was eine Deflation in Deutschland, im Euro-Raum bedeuten würde. Wie genau schätzen Sie die Folgen ein? Was genau würde da passieren?
Fratzscher: Das große Risiko einer Deflation ist, dass Unternehmen anfangen, zu warten oder zu erwarten, dass die Preise in der Zukunft fallen. Das macht es für ein Unternehmen unheimlich schwierig zu investieren. Denn wenn ich weiß, ich habe heute fixe Kosten mit Arbeitnehmern und anderen Produktionsfaktoren, weiß aber, dass ich in der Zukunft, wenn das Produkt oder die Leistung fertig ist, nur noch einen geringeren Wert dafür bekomme, dann ist das natürlich für mich als Unternehmer schlecht. Das heißt, ich investiere weniger, beschäftige weniger Menschen oder stelle weniger Menschen ein. Damit sinkt die Beschäftigung, damit sinken Einkommen, Wachstum, und das Schlimme ist, dass es dazu kommen kann, dass es dadurch zu einem Zyklus kommt, in dem sich diese schwachen Investitionen noch mal wieder negativ auf die Preise auswirken, und ich komme dann in so einen Teufelskreis, wo diese Erwartungen über fallende Preise sich verstetigen und es dann nachher unheimlich schwierig ist, wieder rauszukommen.
Kapern: Beobachter, die die Wirtschaftsentwicklung betrachten, nicht mit der Kenntnis von Wirtschaftswissenschaftlern, denen geht jetzt möglicherweise durch den Kopf, dass zu dem Zeitpunkt, als die EZB zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise ihre Zinsen immer weiter gesenkt hat, dass da viele Experten vor einer Hyperinflation gewarnt haben, und die hat dann nie stattgefunden. Warum, Herr Fratzscher, sollten also die aktuellen Warnungen vor einer Deflation jetzt begründeter sein?
Fratzscher: Sie sind begründet, denn wir haben ja eine unheimlich schwache Wirtschaftsleistung in der Eurozone. Wir kommen ja aus zwei ganz tiefen Krisen, 2008/2009 aus der globalen Krise und danach der europäischen Krise. Länder wie Spanien oder Italien haben heute eine fast zehn Prozent niedrigere Wirtschaftsleistung als noch Anfang 2008. Das heißt, es fehlt die Aktivität, es fehlt die Nachfrage in diesen Volkswirtschaften, und wenn Unternehmen ihre Produkte, ihre Leistungen nicht absetzen können, dann verursacht das natürlich einen starken Druck nach unten.
Und solange wir in einer solchen Situation sind, wo die Volkswirtschaft in der Eurozone enorm schwach ist, werden wir da auch ganz schwierig herauskommen. Erst wenn wir wieder Wachstum haben, erst wenn wieder diese Produktionskapazitäten sich einigermaßen auslasten, dann ist diese Gefahr der Deflation gebannt, und das wird sicherlich noch einige Jahre dauern, bis wir wieder da rauskommen können, und bis dahin besteht diese enorme Gefahr, dass sich diese negative Preisentwicklung verstetigt und damit dann noch mal im Prinzip einen negativen Einfluss auf die Volkswirtschaft ausübt.
"Weit davon entfernt, von einer Normalisierung der Lage zu sprechen"
Kapern: Andererseits, Herr Fratzscher, haben wir aber doch ganz ermunternde Zahlen aus Frankreich, aus den südeuropäischen Ländern gehört, gerade in letzter Zeit über ein Anspringen der Konjunktur, eine Zunahme der Industrieproduktion.
Fratzscher: Das ist richtig. Wir haben seit Ende letzten Jahres wieder positive Wachstumszahlen in vielen Ländern, nicht allen Ländern, aber ganz, ganz schwache Wachstumszahlen. Viel zu schwach, um wirklich Beschäftigung zu schaffen, um wirklich den riesigen Überhang an Kapazität in diesen Ländern abzubauen. Also wir sind noch ganz, ganz weit davon entfernt, von einer Normalisierung der Lage zu sprechen. Und wir haben zudem auch enorm hohe Risiken, auch über diese schwache wirtschaftliche Entwicklung. Wir haben immer noch viele Banken, denen es schlecht geht in den Krisenländern. Wir haben immer noch viel zu hohe Staatsverschuldung, was auch ein großes Risiko darstellt. Wir haben jetzt eine Krise in der Ukraine, die sich bisher zum Glück noch nicht negativ auf die Eurozone ausgewirkt hat. Wir haben viele andere Risiken weltweit. All das kann sehr leicht wieder dazu führen, dass die Krisenländer in eine Rezession abgleiten, und deshalb sind wir noch lange nicht aus dem Schneider.
Kapern: Wenn Mario Draghi, der EZB-Präsident, heute Vormittag bei der Sitzung des EZB-Rats einen zusätzlichen Stuhl an den Tisch schieben würde und Sie könnten darauf Platz nehmen, was würden Sie der Runde dann sagen?
Fratzscher: Ich würde sagen, sicherlich sollten wir diese Wahrscheinlichkeit einer Deflation nicht übertreiben. Sie ist relativ gering. Aber sehen Sie das wie eine Versicherung. Wenn Ihnen jemand sagt, morgen ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mit einer 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit regnet, dann würden Sie sagen, das ist gering, dagegen kann ich mich leicht versichern, ich nehme einen Regenschirm mit. Aber wenn Ihnen jemand sagt, die Wahrscheinlichkeit, dass Sie einen Autounfall haben, ist 20 Prozent, dann ist diese 20-prozentige Wahrscheinlichkeit enorm hoch, denn die Kosten sind zu stark, und dann würden Sie sich doch dagegen absichern. Dann würden Sie doch sagen, gut, wenn das eine 20-prozentige Wahrscheinlichkeit einer so schmerzvollen Erfahrung ist und eines so hohen Risikos ist, dann werde ich mich mit Sicherheit dagegen absichern, und genau diese Situation haben wir im Augenblick. Wir sollten dieses Risiko nicht übertreiben von der Wahrscheinlichkeit her, aber die Kosten wären so enorm, dass wir durchaus jetzt dagegen eine Versicherung kaufen und erwerben sollten, damit wir gar nicht erst in diese Situation kommen.
"Die EZB hat eine ganze Palette an Maßnahmen"
Kapern: Aber, Herr Fratzscher, was müsste denn genau in dieser Versicherungspolice drin stehen? Was soll der EZB-Rat heute tun?
Fratzscher: Die EZB hat eine ganze Liste oder Palette an Maßnahmen, was sie ergreifen kann. Sie kann die Zinsen noch etwas senken, das wird wahrscheinlich nicht genug sein, um die Deflation zu bekämpfen, aber auch so was wäre ein wichtiges Signal, denn es geht ja vor allem um die Erwartung, den Menschen, den Unternehmen, den Märkten zu versichern, macht euch keine Sorgen über diese Deflationsangst, wir sind hier, um euch dagegen abzusichern, wir stehen bereit, um alles zu tun, damit dies nicht stattfindet.
Kapern: Andererseits, Herr Fratzscher, muss man doch sehen, dass das billige Geld bislang in die Spekulation geflossen ist, an die Börsen, was die Höchststände des DAX beispielsweise erklärt, und das billige Geld ist offenbar dann nicht ausreichend in Konsum und Investitionen geflossen. Warum soll das eine weitere Zinssenkung um ein paar Hundertstel ändern?
Fratzscher: Ja, das ist richtig. Das große Problem ist, dass dieses viele Geld bei den Banken geparkt wurde und nicht nachher zu den Unternehmen und zu den privaten Haushalten vor allem in den Krisenländern gekommen ist, und da liegt das große Problem. Eine Zinssenkung wird da wenig dran tun. Im Endeffekt würde nur ein Ankauf von privaten und öffentlichen Anleihen das beheben, denn nur wenn es uns gelingt, dass die Unternehmen in den Krisenländern, vor allem kleine, mittelständische Unternehmen, wieder zu einigermaßen ordentlichen Bedingungen an Kredite kommen können, damit Beschäftigung schaffen können, Einkommen schaffen können, nur dann können wir die Krise wirklich nachhaltig lösen, und dieses Problem ist bisher nicht gelöst. Deshalb muss die EZB neue Wege finden, zum Beispiel über solche Ankäufe oder eine konditionale Kreditvergabe an Banken zu sagen, ihr bekommt nur dann Liquidität, wenn ihr es auch wirklich an Unternehmen und private Haushalte weitergebt. Also es gibt eine ganze Liste von Maßnahmen. Die sind alle nicht perfekt, aber ich denke, wir sollten auf jeden Fall versuchen, dieses Risiko einer Deflation deutlich zu senken.
Kapern: Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, heute früh im Deutschlandfunk. Herr Fratzscher, danke für das Gespräch, schönen Tag nach Berlin.
Fratzscher: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.