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Fall Orlandi ungeklärt

Als vor 30 Jahren die Tochter eines päpstlichen Kammerdieners entführt wurde, begann für den Heiligen Stuhl eine unangenehme Geschichte. Ranghohe Vertreter des Kirchenstaates schienen Verbindungen zu den Tätern zu haben. Bis heute laufen die Ermittlungen.

Von Thomas Migge |
    "Wenn ermittelnde Staatsanwälte erklären, dass es ihrer Meinung nach im Vatikan Personen gibt, die über die Hintergründe der Entführung meiner Schwester Bescheid wissen, ist das schon erstaunlich. Das heißt doch nichts anderes, als dass es stichhaltige Indizien für diese Behauptung gibt"

    Pietro Orlandi hat Jahre lang erklärt, dass er von der Existenz vatikanischer Hintermänner überzeugt sei, die wissen, warum seine Schwester verschwand und was aus ihr wurde. Dass jetzt auch Staatsanwälte genauso wie er denken, ist für den Römer ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Wahrheit. Eine Wahrheit, auf die nicht nur Pietro Orlandi seit Jahrzehnten wartet, sondern auch Italiens Öffentlichkeit, denn der Fall Emanuela ist nach wie vor präsent.

    Vor genau 30 Jahren, am 22. Juni 1983 wurde Emanuela Orlandi, die damals 15-jährige Tochter eines päpstlichen Kammerdieners, am helllichten Tag auf offener Straße entführt. Sie war auf dem Weg zum Musikunterricht, berichtet Fabrizio Peronaci, Vatikanexperte der Tageszeitung "Corriere della sera":

    "Einerseits haben wir es hier mit dem Drama einer Familie zu tun, deren Tochter spurlos verschwand. Andererseits geht es um eines der ganz großen Geheimnisse Italiens. Die Entführung Emanuelas wirft einen langen Schatten auf die Vergangenheit."

    Und auf den Heiligen Stuhl. Davon sind inzwischen selbst die kritischsten Kenner der Entführung – Politiker und Staatsanwälte – überzeugt. Die Entführung, die von der Polizei, an die sich die Eltern nach dem Verschwinden ihrer Tochter wandten, zunächst nicht ernst genommen wurde, entwickelte sich schon bald zu einem Fall, an dem der Heilige Stuhl, der italienische Staat, die Vatikanbank IOR, Geheimdienste und die sogenannte Banda della Magliana, Roms berühmt-berüchtigte Mafia, beteiligt waren oder immer noch sind.

    Die Ermittler tappten zunächst im Dunkeln. Am 3. Juli 1983 appellierte Papst Johannes Paul II. an die Entführer, das Mädchen wieder freizugeben. Tage später erhielt die Familie Orlandi eine Reihe anonymer Telefonanrufe. Die Anrufer behaupteten, dass Emanuela von türkischen Terroristen, den sogenannten Grauen Wölfen, entführt worden sei. Deren Ziel sei es, die Freilassung von Papstattentäter Ali Agca zu erzwingen. Der hatte am 13. Mai 1981 auf den Papst aus Polen geschossen.

    In weiteren anonymen Anrufen war die Rede von einer Geldsumme, die eine Gruppe Krimineller, Mitglieder der Banda della Magliana, dem Vatikan geliehen haben solle, die dieser aber nicht zurückzahlen habe wollen. Mit der Entführung der Tochter eines Vatikanangestellten wolle man, so hieß es, den Kirchenstaat unter Druck setzen.

    Im Fall Emanuele entstand eine Gerüchteküche unermesslichen Ausmaßes, meint Gianluigi Nuzzi, investigativer Journalist und Enthüller der Vatileaks-Affäre:

    "Beschäftigt man sich mit dem Fall Orlandi, hat man es mit so vielen sich widersprechenden Dokumenten, Indizien und Vernehmungsergebnissen zu tun, dass einem ganz schwindelig werden kann. 1997 schließlich wurde der Fall Orlandi von der Staatsanwaltschaft archiviert: Man hatte keine eindeutigen Beweise gefunden, um weiter zu ermitteln. Dabei beachtete man aber in keiner Weise die deutlichen Zusammenhänge zwischen der Entführung und bestimmten Personen im Vatikan."

    Zusammenhänge, die vor wenigen Jahren dazu führten, dass sich erneut Ermittlungsbehörden mit dem Fall beschäftigen.

    In den 30 Jahren seit dem Verschwinden des Mädchens wurden so viele Hinweise und Indizien zusammengetragen, dass heute die Mitwisserschaft seitens einiger Führungspersönlichkeiten innerhalb des Kirchenstaates nicht ausgeschlossen scheint.

    Im vergangenen Jahr zum Beispiel erklärte Sabrina Minardi, die Geliebte des 1990 in einem Hinterhalt erschossenen römischen Banditen Enrico de Pedis, dass ihr Partner Emanuele Orlandi nicht nur entführt, sondern auch getötet und in einer Betonmischmaschine am Stadtrand entsorgt habe. Minardi sagte den Ermittlungsbehörden gegenüber ebenfalls, dass de Pedis im Auftrag des damaligen Präsidenten der Vatikanbank IOR, Erzbischof Paul Marcinkus, gehandelt habe. Diese Aussage, so Vatikanexperten wie Gianluigi Nuzzi, sei eine weitere Bestätigung für die damaligen schmutzigen Geldgeschäfte zwischen der Vatikanbank und der Banda della Magliana, der de Pedis angehörte.
    Verhaftete ehemalige Mitglieder der kriminellen Organisation bestätigten die Aussagen von Sabrina Minardi. Die Vatikanbank, so der Kern der Aussagen, stand mit Kriminellen unter einer Decke – es ging um lukrative Geldgeschäfte.

    Im Mai 2012 wurde in der römischen Basilika Sant' Appolinare von der Polizei eine Gruft geöffnet. In einer Seitenkapelle, in der eigentlich nur Kardinäle und Bischöfe ihre letzte Ruhe finden. Vor der Kirche demonstrierten Hunderte von Römern und riefen immer wieder "Die Wahrheit! Die ganze Wahrheit!"
    In der Gruft war wenige Jahre zuvor de Pedis beigesetzt worden – mit dem Segen des damaligen stellvertretenden Erzbischofs von Rom, Kardinal Ugo Poletti. Der Rektor der Basilika, Pietro Vergari, war bei der Grablegung nicht nur hilfreich, sondern erklärte auch, dass sich der Tote, immerhin einer der brutalsten Kriminellen Roms, ernsthaft darum bemüht habe, ein guter Christ zu sein. Deshalb sei man dem Wunsch seiner Witwe nachgekommen, den Verstorbenen in Sant' Appolinare beizusetzen. Eine Gunst, die vom Vatikan nur äußerst selten gewährt wird. Warum also, so fragen Ermittler, der Bruder der Entführten und die italienische Öffentlichkeit, gewährte man ausgerechnet einem Kriminellen die hohe Gunst einer Grablege in einer römischen Basilika.

    Der Journalist Pino Nicastro hat über den Fall Orlandi ein Buch geschrieben: Er ist skeptisch, ob die wirklichen Geschehnisse je ans Licht kommen:

    "Die Verantwortung des Vatikans kann derzeit nicht klar definiert werden. Dass es Zusammenhänge zwischen den Entführern und hohen Chargen im Kirchenstaat zu geben scheint, ist angesichts der Vielzahl an Indizien nicht von der Hand zu weisen. Meine Hypothese ist die: Wer sich, wie der Vatikan, 30 Jahre lang strikt weigert, im Fall der Entführung der Tochter eines eigenen Mitarbeiters, mit den italienischen Behörden zusammenzuarbeiten, der tut dies, weil es wichtige Hintergründe zu verschweigen gilt."