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"Familie ist eine Option"

Aus Sicht des Schriftstellers John von Düffel gewinnt die Familie heutzutage mehr und mehr die Bedeutung einer "Option". "Man entscheidet sich, Familie zu haben, entscheidet sich auch, ob man es sich leisten kann, Familie zu haben. Und da kann man sehen, dass Familie viel mehr ein Planungsthema, ein Thema im Kopf geworden ist und sich manchmal sogar Familie mehr in das Virtuelle verlagert als in die Realität oder Wirklichkeit", sagte Düffel.

Doris Schäfer-Noske |
    Doris Schäfer-Noske: Als der letzte "Harry Potter"-Roman rauskam, da gab es einen Aufschrei seitens mancher Kritiker. Die hatten sich nämlich eine Veränderung der Welt durch den Zauberlehrling erwartet und rieben sich nun enttäuscht die Augen. Am Schluss schicken Harry und Ron ihre Kinder auf die Zaubererschule nach Hogwarts, und das Fantasy-Märchen könnte seine Fortsetzung in einer Familiengeschichte finden. Das plant die Autorin allerdings nicht.

    Wenn nun in der Literatur zurzeit ein Boom von Familienromanen und Generationserzählungen festgestellt wird, dann ist damit natürlich nicht das nostalgische Beschwören alter Familienmuster gemeint. Eine Tagung des Zentrums für Literaturforschung in Berlin hat sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Eingeladen waren auch einige Autoren, darunter Arno Geiger, Eva Menasse und John von Düffel. Mit Letzterem habe ich vor dieser Sendung gesprochen, und ich habe ihn gefragt, wie sich denn die heutigen Familienromane von denen früherer Generationen unterscheiden - zum Beispiel von Thomas Manns "Buddenbrooks".

    John von Düffel: Na ja, die "Buddenbrooks" sind ja eine Geschichte, wo vom schönen Miteinander der Generationen erzählt wird. Die wohnen aller unter einem Dach, fast geradezu bäuerlich-bürgerlich unter einem Dach. Und die Generationen geben sozusagen immer die Staffel weiter, haben aber einen Großteil von Zusammenleben. Und dieses Miteinander und Nacheinander der Generationen hat sich sicherlich aufgelöst. Heute kann man Generationengeschichten nur in einem Nebeneinander erzählen. Die Großeltern wohnen dort, die Eltern wohnen noch mal wo ganz anders, und die Enkelkinder beziehungsweise Kinder leben noch an einem ganz anderen Ort. Die Familien haben sich sehr zersplittert.

    Schäfer-Noske: Verstehen Sie so auch den Titel der Veranstaltung, der lautete "Am Nullpunkt der Familie"?

    Düffel: Ja, es ist so eher vielleicht ein zeitlicher Nullpunkt, wo man sagt, viele Familienromane haben eine Art Familienvergangenheitsbewältigung geleistet, blicken zurück auf Familie. Und man fragt sich so ein bisschen, was wird denn die Familie der Zukunft sein. Wie wird die aussehen? Und man steht sozusagen an einem Punkt, wo man weiß, so wie Familien bisher waren, werden sie vielleicht in Zukunft nicht mehr sein, und was ist die Struktur, die Familienstruktur der Zukunft?

    Schäfer-Noske: Warum ist denn das Thema Familie und Generationenkonflikt heute so präsent in der Literatur? Gab es darauf eine Antwort bei der Tagung?

    Düffel: Man kann auf jeden Fall erst mal konstatieren, dass die Zeit des Großstadtnomaden, der sich um sein Ich kümmert und ansonsten losgelöst von allen familiären und gesellschaftlichen Zusammenhängen durch Berlin-Kreuzberg oder Berlin-Mitte surft, diese Großstadtnomadenzeit, in der Literatur zumindest, ist vorbei. Das heißt, viele Romane stellen die Frage erstmal nach einer Form von Zugehörigkeit, die Frage, wo komme ich her, was hat mich bedingt, was auch die Fremdbestimmung durch eine Familie oder durch die sozialen Ausgangbedingungen von einem selber? Das heißt, da hat man sich doch mehr wieder auf Kontexte besonnen und das große Singletum ad acta gelegt.

    Schäfer-Noske: Sie haben vor etwa zehn Jahren mal geschrieben, die kleinste terroristische Einheit sei die Familie. Sehen Sie das bis heute so?

    Düffel: Ja, es ist natürlich auch so, dass oftmals Familie als der Kern von Gesellschaft gesehen wird. Ich denke schon, dass viele gesellschaftliche Praktiken in der Familie geübt werden und auch dort stattfinden. Man kann vielleicht eines sagen, momentan finden ja auch die großen Glaubenskriege bezüglich der Familie, "Glaubenskriege" in Anführungsstriche bitte, aber Glaubenskriege bezüglich Familie statt. Welches Familienmodell ist das richtige, das traditionelle oder die Patchwork-Familie? Da gibt es ja unheimlich viele ideologische Meinungsverschiedenheiten. Und es ist natürlich auch so, dass man sagen muss, gerade, was so Erziehung angeht unter Eltern, da gibt es die Strengen, die wieder auf Disziplin und alte Werte setzen, es gibt die Lockeren, die sagen, 68 hat sich nicht nur getäuscht, lass uns ein bisschen liberaler rangehen, da gibt es große, große Unterschiede und natürlich über allem die Frage, wie lebe ich richtig, wie lebt meine Familie richtig?

    Schäfer-Noske: Sie haben es selbst über die Fortysomethings und ihren plötzlichen Kinderwunsch geschrieben, auch ein Roman über ein Familienfest und die Vorbereitungen, und die Teilnehmer sind sich fremd geworden. Bei jedem gibt es diesen Anspruch, ich führe das richtige Leben. Was hat Sie denn an dem Thema Familie gereizt und reizt Sie immer wieder?

    Düffel: Was mich eigentlich bei den Roman "Houwelandt" gereizt hat, war wirklich die Frage, wie viel Familie ist noch übrig in einer Welt, wo es kein Miteinander der Generationen mehr gibt, wo sich diese Generationen voneinander losgelöst und losgesagt haben. Und die Feststellung war dabei schon, bei "Houwelandt", dass diese Familienmitglieder eben so einzeln und unabhängig voneinander gar nicht sind. Es gibt Muster, es gibt Verhaltensweisen, die sie zu einer Familie machen. Und es gibt eine Form von Hassliebe oder auch Nähe, der man nicht entkommen kann, selbst wenn man sich noch so fern von der Familie ansiedelt. Und was mich in dem neuesten Buch "Beste Jahre" interessiert hat, ist tatsächlich die Frage, wie geht eigentlich die Familie von denen weiter? Was werden das für Familien sein, die jetzt mit Hilfe von künstlicher Befruchtung ihre Wunschkinder bekommen, wo die Familie immer mehr in der Virtualität stattfindet? Denn eines kann man sagen, heute ist für die, sage ich mal, halbwegs ausgebildeten oder gebildeten Schichten ja Familie keine Selbstverständlichkeit mehr. Familie ist eine Option. Man entscheidet sich, Familie zu haben, entscheidet sich auch, ob man es sich leisten kann, Familie zu haben. Und da kann man sehen, dass Familie viel mehr ein Planungsthema, ein Thema im Kopf geworden ist und sich manchmal sogar Familie mehr in das Virtuelle verlagert als in die Realität oder Wirklichkeit.

    Schäfer-Noske: Das war der Schriftsteller John von Düffel über eine Tagung des Zentrums für Literaturforschung in Berlin zum Thema Familienromane.