Der Bezirk Marzahn Hellersdorf hat mit 37 Prozent den weitaus höchsten Anteil an Alleinerziehenden aller Berliner Bezirke. Vierzig Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren wachsen dort in Familien auf, die Hartz IV beziehen.
Nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung leben in Deutschland mittlerweile 18 Prozent der Minderjährigen in Ein-Eltern-Familien - in Berlin sogar jedes dritte Kind.
"Nudeln Bolognese, Paprika, Gurke, Melone. Wir packen immer 100 Teller raus, und ich denke mal, so 80 dürften das schon gewesen sein."
Eine warme Mahlzeit für Bedürftige
In der Hellersdorfer Arche, einer ehemaligen Plattenbau-Schule im Berliner Norden, verteilen die Mitarbeiter an jedem Werktag ein kostenloses warmes Mittagessen an bedürftige Kinder und deren Eltern.
Die neunjährige Lina kommt jeden Tag hierher - und zwar nicht nur zum Essen. Dass ihre Mutter nicht viel Geld hat, hat die Grundschülerin bereits verstanden.
"Ich finde schön, dass sie hier ganz viele Sachen mit uns machen, zum Beispiel die Hoffeste, und dass wir alles kostenlos haben, die Hüpfburgen - auch alles kostenlos. Weil die meisten ja hierher kommen, weil sie nicht so viel Geld haben und weil sie nicht so viel Geld haben für Essen kaufen und so."
Linas Mutter Andrea ist 35 Jahre alt und alleinerziehend. Sie arbeitet in Teilzeit bei einem sozialen Träger und verdient dabei so wenig, dass das Amt aufstocken muss. Sechshundert Euro Miete zahlt sie für ihre Drei-Raum-Wohnung - nach Abzug aller Kosten bleiben gut 500 Euro im Monat übrig, für sich selbst, Lina und deren beiden Schwestern. Keiner der verschiedenen Väter der Mädchen zahlt Unterhalt. Auch Linas Mutter kommt fast täglich zum Essen in die Arche.
"Um Geld zu sparen, weil Mittagessen jeden Tag für 4 Personen ja auch kostet, weil man ja Kartoffeln kochen muss, und wenn es dann mal Fleisch oder irgendwas sein soll, bist du dann ja auch schon bei 10, 15, 20 Euro dabei, wenn es für alle reichen soll. Von daher gehen wir in der Woche hier essen."
Mit dem eingesparten Geld geht sie lieber mit den Kindern mal ins Kino oder in den Tierpark. Das wäre sonst nicht möglich.
Studie: Leistungen erreichen arme Familien oft nicht
Linas Familie ist kein Einzelfall: Familien mit geringem Einkommen sind in den letzten 25 Jahren immer weiter abgehängt worden und haben offenbar oft noch weniger Geld zur Verfügung, als bisher vermutet - das ist jedenfalls eine der Kernaussagen einer Studie, die die Bertelsmann-Stiftung herausgegeben hat.
"Wir analysieren das Verbrauchsverhalten privater Haushalte verschiedener Größe", sagt Sozialforscher Martin Werding. "Wir glauben, dass die zusätzlichen Ausgaben, die zusätzlichen Bedarfe pro Kind, pro Erwachsenem vom Einkommen abhängig bei armen Haushalten sehr viel höher sind als bei reichen Haushalten."
Arme Familien müssen einen prozentual größeren Teil ihres Einkommens für ein Kind aufwenden als reiche Familien. Von Kindergelderhöhungen, Elterngeld oder Steuererleichterungen profitieren dagegen nur Familien, die nicht von Sozialhilfe leben. Gleiches gilt für den Unterhaltsvorschuss für Kinder, deren Väter keinen Unterhalt zahlen, kritisiert Linas Mutter.
"Und die Eltern, die Hartz IV kriegen, denen steht das nicht zu, die müssen zwar beantragen, kriegen aber eine Ablehnung. Bei mir betrifft es zwei Kinder. Ich brauche es für die Kinder, nicht mal für mich, sondern für die Kinder, weil die ja Ansprüche haben."
Bei armen Familien und Alleinerziehenden müssen Leistungen auch ankommen, fordert die Bertelsmann Stiftung. Vieles werde auch gar nicht in Anspruch genommen, bestätigt Wolfgang Büscher von der Hellersdorfer Arche. Beim Bildungs- und Teilhabepaket, das dafür sorgen soll, dass Kinder Sport machen oder ein Musikinstrument lernen können, gebe es zu komplizierte Anträge. Zwar seien nicht alle armen Eltern auch bildungsfern, einige aber nicht in der Lage, die Anträge auszufüllen, andere hätten schlicht kein Interesse.
Ausgaben gegen die Scham
"Für unsere Eltern ist das sehr schwierig. Mir hat mal eine Mutter hier gesagt, ich stelle mich doch nicht sechs Stunden in der Arbeitsagentur an, damit mein Kind eine Klassenfahrt mitmachen kann. Und dann hat dieses Kind keine Chance. Wir müssen den Filter Eltern abschaffen."
Dabei seien die Mütter, die in Einrichtungen wie der Arche um Hilfe bitten, noch das geringste Problem, meint Renate Stark von der Caritas. Sie hat als Sozialberaterin seit Jahrzehnten mit bedürftigen Familien zu tun.
"Der größte Anteil der armen Mütter versucht, es nach außen nicht zu zeigen. Das heißt, da werden bei der Einschulung neue Klamotten gekauft, die gar nicht nötig sind, da wird der teuerste Kinderwagen gekauft, nur damit man nicht sieht, dass man nicht viel Geld hat.
Da wird auch viel versucht zu vertuschen, 'mein Kind braucht auch ein Handy wie die anderen Kinder' - oder dass der Dispo wirklich schon bis zum Ultimum durchgeschürft ist und sich einfach alles nur noch um Geld dreht und die Mutter völlig fertig ist. Manchmal blutet einem da wirklich das Herz."
"Wir müssen nicht hungern"
In unmittelbarer Umgebung der Hellersdorfer Arche, im Berliner Stadtteil Marzahn Hellersdorf leben 80 Prozent der Menschen von Transferleistungen, wie Hartz IV beziehungsweise Arbeitslosengeld II.
Auch die alleinerziehende Andrea und ihre Freundin, die Stammkunden in der Arche sind, haben vergleichsweise wenig Geld zur Verfügung. Als arm empfinden sich die beiden trotzdem nicht.
"Wir haben halt so ein Budget, 50 Euro die Woche, das reicht locker. Ich mach mir immer Umschläge jede Woche, wie viel Geld ich habe. - Wir müssen nicht hungern, soviel steht fest."