Archiv

Fall Semanya
Korrigierte Studie zu hohen Testosteronwerten

Eine Studie des Leichtathletik-Weltverbands hatte 2017 zum Ausschluss der hyperandrogenen Athletin Caster Semenya geführt. In ihr wurden erhöhte Testosteronwerte ursächlich als leistungssteigernd beschrieben. Nun wurde die Aussage revidiert. Doch Betroffene hoffen wohl vergeblich.

Von Jutta Heeß |
Semenya trägt ihr Lauftrikot und lächelt.
Die Südafrikanerin Caster Semenya durfte wegen einer umstrittenen Regel nicht über die 800 Meter in Tokio antreten (dpa/picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Jeff Chiu)
Olympische Spiele 2016. In Rio de Janeiro gewinnt Caster Semenya die Goldmedaille über 800 Meter – zum zweiten Mal nach ihrem Sieg in London vier Jahre zuvor. Bei den diesjährigen Spielen in Tokio durfte die Südafrikanerin ihren Titel nicht verteidigen – eine umstrittene Regel des Leichtathletikweltverbandes World Athletics untersagte ihr die Teilnahme über 800 Meter. Semenya ist hyperandrogen. Sie hat von Natur aus erhöhte Testosteronwerte und will diese nicht medikamentös senken, um unter die festgelegte Obergrenze zu kommen und somit startberechtigt zu sein.

Neue Brisanz durch korrigierte Studie

Nun verleiht eine aktuelle Veröffentlichung dem Fall neue Brisanz: Die wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2017, die Testosteron ursächlich als leistungssteigernd beschrieb, wurde korrigiert. Dieselben Wissenschaftler, die Franzosen Stephane Bermon und Pierre-Yves Garnier, schreiben im "British Journal of Sports Medicine", dass sich der kausale Zusammenhang von Testosteronwert und sportlicher Leistung nicht belegen lasse. Hyperandrogene Athletinnen haben demnach nicht zwingend Leistungsvorteile.
Gregory Nott, der Anwalt von Caster Semenya, kommentiert diese neue Wendung in einem Handy-Telefonat aus Südafrika:
"Man kann nur mit Zynismus darauf reagieren, dass dieser Bericht, auf den sich der Sportsgerichshof gestützt hat und der Casters Karriere praktisch beendet hat, nach den Olympischen Spielen veröffentlicht wird - von Wissenschaftlern, die sagen, dass er irreführend ist, dass er übertrieben ist. Es ist ein Schock. Und offen gesagt, ist es etwas, das man von der Wissenschaft nicht erwartet hätte."

Beruht der Ausschluss auf einer Fehleinschätzung?

Das Startverbot von hyperandrogenen Athletinnen an Laufwettkämpfen von 400 Metern bis einer Meile gilt seit 2018. Nach einer Klage von Semenya wurde es vom Internationalen Sportgerichtshof CAS 2019 zwar als diskriminierend eingestuft, doch zur Wahrung der Chancengleichheit und Integrität des Frauensports bestätigt. Auch das Schweizer Bundesgericht hatte Semenyas Beschwerde gegen dieses Urteil zurückgewiesen. Beruht der Ausschluss der 30-jährigen Südafrikanerin und weiterer Sportlerinnen auf einer wissenschaftlichen Fehleinschätzung?
Die Londoner Soziologin Payoshni Mitra: "Es gibt so viele Fragen, und diesen Kampf führen wir seit langem."
Die Londoner Soziologin Payoshni Mitra: "Es gibt so viele Fragen, und diesen Kampf führen wir seit langem." (privat)
Die Soziologin Payoshni Mitra aus London kämpft schon seit Jahren gegen Diskriminierungen von Athletinnen mit intersexuellen Anlagen.
"Was mich wütend macht, ist die Tatsache, dass sie diese Ausschluss-Regel auf eine Studie stützen konnten, die überhaupt nicht angemessen war. Diese Regel hat junge Frauen gezwungen, lebensverändernde Entscheidungen für ihren Körper und ihr Leben zu treffen, nur weil sie an Wettkämpfen teilnehmen wollten, und das auf der Grundlage von Wissenschaft, die irreführend ist. Es ist unglaublich, dass World Athletics so gehandelt hat und dann so etwas veröffentlichen kann - ohne Entschuldigung."

"Es gibt so viele Fragen"

Eine Sprecherin des Leichtathletikweltverbandes erklärt in einer E-Mail, dass die Klarstellung der Ausgangsstudie bereits 2018 vorgenommen wurde und schon zu den Beweisen der Anhörung des Internationalen Sportgerichtshofes gehörten. Warum sie jetzt im "British Journal of Sports Medicine" erschienen sei, wisse man nicht. Seit dem Urteil 2019 seien weitere wissenschaftliche Untersuchungen veröffentlicht worden, die die Schlussfolgerung untermauern, dass ein hoher Testosteronspiegel bei Frauen die sportliche Leistung verbessere. Und der World-Athletics-Präsident Sebastian Coe sagte in der BBC: "Wir stehen absolut zu dieser Regel. Sie wird von zehn Jahren solider wissenschaftlicher Erkenntnis untermauert."
Die Londoner Soziologin Payoshni Mitra sieht das anders:
"Wie kann es sein, dass zwei Wissenschaftler, die der eigenen Organisation angehören, diese Studie durchführen? Das soll unabhängig sein? Es gibt so viele Fragen, und diesen Kampf führen wir seit langem. Das ist unverantwortliches Sportmanagement. Und das kann so nicht weitergehen. Das Leben eines jeden Menschen ist wichtig, und World Athletics muss das anerkennen und die Testosteronregel sofort zurücknehmen."

"Wir kämpfen gegen die Vorschriften"

Gregory Nott, der Caster Semenya zurzeit bei ihrer Klage gegen das Startverbot vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertritt, will diese Erkenntnisse in das Verfahren einbringen. Dennoch glaubt er nicht, dass World Athletics die umstrittene Testosteronregel streichen wird.
"Ich wäre glücklich, wenn das passiert, aber um ehrlich zu sein, rechne ich nicht damit. Es gibt viele Druckmittel und viele Rechtfertigungen für das, was World Athletics tut. Also müssen wir, Casters juristisches Team, ihr den Rücken stärken und gegen die Vorschriften kämpfen. Wir haben die Unterstützung des südafrikanischen Parlaments, wir haben die Unterstützung der Gender-Kommission. Wir haben die Unterstützung der Menschenrechtskommission in Südafrika und vieler NGOs weltweit. Wir hoffen, dass die überwältigende Unterstützung der Weltbevölkerung die Ungerechtigkeit in all dem sieht, und Caster als Person mit Menschenwürde behandelt. Das fordern wir vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein."
Caster Semenya ist Doppel-Olympiasiegerin und dreifache Weltmeisterin über 800 Meter. Ihr wichtigster Kampf jedoch, der Weg zurück auf die Laufbahn, gleicht einem Marathon.