Ende September 2017 geht die Welt unter: "Kassandra" kriegt die Kündigung. Bei "Kassandra" handelt es sich nicht etwa um die trojanische Unglücksprophetin, sondern um den mäßig originellen Spitznamen eines 63-jährigen Zeitungsredakteurs. Dieser altliberale Rebell im Wirtschaftsressort eines nicht näher bezeichneten Berliner Qualitätsblattes wird eigentlich auch nicht schnöde gekündigt - genau genommen bekommt er eine vergleichsweise großzügige Vorruhestandsregelung aufs Auge gedrückt.
Und natürlich geht die Welt nicht unter. Vielmehr hat die in den Worten dieses Zeitungsmanns alter Schule "meist überschätzte Kanzlerin" soeben wieder eine Bundestagswahl gewonnen. Er selbst hingegen darf nicht mehr schreiben. Beziehungsweise veröffentlichen. Das Schreiben kann einem ja hierzulande niemand verbieten, im Unterschied zu China etwa, wo Berufsverbote für Schriftsteller an der Tagesordnung sind. Also setzt "Kassandra" – seinen tatsächlichen Namen erfahren die Leser von F. C. Delius‘ neuem Buch nicht - sich an den heimischen Computer und legt los:
"Weiterschreiben, noch heute! Wenn es keine Artikel und Kommentare mehr sein dürfen, dann irgendwas anderes, was du noch nie gemacht hast. Eine Art Tagebuch. Subjektiv jedenfalls, rücksichtslos, falls ich das überhaupt noch kann nach so vielen Jahren Fron und Fakten, Zahlen und Meinungsservice. (…) Täglich ein paar Sätze festhalten, ein Tagebuch ohne jede Chronistenpflicht, besser: Aufzeichnungen - was denk' ich, was seh' ich, wo bin ich, was will ich!"
Mit Merkel geht für "Kassandra" die Welt unter
Und so zieht Delius das auch durch, jedoch mit ziemlich viel "Fakten, Zahlen und Meinungsservice". Adressatin dieser Aufzeichnungen ist die junge Nichte des Erzählers, eine aufgeweckte Abiturientin, weshalb bei Erwähnung prähistorischer Ereignisse wie "Deutscher Herbst", fossiler Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt und komplexerer Gegenstände wie der EZB immer mal wieder die Aufforderung ergeht: "Lena, bitte googeln". Aus den Notizen des Onkels soll sie dereinst erfahren, wie es damals war, "in den letzten Merkel-Jahren, als Europa bröckelte".
Und es bröckelt einiges nach Auffassung des Erzählers, der seinen redaktionsinternen Spitznamen "Kassandra" nicht grundlos trägt. Die Kanzlerin, der ehemalige Finanzminister, wie haben sie dem Wahlvolk die Zuchtmeister Europas gegeben, wie haben sie die Krise der gierigen Banken geschickt in eine Euro-Krise umgemogelt. Wie haben sie den "Pleite-Griechen" erst die Schuld in die Schuhe geschoben und ihnen anschließend von der sogenannten Troika das letzte Hemd ausziehen lassen. Und jetzt steht das Reich der Mitte auf der Matte - ach was, die Chinesen sind längst ins europäische Haus eingedrungen, kaufen Industrieunternehmen, Infrastruktur, Immobilien und am Ende eben vielleicht auch noch die Insel Rügen.
200 Seiten Lamento - aber wann beginnt der Roman?
"Je mehr Zeit ich habe, desto mehr Verdrängtes kommt hoch, zum Beispiel die Nebenwirkungen der ökonomisch und politisch idiotischen Griechenlandpolitik: wie mit der erzwungenen und hastigen Privatisierung den Chinesen der Hafen von Piräus fast geschenkt wurde, wie sie nach Europa eingeladen wurden. Ein 'Brückenkopf' der neuen Seidenstraße. (…) Vielen Dank, Herr Sarkozy, Frau Merkel, Herr Schäuble, Herr Dijsselbloem!"
Den Ausdruck "gelbe Gefahr" verkneift sich unser durchaus zur Selbstreflexion neigender Mann denn doch. Wie er auch gesteigerten Wert darauf legt, sich nicht vom Ressentiment leiten zu lassen, sondern allein vom Zorn dessen, der etwas sieht, wovor Politiker und Medien seiner Meinung nach gern die Augen verschließen: Dass es allen Fensterreden selbsternannter "leidenschaftlicher Europäer" zum Trotz für die Werte des Westens nicht gut läuft, verglichen mit dem skrupellosen Kapitalismus konfuzianisch-postkommunistischer Prägung. Auch, weil die mächtigste Frau Europas und ihre Finanzminister es vorziehen, den französischen Präsidenten Macron auflaufen zu lassen und den griechischen Wirtschaftsprofessor und Kurzzeit-Minister Yanis Varoufakis lächerlich zu machen, anstatt sich mit deren durchaus vernünftigen Ideen auseinanderzusetzen.
So geht das drei große Kapitel lang. 200 Seiten werden gefüllt mit nach Datum geordneten Einträgen, bei deren Lektüre man sehr oft ganz oder halb einverstanden mit dem Kopf nickt, sich aber früher oder später fragt, wann wohl endlich der Roman anfängt. Dem heute 76-jährigen F. C. Delius ist diese Frage offenkundig nicht so wichtig. Als er 2011 den Georg-Büchner-Preis bekam, war in der Begründung von seinen "politisch hellwachen, ideologieresistenten und menschenfreundlichen Texten" die Rede und davon, dass er, so wörtlich, die "Bewusstseinslagen im 20. Jahrhundert erzählt". Kann es sein, dass er neuerdings, im 21. Jahrhundert, der neugierigen Erprobung vielfältigster Formen des Erzählens, die seine Bücher sonst auszeichnete, abgeschworen hat?
Nur wenige unerwartete Einsichten
Was Delius seinem Chronisten der laufenden Ereignisse in den Mund, beziehungsweise auf die Tastatur legt, besteht großteils aus zuweilen einfach vor sich hin bramarbasierenden Zeitkommentaren zur Weltpolitik, zu Talkshows und deutschem Krimiwahn sowie dem durchaus emphatischen Referat aktueller Lesefrüchte aus Varoufakis‘ Buch über seine kurze Amtszeit etwa, aus investigativen Zeitungs- und Magazin-Artikeln und Essays von Gesellschaftserklärern wie Bernhard Pörksen, Zygmunt Bauman oder Ferda Ataman.
Garniert ist das mit ein paar kulturkritischen Berliner Alltagsbeobachtungen, angegilbten Sottisen über den Zustand der deutschen Presselandschaft und wenigen, allzu wenigen unerwarteten Einsichten. So, als "Kassandra" - während einer S-Bahn-Fahrt gleichermaßen die chinesische Bedrohung wie Thomas Manns Josephs-Romane im Sinn bewegend - sich plötzlich als glücklichen Menschen erfährt:
"Da die Vergangenheit, da die Zukunft, begreife den Reichtum deiner Gegenwart, so ähnlich pathetisch blitzten die unfertigen Gedanken. Ein kleiner Moment der Erleuchtung, irgendwo zwischen Ostkreuz, Treptower Park und Neukölln. Ich sah mich um und hatte den Eindruck, der einzig glückliche Fahrgast zu sein. Richtig glücklich, dass ich, dass wir die Zwischenphase erwischt haben, eine Gesellschaft, die nicht vom Gehorsam geprägt ist."
Die Nebenfiguren ohne Tiefenschärfe
Alle Figuren drumherum - die Nichte Lena, die Ehefrau Susanne, eine Lehrerin, die alten Skatfreunde und früheren Kollegen - bleiben ebendies: Drumherum ohne Tiefenschärfe. Delius hat in Romanen wie "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde", "Flatterzunge" oder "Bildnis der Mutter als junger Frau" autobiografisches Material so bearbeitet, dass die Literaturfähigkeit des täglichen Lebens stark wirksam wurde. In diesem neuen, seiner Enkelin gewidmeten Buch gibt er sich auffallend wenig Mühe, den Eindruck zu vermeiden, sein Erzähler fungiere hauptsächlich als Sprachrohr für das, was dem Autor selbst an Dauerkolumne durch die Rübe rauscht.
Im vierten Teil allerdings nimmt ein bis dato nebenher laufender Handlungsstrang Fahrt auf, und für vierzig Seiten wird manches anders. Ein alter Freund aus der hessischen Jugendzeit kommt nach Berlin, ein in die USA ausgewanderter Arzt, der sein Leben in Baltimore satt hat und sich als Landarzt in Puttbus auf Rügen niederlassen will. Man trifft sich auf der Insel der Kreidefelsen, wo sich Überraschendes vollzieht: Es gibt keine Chinesen auf Rügen. Es gibt überhaupt nur Deutsche auf Rügen. Und F. C. Delius lässt endlich seine Lust am wirklichen Erzählen aufblitzen.
Gegen Ende geht es allerdings es wieder los mit den Chinesen, Griechenland und der Troika. "Kassandra" schließt sich einer Gruppe von Investigativjournalisten an, die Leserin aber blättert erleichtert die letzten Seiten um:
"Tagebuchschreiber werden mit der Zeit zu Narzissten und/oder Weltverächtern und/oder Misanthropen. Lieber wären mir die Gegenrichtungen. Noch ein Grund, so langsam mit diesen Notizen aufzuhören. Sofort."
"Tagebuchschreiber werden mit der Zeit zu Narzissten und/oder Weltverächtern und/oder Misanthropen. Lieber wären mir die Gegenrichtungen. Noch ein Grund, so langsam mit diesen Notizen aufzuhören. Sofort."
Dem kann man nur zustimmen.
Friedrich Christian Delius: "Wenn die Chinesen Rügen kaufen, denkt an mich"
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin. 256 Seiten, 20 Euro
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin. 256 Seiten, 20 Euro