"Wenn ich immer 'Religionszugehörigkeit' ausfüllen musste, oder ich gefragt wurde, wer ich denn sei, dann standen eben gewisse Fragezeichen in den Gesichtern der Menschen. Aber seit 2014, muss ich sagen, hat sich das gewandelt", sagt Güler Coknez.
Sie ist Ezidin und bezeichnet sich als Deutsche mit ezidischen Wurzeln, wurde in Hannover geboren und arbeitet hier seit kurzem als Lehrerin. Bis zum Sommer 2014 kannte das Ezidentum kaum jemand in Deutschland, meint sie. Doch das änderte sich, als die Terrormiliz Islamischer Staat im Nordirak einen Völkermord an den Eziden verübte. Medien weltweit berichteten darüber, und viele Eziden fanden danach in Deutschland eine neue Heimat – so auch Khairi Fahad Elyas:
"Ich komme aus dem Nordirak, aus Shingal. Ich bin in einem sehr kleinen Dorf geboren. Ich bin Physiker, experimentaler Physiker. Und zurzeit mache ich den Master hier in Hannover. Und seit knapp vier Jahren bin ich in Deutschland."
Reihe "Wir sind die Sonstigen – kleine Religionen in Deutschland"
In Deutschland leben Christinnen und Christen, Konfessionslose und Religionsfreie, Muslime und Jüdinnen, Buddhistinnen und Hindus. Und "Sonstige". So werden kleinere Religionsgemeinschaften in Statistiken oft bezeichnet. Doch wer verbirgt sich dahinter? Wir haben Drusen und Jainas getroffen, ein daoistisches Zentrum und einen Sikh-Tempel besucht, mit Mandäern, Jesidinnen und Bahá’i gesprochen – und nach langer Suche sogar jemanden gefunden, der sein Leben am Shintoismus ausrichtet.
In Deutschland leben Christinnen und Christen, Konfessionslose und Religionsfreie, Muslime und Jüdinnen, Buddhistinnen und Hindus. Und "Sonstige". So werden kleinere Religionsgemeinschaften in Statistiken oft bezeichnet. Doch wer verbirgt sich dahinter? Wir haben Drusen und Jainas getroffen, ein daoistisches Zentrum und einen Sikh-Tempel besucht, mit Mandäern, Jesidinnen und Bahá’i gesprochen – und nach langer Suche sogar jemanden gefunden, der sein Leben am Shintoismus ausrichtet.
Erst kamen Gastarbeiter, dann Flüchtlinge
Der Student gehört damit zur jüngsten Generation ezidischer Einwanderer. Er lebt in Hannover bei einer deutschen Familie:
"Die haben drei Kinder, und die haben also mich genommen als viertes Kind. Und das ist eine unglaublich nette Familie."
Die ersten Eziden kamen in den 60er-Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei. In den 80ern folgten viele ezidische Flüchtlinge. Ihre Gesamtzahl wird hierzulande unterschiedlich geschätzt und liegt wohl zwischen 100.000 und 200.000. Die meisten Eziden leben in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen. Dort gibt es inzwischen in vielen Städten ezidische Gemeinden und Vereine, und auch ein "Zentralrat der Eziden in Deutschland" hat sich gebildet.
"Eziden" oder "Jesiden"?
In Medien, Wissenschaft und Politik werden die Eziden jedoch zumeist als Jesiden bezeichnet.
Güler Coknez: "Wir selber bezeichnen uns als Eziden, also das Wort mit 'E-Z'. Das stammt eben daher, weil es auch auf unseren religiösen Texten und auf Basis der religiösen Übertragung, der mündlichen Übertragung so weitergegeben wurde. 'Jesiden', also mit 'J' und 'S', stammt daher, weil es durch die deutschen Behörden anfangs so übernommen wurde. Und aus der Unkenntnis wurde dann quasi eine jahrelange Tradition, die wir aber jetzt versuchen umzuwandeln."
Und nicht nur beim Namen gibt es Missverständnisse. Zwar kennen inzwischen wohl viele in Deutschland den Begriff Eziden beziehungsweise Jesiden, aber die Inhalte der Religion seien der Öffentlichkeit nach wie vor so gut wie unbekannt, meint Güler Coknez:
"Was sollte man über das Ezidentum wissen? Man sollte wissen, dass sie ihre Traditionen, ihre religiösen Inhalte mündlich überliefern. Man sollte wissen, dass wir eben auch sieben Erzengel haben wie im Christentum."
Ein Erzengel in Pfauen-Gestalt
Den wichtigsten dieser Erzengel trägt Güler Coknez an einer Halskette - wie andere ein Kreuz tragen oder einen Davidstern. Dieser oberste Engel des Ezidentums heißt Melek Taus oder Dausi-Melek. Übersetzt bedeutet das: der Engel Pfau. Dausi Melek kommt im Ezidentum eine wichtige Rolle zu: Unter anderem hat er im Auftrag Gottes die Welt erschaffen. Er wird dargestellt als ein blauer Pfau, also als prachtvoller Vogel.
Güler Coknez: "Für mich ist es eine Art Glücksbringer. Es ist eine Art Hoffnungsträger. Und vor allen Dingen: Es erinnert mich immer daran, wer ich bin. Wo meine Wurzeln sind und woher meine Eltern und Großeltern stammen."
Die ezidischen Ursprünge liegen im Nordirak, in Nordsyrien und der Südosttürkei. Sie selbst nennen das Gebiet Ezidikhan. Andere nennen es Kurdistan. Das kurdische Kurmandschi ist bis heute die Muttersprache der allermeisten Ezidinnen und Eziden. Trotzdem sehen sich viele nicht als kurdisch an.
Güler Coknez: "Es gibt hier in Deutschland einen Teil, der sagt: Wir bezeichnen uns als ezidische Kurden. Dann gibt es eben einen Teil, der sagt, wir betrachten uns nur als Eziden, also quasi als ethno-religiöse Volksgruppe."
Anfänge im 12. Jahrhundert oder früher?
Die historischen Spuren des Ezidentums lassen sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen – bis zu Scheich ʿAdī ibn Musāfir. Sein Grab im nordirakischen Lalisch ist das wichtigste ezidische Heiligtum und Ziel einer jährlichen Wallfahrt.
Die Eziden sehen in Scheich ʿAdī einen wichtigen Erneuerer ihrer Religion. Religionshistorisch betrachtet war er aber auch der Gründer eines islamischen Sufi-Ordens. Und dadurch war er vielleicht auch der Religionsstifter des Ezidentums, das sich daraus entwickelt haben könnte.
Doch viele Eziden gehen davon aus, dass ihre Religion deutlich älter ist. Sie weist Elemente auf, die sich auch in anderen Religionen der Region fanden und finden: im Judentum, Christentum und Islam, aber auch in Mithraismus oder Zoroastrismus. Die konkreten historischen Entwicklungen und Zusammenhänge sind in der Wissenschaft umstritten oder ungeklärt.
Monotheismus ohne heilige Schrift
Greifbarer sind die heutigen Lehren. Das Ezidentum kennt nur einen Gott, aber im Gegensatz zu den anderen monotheistischen Religionen gibt es keine heilige Schrift. Ezide kann man nur durch Geburt werden, und man gehört dann einer der drei Kasten an, in die sich die Religion unterteilt: Scheiche, Ältere und Laien.
Khairi Fahad Elyas unterhält sich über solche Dinge auch mit seiner deutschen Gastfamilie:
"Wenn die Weihnachten feiern oder Ostern oder so, fragen sie mich auch: Gibt es solche Feste bei Euch? Ich sage: Ja, zum Beispiel das ezidische Fastenfest. Das ist immer auch an den kürzesten Tagen des Jahres, also im Dezember kurz vor Weihnachten. Wir fasten drei Tage und am vierten Tag ist das Fastenfest."
Christliches Ostern trifft ezidisches Neujahr
So kommen sie durch die Feiertage ins Gespräch über die Gemeinsamkeiten der Religionen. Besonders gut eignen sich dafür das christliche Osterfest und das ezidische Neujahrsfest. Das wird immer an einem Mittwoch im April gefeiert, und fällt damit in die Nähe von Ostern. Und bei beiden Festen gibt es buntbemalte Hühnereier. Daher lassen sie sich auch gut miteinander kombinieren, erzählt Khairi Fahad Elyas aus seiner Gastfamilie:
"Wir haben das christliche Fest gefeiert, und wir haben auch wie ezidisches Neujahr gefeiert, mit Eiern und so. Das war echt lustig und waren echt schöne Momente."
Die Eziden kennen aber auch Feste und Bräuche, die an traurige Ereignisse erinnern. Als religiöse Minderheit hatten sie es im Nahen Osten oft nicht leicht, wurden von Teilen der muslimischen Mehrheit als angebliche "Teufelsanbeter" beargwöhnt und oft auch verfolgt.
74 Völkermorde
Die Eziden sagen über sich selbst, sie hätten bereits 74 Völkermorde erlitten. Diese Zahl lässt sich wissenschaftlich nicht belegen, doch Verfolgung und Bedrohung sind Teil der ezidischen Identität geworden. Güler Coknez kennt das auch aus ihrer eigenen Familie:
"Wenn ich mir meinen eigenen Großvater vor Augen halte, der selbst aus der Türkei stammt - im Kopf hat er immer auch den Gedanken gehabt: Wie kann ich meinen Kindern oder vielleicht später meinen Enkelkindern und Urenkelkindern einen sicheren und friedvollen Lebensraum schenken? Und das, denke ich, schwingt bei allen Eziden immer mit."
In der Türkei und in Syrien gibt es heute kaum noch Eziden. Neben dem Irak und dem Kaukasus leben sie weltweit verstreut, von den USA bis nach Australien. Ihre Gesamtzahl wird auf etwa eine Million geschätzt.
Das Ezidentum wandelt sich in Deutschland
In Deutschland habe die religiöse Minderheit ganz andere Möglichkeiten als im Nahen Osten, meint Güler Coknez. Vor allem, was die Bildung betrifft. Sie selbst hat diese Chance genutzt – und als junge Lehrerin unterrichtet sie jetzt auch ezidische Schülerinnen und Schüler:
"Ich glaube, für die Schüler selbst ist es ein Stück weit auch Motivation und auch Vorbildfunktion, die ich dann innehabe. Wo sie dann merken: Oh, da hat es jemand von uns geschafft, und wir möchten dann vielleicht auch mal Lehrerin werden oder Physiker wie Khairi."
So wandelt sich das Ezidentum in Deutschland auch. Eine Folge davon: Die Jugend entwickelt eigene Interessen, und die Älteren fürchten, dass die Traditionen verlorengehen könnten.
Güler Coknez: "Die Sorgen der älteren Generation, würde ich sagen, sind schon berechtigt."
"Wundervolle Ehen mit Nicht-Eziden"
Besonders das Endogamiegebot sorgt für Unruhe zwischen den Generationen: Ezidinnen und Eziden dürfen eigentlich nur untereinander heiraten. Ein Erbe aus dem Jahrhunderte währenden Dasein als Minderheit, die um ihre Existenz fürchten musste. Wer außerhalb heiraten wollte, musste sogar fürchten, umgebracht zu werden. In Deutschland hat sich das inzwischen aber gewandelt, sagt Güler Coknez:
"Mittlerweile gibt es wundervolle Ehen, die mit Nicht-Eziden geschlossen wurden. Klar wäre es schön, wenn man bei der Tradition bleibt, aber wenn es die Liebe nicht zulässt und man anderweitig Personen gefunden hat, dann darf man auch diesen Personen den Weg nicht zerschlagen."
Im deutschen Ezidentum ist vieles im Fluss. Doch eins steht außer Frage: dass die Religion hier eine neue Heimat gefunden hat.