Zwölf Meter hoch ist der Fliegeberg im Lilienthal Park im Südwesten von Berlin. Hier, ganz bequem in der Nähe seines Hauses, hat Otto Lilienthal Flugversuche gemacht. Heute starten hier höchstens noch Papierflieger und eben Spinnen. Das hat der Strömungsmechaniker Moonsung Cho auf einem Spaziergang entdeckt und beschlossen, das Phänomen in seiner Doktorarbeit genau zu untersuchen. Oben auf dem Hügel hat er eine kleine Wetterstation aufgebaut. Die Luft ist trocken, es weht eine leichte Brise.
"Ja, zum Fliegen ist ganz gutes Wetter. Aber das Wichtigste ist, ob die Spinnen fliegen wollen. Wir haben drei Spinnen gesammelt, dann können wir damit probieren."
In der Hauptflugsaison für Spinnen im Herbst hätte Moonsung Cho sicher noch viel mehr Kandidaten eingesammelt, vor allem Krabbenspinnen. Heute hat er nur eine Zebraspinne, eine Zwergspinne und eine Kürbisspinne gefangen. Letztere spinnt in ihrem Plastikröhrchen gleich ein Netz. Die Fäden gehören quasi zum Körper der Spinnen, meint Roland Mühlethaler, der heute mit auf den Fliegeberg gekommen ist. Dass Spinnen fliegen, ist für den Biologen nichts Ungewöhnliches. In Namibia wurden sogar schon Exemplare in der Luft beobachtet, groß wie unsere Kreuzspinnen. In Deutschland fliegen aber vor allem kleine Spinnen.
"Die Jungspinnen, die werden ab einem bestimmten Stadium kannibalisch, fressen sich gegenseitig auf. Und das ist der Zeitpunkt, um sich auszubreiten."
Davonfliegen schützt vor hungrigen Artgenossen
In Deutschland geht es meist nur ein paar Dutzend Meter weit, aber anderswo fliegen die Spinnen an ihren Fäden manchmal Hunderte von Kilometern bis hin zu einsamen Inseln. Das wiederum fasziniert Moonsung Cho.
"Wenn ich das das besser verstehen kann, habe ich gedacht, kann ich damit etwas wie Flugzeuge oder anderes Gerät besser entwickeln."
Er hat das Flugverhalten der Spinnen ganz genau beobachtet. Als erstes suchen sie sich den höchsten Punkt an einem Ast oder einem Grashalm. Dann heben sie ein Bein hoch, fast als wollten sie den Wind prüfen.
"Wir können Spinnen nicht fragen, ob sie wirklich eine Bewertung der Windkondition machen. Deshalb habe ich statistische Analysen gemacht, ob diese Bewegung Bezug zum fliegenden Verhalten hat."
Und das hat sie, das Beinheben ist die erste Flugvorbereitung. Stimmen die Bedingungen, hebt die Spinne das Hinterteil und schießt Spinnfäden heraus, die der Wind langzieht. Diese Fäden wollte sich Moonsung Cho genauer ansehen. Deshalb hat er Spinnen vom Fliegeberg in einen Windkanal an der Technischen Universität Berlin gebracht und unter kontrollierten Bedingungen gefilmt.
"Was ich beobachtet habe: Zuerst einmal spinnen die Spinnen ein oder ein paar Fäden aus. Und dann, ein oder zwei Sekunden später dann, spinnt die Spinne mehr Fäden aus."
Noch während die Spinnen die Fäden produzierten, wickelte sie der Ingenieur auf einen Rahmen. Bis zu sechs Meter kamen zusammen. Dabei handelt es sich meist nicht um die vergleichsweise dicken Fäden, aus denen die Spinnen ihre Netze bauen, sondern um die feinen Fasern, in die sie auch ihre Beute einwickeln.
Spinnfäden im Lufthauch
"Spinnen nutzen ganz dünne Fäden, aber wegen dieser ganz kleinen Skalierung ist die Luftströmung wie ein Honig oder Sirup zum Spinnenfaden."
Die nur 200 Nanometer dicken Spinnfäden werden von jedem Lufthauch mitgenommen. Der Fächer von ein, zwei Dutzend Fäden bündelt diese winzigen Kräfte, bis sie gemeinsam die Spinnen in die Luft tragen. Das geht so gut, dass die Zwergspinne auf dem Fliegeberg schon durch die Luft schwebt, bevor sie Moonsung Cho überhaupt auf dem kleinen Ast vor seiner Kamera absetzen kann. Aber da gibt es ja noch die Kürbisspinne. Ihr Körper mit dem leuchtend grünen Hinterleib misst einen halben Zentimeter. Es ist gut zu sehen, wie sie auf dem Ast herumkrabbelt und sich auf die oberste Spitze setzt. Dann hebt sie ein Vorderbein und tut – nichts.
"Sie ist ganz erfahrener Pilot."
Die Windgeschwindigkeit ist erst zu hoch, dann zu niedrig. Ideal für den Start ist ein laues Lüftchen von ein bis drei Metern pro Sekunde. Moonsung Cho hat gelernt, geduldig zu warten.
"Wenn wir etwas beobachten, das funktioniert nicht. Aber wenn wir nicht beobachten, dann funktioniert es."
Wildermuth: "Jetzt tatsächlich ist sie weggeflogen, da immer noch zu sehen, das sind sicher fünf, sechs Meter. Jetzt ist sie im Himmel verschwunden, die Experten können sie noch erkennen. Jetzt landet sie gleich. Die ist ja ganz langsam, ich hätte gedacht die würden ganz schnell mit dem Wind vertreiben, aber das ist ja im Grunde ein sehr gemächlicher Flug."
Cho: "Ja das hängt an der Luftströmung, wie wir gerade gesehen haben, das fliegt mit einem Flugballon."
Und schon die leichte Brise auf dem Fleigeberg reicht aus, um Jungspinnen vor hungrigen Artgenossen zu retten. Roland Mühlethaler:
"Sicherlich, Zumal das ja nur ein erster Schritt ist, die kann das jetzt ja gleich wiederholen und weiter acht Meter fliegen und so weiter, bis sie dann eine gute Stelle findet, wo sie dann ihr Netz bauen kann."
Die Kürbisspinne ist parallel zum Boden gedriftet, die meisten Spinnen trägt die turbulente Luft aber nach oben, hat Moonsung Cho beobachtet. Zurzeit arbeitet er an einer Computersimulation der Interaktion von Strömung und Spinnfäden. Die Versuchsspinnen aus dem Labor werden dazu nicht benötigt.
"Diesen Frühling habe ich alle freigelassen, weil die brauchen auch die Freiheit vom Experiment, vom Labor."