Der zunächst festgenommene Tatverdächtige war am Abend wieder freigelassen worden. Er habe sich verdächtig gemacht, weil er den Ort des Geschehens fluchtartig verlassen habe, sagte Radek. Er schloss nicht aus, dass bereits parallel zur Befragung dieses Verdächtigen weitere Spuren zu möglichen anderen Tätern verfolgt wurden.
Nachbesserungen hält Radek beim Thema Videoüberwachung für notwendig. "Wir sind sehr zurückhaltend, was Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen angeht, an Kriminalitätsschwerpunkten. Da haben wir Defizite." Statt flächendeckender Überwachung plädierte er für den Einsatz moderner Videotechnik an neuralgischen Punkten, für die die Polizei eine Gefährdungsprognose abgebe, etwa im Umfeld von Bahnhöfen. Auch Weihnachtsmärkte und andere Plätze, an denen sich viele Menschen versammelten, könnten zu solchen Punkten werden. Radek betonte allerdings auch, Videoüberwachung habe - wie am Fall des Berliner "U-Bahn-Treters" gesehen - eher eine Wirkung in der Strafverfolgung, "nur bedingt in der Gefahrenabwehr".
Radek forderte eine gesellschaftliche Debatte über die Abwägung zwischen zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen und der Aufrechterhaltung einer offenen Gesellschaft. "Wenn wir eine offene Gesellschaft haben, wo ziehen wir die Grenze? Ist es akzeptabel, wenn wie in Frankreich gepanzerte Fahrzeuge durch die Straßen fahren? Ist das adäquat gegenüber dem Unsicherheitsgefühl?"
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Nach wie vor eine ungeklärte Situation am Tag II nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin. Die große Frage: Wer ist der Täter? Der erste festgenommene Mann, der wurde gestern wieder freigelassen. Da gab es keine Hinweise dafür, dass er an diesem Anschlag beteiligt war. Was machen die Ermittler in dieser Situation? Zurück am Punkt null sind sie sozusagen. - Am Telefon ist jetzt Jörg Radek, der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Schönen guten Morgen, Herr Radek.
Jörg Radek: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Der Täter läuft noch frei herum. Wie geht die Polizei jetzt gerade vor?
Radek: Wir haben hier einige Arbeitsprozesse, die parallel verlaufen. Wir sichern Spuren. Das haben wir auch in den letzten Stunden und den letzten Tag auch schon getan. Spuren, insbesondere die vom LKW werden genommen. Aber wir haben hier auch die Situation: Spurenträger ist der ermordete polnische Beifahrer. Es sind auch auszuwerten die GPS-Daten des LKW. Wir werden Daten haben, die aus den Handys vorrätig sind, und wir werden so daraus ein Bewegungsbild entwickeln und wir werden diesen flüchtigen Täter unter Druck setzen.
Armbrüster: Wie muss man sich diese Arbeit der Polizei da jetzt vorstellen? Arbeiten da Dutzende von Beamten Tag und Nacht daran, dem Mann auf die Schliche zu kommen, dem Mann auf die Spur zu kommen?
Radek: Sehr strukturiert, arbeitsteilig. Die einen machen die Zeugenbefragungen, überprüfen sie auf ihre Glaubwürdigkeit, und andere werten die Spuren aus, die wir am Ereignisort vorgefunden haben, gehen auch den Hintergründen nach, beispielsweise Befragung des Spediteurs, dem der LKW gehört hat. Auch dort, wo der LKW abgestellt war, werden Zeugenbefragungen vorgenommen. Die werden zusammengefügt und daraus ergibt sich ein Puzzle-Bild und dem wird immer wieder sehr konkret nachgegangen.
"Wenn dem Mann nichts vorzuwerfen ist, dann ist er wieder freizulassen"
Armbrüster: Das kam ja gestern, Herr Radek, sehr überraschend, gestern Nachmittag, als da auf einmal bekannt wurde, dass der erste festgenommene Mann vom Montagabend, ein Pakistaner, dass der wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, dass er doch nicht der Täter war. Da stellt sich die Frage: War es ein Fehler, sich so früh auf einen Verdächtigen festzulegen?
Radek: Ich möchte den Zeitsprung zurückmachen, und zwar in dem Augenblick, wo der LKW in die Menschenmenge gerast ist, haben wir im Grunde genommen nichts anderes als einen Verkehrsunfall zunächst erst mal gehabt. Und von diesem Unfallort entfernt sich eine Person fluchtartig. Da liegt der Verdacht nahe Fahrerflucht und es ist einem couragierten Zeugen zu verdanken, dass wir ihn dann auch gestellt haben, dass wir ihn befragen konnten. Es ist doch sehr merkwürdig, dass jemand sich von einem Ereignisort fluchtartig entfernt, nicht nur zum Zweck, um sich in Sicherheit zu bringen. Das muss ja hinterfragt werden und genau das ist erfolgt. Und dann gilt in diesem Rechtsstaat, wenn dem Mann nichts vorzuwerfen ist, dann ist er wieder freizulassen.
Armbrüster: Das heißt, man kann da nicht sagen, da hätte die Polizei vielleicht zumindest in den Stunden danach schon mal Ausschau halten sollen nach möglichen anderen Tätern?
Radek: Ich möchte nicht ausschließen, dass das nicht auch schon stattgefunden hat. Verstehen Sie, dass ich das jetzt nicht weiter ausführe an der Stelle, weil wir haben jetzt als Polizei und als Sicherheitsbehörden einen Wissensvorsprung. Und wenn wir den Täter an diesem Wissen teilhaben lassen, dann kann er auch mögliche Schritte von uns nachvollziehen. Ich möchte also nicht ausschließen, dass parallel zu den Befragungen des Verdächtigen auch bereits andere Spuren verfolgt worden sind.
"Wir brauchen eine Videotechnik auf dem neuesten Stand der Technik"
Armbrüster: In Sachen Spurenverfolgung und bei der Verfolgung dieses Täters, da waren ja viele auch überrascht, dass die Polizei jetzt zurückgreifen muss auf Bilder und Videos von Passanten, von Weihnachtsmarktbesuchern, die möglicherweise Aufschluss geben können über den oder über die Täter. Zeigt sich hier, dass es ein Fehler ist, dass wir in Deutschland nicht mehr Videoüberwachung haben?
Radek: In der Tat. Wir sind sehr zurückhaltend, was die Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen anbelangt, an Kriminalitätsschwerpunkten. Da muss auch noch nachgebessert werden. Da haben wir Defizite. Wir brauchen vor allen Dingen eine Videotechnik, die auf dem neuesten Stand der Technik ist. Das haben ja die schrecklichen Ereignisse auch in der Silvesternacht gezeigt, dass wir zwar eine Videoüberwachung hatten am Hauptbahnhof in Köln, aber die Videobilder produziert haben, die nichts vor Gericht Verwertbares hervorgebracht haben. Wir brauchen da eine moderne Technik, die eine gute Ergänzung für eine polizeiliche Präsenz sein kann.
Armbrüster: Und diese Technik sollte alle Straßen in Deutschland, so wie das zum Beispiel in Großbritannien ja auch der Fall ist, ausleuchten, überwachen?
Radek: Ich wäre eher dafür - und das schreibt uns auch die Rechtsprechung in Deutschland vor -, dass dort, wo Polizei eine Gefährdungsprognose gemacht hat, von bestimmten Orten, von neuralgischen Punkten, im Umfeld beispielsweise von Bahnhöfen, dass wir dort eine Videoüberwachung haben, weil eine Videoüberwachung hat zwar ihre Möglichkeiten in der Strafverfolgung und hat aber auch nur bedingte Wirkung in der Gefahrenabwehr. Wir dürfen uns da auch nicht zu viel von versprechen.
Armbrüster: Sind denn auch Weihnachtsmärkte solche neuralgischen Punkte?
Radek: Alle Plätze, wo wir Ansammlungen von Menschenmassen haben, können zu solchen Punkten werden. Man muss prüfen, ob man das mit mobilen Komponenten überbrücken kann, weil ich denke, dass wir auch hier unsere Zivilgesellschaft schützen müssen. Wir dürfen uns nicht von den Tätern jetzt das Handeln aufzwingen lassen und wir dürfen auch vor allen Dingen nicht den Eindruck erwecken, als wenn wir eine hundertprozentige Sicherheit herstellen können. Das wäre fatal.
Armbrüster: Aber fatal ist ja auch, dass es jetzt keine Videobilder gibt, und da gibt es immer den Satz, dass solche Kameras keine Verbrechen verhindern können. Aber wir können hier an diesem Mittwochmorgen zumindest auch festhalten: Wenn es solche Videoüberwachung gegeben hätte, dann hätte man den tatsächlichen Täter möglicherweise schon, und der läuft jetzt weiter als Bedrohung herum.
Radek: Da bin ich bei Ihnen. Das zeigen ja auch andere Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit, beispielsweise der U-Bahn-Treter in Berlin, dass wir dort mit einer Öffentlichkeitsfahndung, auch basierend auf gutem Videomaterial, den Täter stellen konnten. Das wäre mit Sicherheit hilfreich, wenn man so eine Videoüberwachung hat, die an neuralgischen Punkten stattfindet, dort wo wir auch Gefahrenmomente haben.
Wie eine offene Gesellschaft schützen?
Armbrüster: Videoüberwachung ist das eine. Wir kennen es aus anderen Ländern, zum Beispiel auch aus Frankreich: Da werden Weihnachtsmärkte noch auf ganz andere Weise abgesichert, zum Beispiel mit Beton-Pollern, die verhindern, dass dort LKWs in solche Menschenmengen rasen können. Hätte man das nicht eigentlich auch in der deutschen Hauptstadt schon viel früher machen können, viel früher machen müssen?
Radek: Wir stehen hier genau vor einer Abwägungsfrage: Die Abwägungsfrage, inwieweit wir eine offene Gesellschaft schützen können, und die Frage, wie kann man das mit technischer Unterstützung, wie kann man das mit Manpower, wie kann man das mit Datenüberwachung tun. Und wenn man beispielsweise von Sicht der Verkehrstechnik zu dem Schluss kommt, ja, es wären Poller möglich gewesen, das entzieht sich aber jetzt meiner Kenntnis, ob man an dem Ereignisort Budapester Straße, Kantstraße - das sind Schlagadern der Verkehrsströme hier in Berlin -, ob man in Erwägung gezogen hat, dort Poller zu setzen, die dann eine erhebliche Verkehrsbehinderung bedeutet hätten. Das ist genau wie bei Kontrollen von Grenzen. Jeder verlangt Kontrollen der Grenzen, aber beklagt sich anschließend, dass wir lange Staus haben und dass wir Unterbrechungen im Personenverkehr haben.
Armbrüster: Sie haben jetzt noch mal das Wort von der offenen Gesellschaft gebraucht. Ich kann mir vorstellen, dass sich da viele jetzt fragen, warum widersprechen Videoüberwachung und Beton-Poller einer offenen Gesellschaft. Leute können sich nach wie vor frei versammeln. Der Straßenverkehr läuft vielleicht nicht mehr so reibungslos, aber sie können sich nach wie vor frei versammeln und frei sprechen.
Radek: Auch das ist richtig. Wir müssen, glaube ich, jetzt eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, wenn wir eine offene Gesellschaft haben, wo ziehen wir hier die Grenzen. Ist es akzeptabel, dass wir ähnlich wie in Frankreich mit gepanzerten Fahrzeugen durch die Straßen patrouillieren, welche Gefühle vermittelt das in der Gesellschaft, ist das adäquat gegenüber dem Angstgefühl, dass wir einen Flüchtigen haben, ist das adäquat gegenüber einem Unsicherheitsgefühl, das ich nachvollziehen kann, wo liegt die Grenzziehung. Ich denke, das müssen wir jetzt gesellschaftlich ausdiskutieren, um auch uns zu wappnen, dass wir Werte, die wir haben, nicht preisgeben.
Armbrüster: Jörg Radek war das, der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Vielen Dank, Herr Radek, für Ihre Zeit heute Morgen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.