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Fall Skripal
"Konkret definieren, was man von Russland erwartet"

Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, appelliert an den Westen, einen konstruktiven Dialog mit Moskau zu suchen. Deutschland habe im Fall Skripal unter Druck gestanden, Solidarität mit Großbritannien zu zeigen, sagte er im Dlf. Er mahnte, das Eskalationsrad nicht weiterzudrehen.

Gernot Erler im Gespräch mit Dirk Müller |
    Der Bundestagsabgeordnete Gernot Erler (SPD) spricht am 24.04.2015 im Deutschen Bundestag in Berlin anlässlich der Debatte zu den Massakern an Armeniern 1915/16. Foto: Britta Pedersen/dpa (zu dpa "Erler: Deutschland will Türkei und Armenien bei Versöhnung helfen" vom 24.04.2015) | Verwendung weltweit
    Gernot Erler (SPD) - in der Bundesregierung zuständig für die deutsch-russischen Beziehungen (dpa / Britta Pedersen)
    Dirk Müller: Das waren noch Zeiten, mögen vielleicht einige denken: Der Kalte Krieg. Da wurde über viele Phasen auch reichlich miteinander gesprochen, konferiert, gelacht, gescherzt und deftig gemeinsam gegessen und vor allem auch getrunken. Mit Breschnew zum Beispiel, mit Michail Gorbatschow, später dann auch mit Boris Jelzin und selbst mit Wladimir Putin. Doch jetzt ist alles anders seit ein paar Jahren. Die Ostukraine ist dazugekommen, die Krim, der Syrien-Krieg, die Trump-Wahl, die Hacker-Angriffe, die Doping-Fälle, der Fall Skripal. Der Westen gibt Kontra, reagiert, agiert – mit Sanktionen, mit Manövern, mit einer vergrößerten NATO, mit mehr Soldaten, mit Ausweisungen von Diplomaten. Aus Sicht der westlichen Regierungen versteht Moskau keine andere Sprache mehr als Druck, als Gegenmacht, als Bestrafung. Über den Fall Skripal gibt es nun Neues aus London.
    Viele warnen jetzt vor einer Eskalation, wir haben Günter Verheugen gehört, vor unkontrollierbaren Effekten, was auch immer das heißen soll. Wo sind die Beweise für Russlands Verantwortung, für Russlands Schuld? 30 Regierungen wissen offenbar viel mehr als die Öffentlichkeit in diesem Fall, solidarisieren sich dann mit Großbritannien, vielleicht dann auch mit den Vereinigten Staaten. Unser Thema mit dem SPD-Außenpolitiker Gernot Erler, in der Bundesregierung zuständig für die deutsch-russischen Beziehungen. Guten Morgen.
    Gernot Erler: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Erler, wieviel vorauseilender Gehorsam ist dabei?
    Erler: Ich glaube, dass es sich darum nicht handelt, sondern dass es sich um eine große Unzufriedenheit handelt, wie hier Moskau mit diesem Fall umgeht. Man bezieht sich nicht auf Beweise, sondern man sagt, es gibt Indizien, die die Spuren legen nach Moskau, und es gibt keine plausible alternative Erklärung für das, was vorgefallen ist. Und man muss zugeben, dass tatsächlich die bisherigen Reaktionen in Russland unbefriedigend sind. Es werden die Fragen nicht beantwortet, die gestellt worden sind, sondern es werden dann Fragen an Großbritannien gestellt und sogar die Schuld Großbritannien zugewiesen, die den Anschlag selbst inszeniert haben sollen.
    Müller: Ich muss da aber noch mal nachfragen, Herr Erler. Sie sagen, es gibt noch keine Beweise oder ausreichenden Beweise, sondern es geht um das Verhalten Moskaus. Habe ich das richtig verstanden?
    Erler: Ja, eindeutig. Auch in der Erklärung der Bundesregierung steht drin, dass es unbefriedigend ist, wie bisher Russland reagiert hat, dass keine konstruktive Zusammenarbeit bei der Aufklärung dieses Falles geleistet wird, und damit wird auch dieser ja doch eher im symbolischen Bereich liegende Abzug von Diplomaten bei jetzt fast 30 Ländern begründet.
    Müller: Machen wir das jetzt immer so in der internationalen Politik? Wenn etwas unbefriedigend ist, dann sanktionieren wir?
    Erler: Nein! Ich muss sagen, dass die Warnungen vor dieser Entwicklung durchaus berechtigt sind. Wir befinden uns seit längerer Zeit in einem Entfremdungsprozess zwischen Russland und dem Westen, wozu natürlich das Verhalten in Sachen Krim und Ukraine sehr stark beigetragen haben, aber auch andere Maßnahmen. Im Augenblick haben wir einen Eskalationsprozess, der sich dadurch kennzeichnet, dass jede Seite sich immer auf das Verhalten des anderen beruft und sagt, wir reagieren überhaupt nur. Der Westen reagiert auf dieses unbefriedigende Verhalten bei der Aufklärung in Moskau und Russland zögert im Augenblick mit der Reaktion, aber sie wird kommen auf die Ausweisung der Diplomaten, und keiner weiß im Augenblick, wie man diese Eskalationsspirale anhalten kann, und das ist schon wirklich beunruhigend.
    "Konstruktiven Dialog mit Russland suchen"
    Müller: Sie sagen es: beunruhigend, unbefriedigend. Ich muss noch mal darauf eingehen. Ist das jetzt ein Maßstab für internationale Politik, um Diplomaten auszuweisen, auch wenn darunter viele Agenten ja mit großer Wahrscheinlichkeit sind? Unbefriedigend - ist das ein Kriterium?
    Erler: Ich kann ja nur den Zustand beschreiben, den wir im Augenblick da haben, und sagen, was ich mir vorstellen könnte, wie man aus der Situation herauskommt. Ich fände jetzt sehr wichtig, dass der Westen nicht nur reagiert und sagt, wir treffen jetzt diese Maßnahmen, um unseren Unmut zu zeigen, sondern auch mal sagt, wie man dann zu dem konstruktiven Dialog kommt, zu dem man sich ausdrücklich parallel auch immer bekennt. Diese Maßnahmen sind immer verbunden mit einem klaren Bekenntnis dazu, dass man den konstruktiven Dialog mit Russland sucht. Dazu müsste man jetzt aber mal definieren, was man eigentlich konkret in dem Fall Skripal von Russland erwartet. Das ist nicht so ganz klar.
    Müller: Finden Sie das auch nicht richtig, was gemacht wird von Seiten des Westens?
    Erler: Nein. Ich finde, es muss noch etwas anderes folgen. Man muss auch einen Schalter haben, um eine Eskalation auch wieder anzuhalten. Sonst geht sie unkontrolliert immer weiter und wir wissen nicht, wo das endet.
    Müller: Wer hat den Schalter in der Hand? Wer manipuliert und fingert den?
    Erler: Beide haben den in der Hand. Ich meine, Russland ist im Augenblick völlig fassungslos, dass der Westen trotz der Tragödie von Kemerowo mit den fast 40 getöteten Kindern jetzt diese Maßnahmen trifft, und ist in einer Art Schockstarre im Augenblick, angesichts dieses Vorgangs. Russland müsste aber dringend jetzt auch etwas tun, um einen eigenen konstruktiven Beitrag zur Aufklärung dieses Falles Skripal zu leisten, und der Westen müsste klar definieren, welche Erwartungen er an Russland hat. Dann wird das auch glaubwürdig mit der Offenheit für einen konstruktiven Dialog.
    Müller: Sie sprachen jetzt den verheerenden Brand im Einkaufszentrum in Sibirien an. Deswegen hat die russische Politik, sagen viele im Moment, sich zurückgehalten. Gestern war Trauertag. Das heißt, Sie rechnen jetzt im Grunde stündlich, zumindest täglich damit, dass eine harte Reaktion aus Moskau jetzt kommen wird?
    Erler: Das ist zu erwarten. Es ist auch angekündigt. Aber es ist auch vielleicht eine Chance, dass durch diese Tragödie in Kemerowo mit diesem Brand eine Verzögerung eingetreten ist, so dass die Schlagzahl dieser Eskalationsspirale zunächst einmal ausgesetzt ist. Das ist auch eine Chance, nach Wegen zu suchen, wie man rauskommt aus der Spirale und tatsächlich zu einem Prozess, der wirklich der Aufklärung dieses Falles dient, und nicht nur der gegenseitigen Beschuldigung.
    "Wir haben schon länger einen Entfremdungsprozess"
    Müller: Jetzt sind ja immer mehr Bürger, auch Beobachter, Gernot Erler, Sie ja auch – ich höre das ja raus -, besorgt. Eskalationsspirale, keiner weiß, wo das endet. Sie sagen, der Schalter muss irgendwie mal umgelegt werden. Wir haben über die Kriterien gesprochen. Sie sagen selbst, auch keine ausreichenden Beweise. Das haben wir auf der anderen Seite immer gehört in den vergangenen Tagen, dass es die offenbar gibt, dass die nur nicht freigegeben werden. Auf der anderen Seite hat unser Korrespondent Thomas Spickhofen eben darüber berichtet, dass 250 Ermittler an diesem Fall noch arbeiten, so viele wie lange Zeit nicht mehr, und das Ergebnis noch nicht feststeht. Also sind wir prophylaktisch, der Westen, jetzt gegen Russland vorgegangen? Unbefriedigend, das war das andere Stichwort. Wenn jetzt einige die Türkei ins Spiel bringen oder Saudi-Arabien, da sind auch viele Dinge völlig unbefriedigend, und da reagieren wir wesentlich phlegmatischer, gelassener oder weniger entschlossen. Ist das so?
    Erler: Es ist in der Tat ein Sonderfall, was Russlands Verhältnis mit dem Westen angeht, und ich führe das darauf zurück, dass wir schon länger einen Entfremdungsprozess haben. Der Westen hatte immer eigentlich ein gutes Gewissen, was den eigenen Umgang mit Russland angeht, aber in Russland ist vieles ganz anders gedeutet und interpretiert worden, zum Beispiel mit dieser langen Liste von Vorwürfen, von der Osterweiterung der NATO bis hin zum Irak-Krieg, zum Kosovo-Krieg, zu den sogenannten farbigen Revolutionen. Das wurde alles als antirussisch verstanden.
    Müller: Sind das Fakten, die Sie akzeptieren aus der russischen Sichtweise?
    Erler: Das sind, sage ich mal, Fakten, die in einer negativen Weise interpretiert werden, denen andere Fakten gegenüberstehen, die dann von Russland aber eben nicht herangezogen werden, um das eigene Verhältnis zum Westen zu definieren, und dadurch ist ein Entfremdungsprozess entstanden, der inzwischen ja auch dazu führt, dass wir ständig mehr Militärübungen haben auf beiden Seiten, dass Transparenzregeln bei diesen Militärübungen nicht eingehalten werden, dass Abrüstungsverträge in Frage gestellt oder gekündigt werden, wie das Plutonium-Abkommen durch Russland, wie die mögliche Verletzung des INF-Vertrages mit dem Verbot von Mittelstreckenwaffen. Das sind alles Beiträge zu einer Eskalation und da muss man das auch einordnen, den Fall Skripal. Sonst kann man den gar nicht verstehen. Der ist ein Teil dieses Entfremdungsprozesses und umso wichtiger ist es, dass er jetzt nicht als Sprungbrett zur nächsten Stufe von Eskalation beiträgt.
    Müller: Der Westen trägt aber auch dazu bei, sagen Sie? Der macht mit?
    Erler: Der Westen reagiert auch immer nach dem Motto, ich reagiere ja nur, und wir sehen das jetzt auch an dem Verhalten der NATO.
    Müller: Weiß das denn die Kanzlerin nicht, Herr Erler? Warum sagt die Kanzlerin nicht, nee, wir müssen ein bisschen einlenken? Gerade Berlin und Moskau, das ist eine ganz wichtige politische Verbindung, auch historisch immer gewesen und erst recht nach den Erfahrungen des Kalten Krieges und der Geschichte. Warum ist die Kanzlerin in dem Punkt nicht offensiver und greift zum Telefon, greift zum Hörer?
    Erler: Die Kanzlerin steht genauso wie alle westlichen Staatenlenker im Augenblick unter dem Druck, Solidarität mit Großbritannien zu zeigen.
    "Klar sagen, was man von der anderen Seite erwartet"
    Müller: Ist das wichtiger als Vernunft?
    Erler: Man kann es ja miteinander verbinden. Es ist ja kein Gegensatz. Man kann ja durchaus Solidarität zeigen und trotzdem sich darum bemühen, diesen berühmten Schalter zu finden, der die Eskalation stoppt, und zurückkommen zu einem rationalen Prozess, bei dem klar gesagt wird, was man von der anderen Seite erwartet, aber auch selber dazu beiträgt, dass dieses Eskalationsrad sich nicht weiterdreht.
    Müller: Macht die Kanzlerin eine gute Politik?
    Erler: Die Kanzlerin, glaube ich, hat wenig Möglichkeiten. Es wäre falsch gewesen, irgendeine deutsche Sonderrolle hier anzustreben. Wir haben uns so verhalten wie die Mehrzahl der EU-Staaten sich auch verhalten haben. Aber ich sage ja, was jetzt sinnvoller Weise dazukommt, damit dieser Prozess, ich mach ja gar nichts aus eigener Autonomie heraus, sondern ich reagiere ja nur auf den anderen. Das ist ja auch ein Verzicht auf Autonomie des eigenen Handelns und das ist kein guter Ratgeber für Politik.
    Müller: Herr Erler, ich muss Sie das jetzt fragen, weil ich ja weiß, dass Sie ihn sehr, sehr gut kennen, und Sie sind seit Jahrzehnten ja im deutsch-russischen Verhältnis sehr, sehr engagiert. Wir haben über Angela Merkel gesprochen, die Kanzlerin. Viele reden im Moment immer wieder auch über den Ex-Kanzler, über Gerhard Schröder, über Ihren Parteifreund. Da gibt es harte Kommentare gegen ihn, willfähriger Vasall des Kremls, Russlands bester Kanzler ist zu lesen, Aufsichtsratschef beim Energieriesen Rosneft. Inwieweit schadet Gerhard Schröder der ganzen Sache?
    Erler: Ich höre und lese da viele Übertreibungen in dieser Angelegenheit. Gerhard Schröder selber sagt immer, was ich da im wirtschaftlichen Bereich mache, ist, nachdem ich schon lange nicht mehr Kanzler bin, meine Privatsache. Das ist die Position von ihm.
    Müller: Was sagen Sie? Ärgert Sie das?
    Erler: Angenehm ist das Ganze nicht, aber man darf es auch wirklich nicht übertreiben und die Rolle von Gerhard Schröder vergrößern, als sie wirklich ist.
    Müller: Ist das nicht auch eine Chance, was er macht? Ist das nicht eine Chance, seine Kontakte zu nutzen?
    Erler: Ich glaube, dass es mehrere Fälle schon gegeben hat, wo das tatsächlich der Fall ist. Aber das wird natürlich in der Öffentlichkeit dann weniger sensationell wahrgenommen.
    Müller: Sie sagen, im Grunde ist das okay, da sollten wir nicht weiter großes Bohei drum machen?
    Erler: Nein! Ich stelle einfach fest, dass er diesen Anspruch erhebt, dass das, was er da macht mit seinen russischen Kollegen, seine Privatsache ist, und da ist schwer etwas dagegen zu sagen.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Gernot Erler (SPD), in der Bundesregierung der Koordinator für die deutsch-russischen Beziehungen. Danke, dass Sie wieder für uns Zeit gefunden haben.
    Erler: Gerne!
    Müller: Auf Wiederhören.
    Erler: Auf Wiederhören!
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