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Fabio Andina: "Tage mit Felice"
Maroni und Kräutertee im Tessin

Nicht nur die frugale Kost hat Felice 90 Jahre alt werden lassen. Scheinbar eintönig ist sein Leben zwischen Kakis sammeln und gegenseitigen Besuchen in der Nachbarschaft des Schweizer Bleniotals. Doch wer Tage mit dem wenig greisenhaften Greis verbringt, weiß es bald besser.

Von Katja Lückert |
Fabio Andina: "Tage mit Felice" Zu sehen ist der Autor und das Buchcover.
Der Schweizer Fabio Andina knüpft an die Tradition des ländlichen Erzählens in der italienischen Literatur an. (Foto: Malik Andina / Cover: Rotpunktverlag)
Es ist nicht viel los in Leontica, einem Dorf im mittleren Bleniotal, das sich vom Lukmanierpass bis nach Biasca erstreckt. Genau aus diesem Grund ist der Ich-Erzähler offenbar hierher zurückgekehrt. Auch nach 250 Seiten - es ist ein kurzer Roman - weiß man von ihm nicht sehr viel mehr, als dass er vierzig Jahre alt ist und als Kind die Sommerferien regelmäßig im Tessin verbracht hat. Die trutzigen jahrhundertealten Steinhäuser, die dichten, dunklen Kiefernwälder, der Fluss Brenno, die tiefen Schluchten - alles scheint ihm vertraut zu sein. Mit seinem Nachbarn, einem Greis namens Felice, verfolgt er ein Projekt, von dem der Leser gleich auf der ersten Seite erfährt:
"Gestern hatte ich Felice vor meinem Haus getroffen, es war ein sonniger Nachmittag, um die Berggipfel zogen sich die ersten grauen Wolken zusammen, die den Himmel noch vor Sonnenuntergang verdunkeln sollten. Ich lasierte gerade die Tür des Holzschuppens, er ging vorbei, genauso angezogen, barfuß und mit einer Plastiktüte voller Kakis. Wir wechselten einige Worte, dann fragte ich ihn, ob ich ihn ein paar Tage lang begleiten dürfe. Um ein bisschen so zu leben wie er."
Waschen im eiskalten Wasser der Gumpe
Acht Tage lang folgt der Erzähler dem 90-jährigen Felice wie ein Schatten und schreibt darüber tagebuchartig, ein Kapitel entspricht dabei jeweils einem Tag. Er beginnt meist mit den herrschenden Temperaturen und weiteren meteorologischen Beschreibungen. Es sind kalte, zum Teil sonnige Novembertage, in denen hier auf knapp neunhundert Höhenmetern manchmal schon Schnee fällt. Am ersten so wie an allen folgenden Tagen, geht es bei jedem Wetter bereits um fünf Uhr in der Früh durch die Dunkelheit hinauf in die Berge zu einer Gumpe, einer Felswanne, in der sich Felice im eiskalten Wasser wäscht. Fabio Andina formuliert oft parataktisch. Dass er auch Gedichte schreibt, spürt man zuweilen an der Melodie seines Satzflusses.
"Schließlich, nach endlosem Schweigen, sagt Felice 'bòn' und bleibt stehen. Auch ich bleibe stehen und verschnaufe, und dann sehe ich sie. Ein bleigrauer Fleck zwischen den schwarzen Felsen. Die Gumpe. Er zieht sich aus. Seine Haut scheint im Kontrast zu der Dunkelheit ringsum zu leuchten. Keine Unterhose. Die Shorts und das Hemd hängt er an einen nahen Tannenzweig, und dann steigt er ohne Zögern in das Becken, ganz hinein, ganz nackt, genau wie man es sich erzählt. Ich stehe reglos da und halte den Atem an aus Furcht, dass selbst die kleinste Bewegung mich von diesem Moment ablenken könnte."
Mit dem nicht unbedingt geläufigen deutschen Wort "Gumpe" übersetzt Karin Diemerling die im italienischen Titel gemeinte "Pozza". "La pozza del Felice" könnte man mit "Die Gumpe des Felice" übersetzen. Das Bad in der Gumpe mag als eine Art rituelles Eintauchen in diese archaische Lebensform gelesen werden, die der Erzähler dann gänzlich vollzieht, indem er es dem alten Mann gleich tut. Später, nach einem frugalen Frühstück aus Kräutertee, Nussjoghurt und ein paar Maroni, das meist schweigend eingenommen wird, bewegt sich Felice in immer wiederkehrenden Abläufen im Dorf. Er besucht seine Nachbarin Vittorina. Wenn er Pilze aus dem Wald bringt, bekommt er Käse und darf ein wenig Gemüse aus dem Garten ernten. Er sammelt Kakis, besucht die Bar und das Dorfrestaurant.
Eine Art ethnografischer Essay
Das Leben in diesem Bergdorf ist rau, alle müssen schauen, wie sie über die Runden kommen, was nur durch eine Kultur des ständigen Gebens und Nehmens gelingt. Doch Fabio Andina betreibt keine Sozialromantik; ihm geht es nicht in erster Linie um ein Antiprogramm zum Stadtleben oder um die Faszination einer wilden, ursprünglichen Welt. Er beschreibt in einer Art ethnographischem Essay das Leben von Felice in Leontica, das sich auch in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts so hätte abspielen können. Jeden Morgen zieht der alte Mann in seinen Tag, den er nur durch seine autonomen Entscheidungen mit Bedeutung auflädt. Wenn ihm die Schulter schmerzt, behandelt eine ältere Dame sie mit Speck und Petersilie.
"Sie erhebt sich aus dem Sessel, indem sie sich mit beiden Fäusten abstützt. Du kommst mir heut auch ein bisschen blass vor, pflichtet sie ihm bei und beginnt, ihm die linke Schulter und den Hals zu massieren. Da endlich begreife ich, wer diese Alte ist. Die Viola von Corzoneso. Auch Viola Manidifata, Feenhand, genannt. Die berühmte Heilerin von Verstauchungen und Rückenschmerzen, von der ich schon gehört hatte, der ich aber noch nie begegnet war. Der übliche Knoten, verkündet sie. Hier, im Trapezmuskel. Zu viel Holz gemacht, he, Felice? Sie öffnet den Kühlschrank und holt ein Stück Speck heraus."
Eines Tages will der Erzähler Felice ein wenig Abwechslung bieten und schlägt ihm vor, mit ihm nach Bellinzona in die nächste Stadt zu fahren, um sich dort eine Ausstellung des Tessiner Künstlers René Bernasconi anzuschauen. Felice lässt sich darauf ein, obwohl sich seine Bewertung der Stadt nicht wesentlich verändert hat.
"Wie war es in Bellinzona, als du jung warst?
Genauso wie jetzt. Ein einziger Rummelplatz, voller Dummköpfe, die sich ausnehmen lassen wie Dorsche."
Eine entschleunigte Welt
Ansonsten gibt sich Felice immer recht einsilbig, außer "ben", "bondi", "mersi" ist nicht viel aus ihm herauszukriegen. Als die beiden aus der Stadt zurückkehren, geht etwas Großes vor im Dorf. Fast muss man lächeln, als man einige Zeilen weiter liest, worum es sich handelt: Vittorinas Maultier ist entlaufen. "Tage mit Felice" bietet ein Eintauchen in eine entschleunigte Welt, und man wundert sich fast über sich selbst, warum man das Buch noch nicht gelangweilt aus der Hand gelegt hat. Schon ist man wieder mit den beiden auf dem Weg zur Gumpe. Was haben die Tage mit dem Erzähler gemacht? Wir erfahren es nicht. Und was mit uns? Was ist das Wesentliche? Genug zu essen, eine warme Stube, ein wenig Gesellschaft, ein Buch? Letztlich hat Felice, der das Glück schon im Namen trägt, ein gutes Leben geführt, ohne sich darum zu bemühen oder dies jemals auszusprechen.
Fabio Andina: "Tage mit Felice"
Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Diemerling
Rotpunktverlag, Zürich, 240 Seiten, 24 Euro.