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Familiennachzug
Graser: Verfassungsverstöße in Einzelfällen zu erwarten

Die Neuregelung zum Familiennachzug sei als Ganzes nicht verfassungswidrig, sagte Rechtsexperte Alexander Graser im Dlf. Allerdings könne die Begrenzung auf 1.000 Personen im Monat dazu führen, dass der Familiennachzug in Fällen nicht gewährt würde, in denen er eigentlich gewährt werden müsste.

Alexander Graser im Gespräch mit Japar Barenberg |
    In Berlin lebende Flüchtlinge demonstrieren für den Familiennachzug
    Nach Deutschland Geflüchtete können ihre Angehörigen nachholen - allerdings gibt es eine Begrenzung von 1.000 Personen pro Monat (Imago)
    Salem aus Syrien, einer von vielen Flüchtlingen, die jetzt darauf hoffen, wieder mit ihren engsten Angehörigen zusammenwohnen zu können. Das soll nach der Entscheidung der Koalition allerdings für maximal 1.000 Personen möglich sein. Auch darüber können wir in den nächsten Minuten mit dem Rechtswissenschaftler Alexander Graser von der Universität Regensburg sprechen. Schönen guten Tag, Herr Graser!
    Alexander Graser: Guten Tag!
    Barenberg: Ein zehnjähriges Kind allein in Deutschland, der Vater in den Libanon geflohen, jetzt in Beirut – ist das sozusagen der klassische Fall für den Familiennachzug, der jetzt wieder möglich sein wird?
    Graser: Ja, das ist ein typischer Fall. Es gibt unterschiedliche Konstellationen. Dass die Kinder allein hier sind und die Eltern nachholen, ist die eine Variante, die andere Variante und wohl die Häufigere ist, dass die Eltern in Deutschland sind und minderjährige Kinder nachholen möchten.
    Barenberg: Aber das waren dann auch schon die Konstellationen, die vorstellbar sind, die drei Möglichkeiten, der Nachzug eines Kindes zu dem Elternteil, der Nachzug der Ehepartner und der Nachzug von Kindern zu ihren Eltern?
    Graser: Genau so. Und insbesondere problematisch ist in dem Kontext, dass das Nachholen von Geschwistern nicht möglich ist. Wenn Sie sich vorstellen, nehmen wir an, Salem hätte noch ein weiteres Kind, dann würde der Nachzug schon deswegen praktisch ausscheiden, weil der hier in Deutschland befindliche Junge dann zwar seinen Vater nachholen könnte, aber nicht gleichzeitig das Geschwisterkind nachkommen könnte. Das heißt, der Vater müsste sich entscheiden, beim einen Kind oder beim anderen zu sein. Erst, wenn der Vater dann in Deutschland wäre, dürfte er die gleiche langwierige Prozedur hinsichtlich des Geschwisterkinds noch mal initiieren. Das dauert aber mindestens ein Jahr, in der Folge also in solchen Konstellationen unmöglich.
    "Mit den Verpflichtungen im Völkerrecht nicht vereinbar"
    Barenberg: Wie bewerten Sie diese Regelung, dass der Nachzug von Geschwistern quasi ausgeschlossen ist oder nur auf Umwegen möglich, die dann eine Verlängerung des Verfahrens um mutmaßlich ja viele Jahre zur Folge haben würde?
    Graser: Das halte ich für eine – aus dem Gesetz geht das so hervor, aber es war wahrscheinlich auch nicht intendiert. Eine fehlerhafte Folge des Gesetzes, die allerdings in der Praxis angesichts des großen Drucks im Moment tatsächlich so praktiziert wird. Ich glaube, dass das mit den Verpflichtungen der Bundesrepublik im Völkerrecht nicht vereinbar ist. Aber gut, das hilft den Betroffenen im Moment in den konkreten Situationen nicht weiter.
    Barenberg: Ich weiß ja von Ihnen, Herr Graser, dass Sie ohnehin durchaus kritisch diesen Regelungen gegenüberstehen. Jetzt haben Sie einen Punkt schon angesprochen. Welche anderen Punkte sind es vor allem, wo Sie Einwände haben?
    Graser: Ja, Sie haben recht, der Geschwisternachzug ist natürlich eine Sonderkonstellation. Die deutlich problematischeren oder zumindest quantitativ bedeutsameren Aspekte sind zum einen, dass die jetzt in Kraft getretene Regelung diese rigide Grenze von 1.000 pro Monat implementiert – Sie hatten das in der Einleitung ja schon angesprochen –, das ist problematisch insofern, als man dann die gebotene Überprüfung und Berücksichtigung insbesondere der grundrechtlich geschützten Interessen an einem Familienleben im Einzelfall nicht in jedem Fall wird durchführen können.
    Wartezeit "summiert sich dann auf mehrere Jahre"
    Barenberg: Das habe ich nicht verstanden. Warum ist dann eine Prüfung nicht möglich, wenn es – nur weil wir diese Grenze haben?
    Graser: Wenn der tausendunderste Fall auftaucht, dann ist ja eine positive Entscheidung nach der gegenwärtigen Regelung quasi ausgeschlossen, weil eben das Kontingent erst mal erschöpft ist. Wenn wir uns im Moment die Zahlen anschauen, heißt das, das heißt nicht nur, man wird in den nächsten Monat verschoben, sondern womöglich über viele Monate, bis hin zu Jahren hinaus. Ich sage quasi nicht möglich, weil das Gesetz zudem noch eine Härtefallausnahmeregelung kennt. In ihrer bisherigen Anwendung jedoch dürfte die in den allermeisten Fällen den Leuten auch nicht helfen. Insofern ist diese Rigidität der Grenze tatsächlich dazu geeignet, in vielen Fällen, in denen man eigentlich den Familiennachzug gewähren müsste, ihn nicht gewähren zu können.
    Barenberg: Das ist also eine politische Entscheidung mit aus Ihrer Sicht gravierenden humanitären Folgen gewissermaßen. Was ist mit der Verfahrensdauer selbst? Denn wir hören ja allenthalben, dass jetzt schon etwa rund 34.000 Anträge weltweit auf Familiennachzug vorliegen, ich glaube, 28.000 sind es im Moment in den Staaten rund um Syrien. Da kann man sich, wenn man dem sozusagen gegenüberstellt die Grenze von 1.000 Personen pro Monat, ja schon daraus leicht errechnen, dass es – was sagen Sie? – Jahre dauern wird, bis sozusagen diese Fälle alle abgearbeitet sind? Wie müssen wir uns das vorstellen?
    Graser: Man muss unterscheiden bei der Verfahrensdauer zum einen eben die Folgen dieser 1.000-Personen-Grenze pro Monat. Daraus, wie Sie sagen, kann man einfach errechnen, wie lange es dauern wird, bis man an die Reihe kommt, wenn man eben unglücklicherweise erst spät an die Reihe kommt. Die andere Erwägung, die dabei eine Rolle spielt oder bei der die Verfahrensdauer eine Rolle spielt, dafür muss ich ein bisschen weiter ausholen. Die Situation ist die, dass insbesondere – es gibt zwar kein fixes Recht, für jeden Familiennachzugsmöglichkeiten nach Deutschland zu gewähren, aber es gibt eben die zwingende Vorgabe, dass man die grundrechtlich geschützte Belange eines solchen Familienlebens berücksichtigt. Die Schwierigkeit ist nun, dass die Herstellung des Familienlebens umso dringlicher wird, je länger – das hat Ihr Beitrag ja auch deutlich gemacht –, je länger die Angehörigen voneinander getrennt sind. Gerade bei kleinen Kindern wie im Beitrag ist das ja nun auch nachvollziehbar eine wirklich belastende Situation. Wenn Sie sich jetzt die Situation der jetzt Antragstellenden in Deutschland vorstellen, dann haben die oft schon Jahre gewartet, bis überhaupt ihr Asylantrag bearbeitet wurde. Da kann man niemandem einen Vorwurf machen, die Behörden waren einfach überlastet. Häufig kommen zur Behördenverfahrensdauer auch noch Gerichtsverfahrenszeiten hinzu, bis dann eine Anerkennung da ist, aufgrund derer man Familiennachzug beantragen kann. Und da hinzukommt dann noch, dass die Zeiten, bis die deutschen Auslandsvertretungen, also die Botschaften – Sie hatten jetzt Beirut genannt, aber wir haben das auch in anderen Ländern, in der Türkei, in Kenia et cetera –, dass die Verfahrensdauern bei den Botschaften noch mal sehr lang sind. Da warten sie mitunter bis zu einem Jahr, bis sie einen Termin bekommen. Das Ganze summiert sich dann auf mehrere Jahre auf, und spätestens dann wird das für die Betroffenen zu einer wohl unzumutbaren Beschränkung.
    "Bei allen Akteuren große Unsicherheit"
    Barenberg: Wenn das so ist, Herr Graser, und es sozusagen unzumutbare Ergebnisse produziert, diese Regelung, ist sie dann von den Betroffenen anzufechten, können die Einspruch erheben an irgendeiner Stelle in diesem Verfahren?
    Graser: Grundsätzlich natürlich. In Deutschland gilt die Rechtsschutzgarantie. Sie können alles anfechten oder alle Behörden, alle Akte öffentlicher Gewalt, von denen Sie sich in Ihren Grundrechten verletzt fühlen, können Sie vor Gericht anfechten. Die Schwierigkeit besteht darin, dass das wiederum sehr lange Zeit in aller Regel braucht. Allrechtsschutz wird da kaum zu haben sein. Außerdem fehlt den Betroffenen häufig die Kenntnis dieser doch sehr komplizierten Rechtsmaterie, um dann entsprechend ihre Rechte zu kennen und durchsetzen zu können. Es kommt hinzu, dass Anwälte im Flüchtlingsrecht nur unzureichend verfügbar sind. Auch da ist die Nachfrage inzwischen viel größer als das Angebot. Das heißt, de facto sind dieser Verwirklichung der wohl bestehenden Rechte große Grenzen gesetzt.
    Barenberg: Würden Sie sagen unterm Strich, das ist so etwas wie eine Lotterie, hart an der Grenze dessen, was mit dem Grundgesetz noch vereinbar ist?
    Graser: Ja, das mit der Lotterie trifft jedenfalls wohl insofern zu, als diejenigen, die jetzt versuchen, unter die 1.000 zu kommen und schneller zum Zuge zu kommen, die brauchen sicherlich Glück dafür, einfach, weil es sehr viele gleich gelagerte Fälle geben wird, die gleichermaßen berechtigt sind. Hart an der Grenze, was das Grundgesetz zulässt – wie gesagt, ich denke, dass bei der bestehenden Regelung zwar nicht die gesamte Regelung als Ganzes verfassungswidrig ist, aber wir fest davon ausgehen können, dass es in der Praxis viele Fälle geben wird, in denen nicht den Vorgaben der Verfassung entsprechend gehandelt wird, also viele, viele Verfassungsverstöße in Einzelfällen.
    Barenberg: Zum Schluss noch, Herr Graser, kurz die Frage, das Flüchtlingshilfswerk UNHCR kritisiert die Regeln heute als allzu bürokratisiert und auch sehr intransparent. Würden Sie dafür plädieren zumindest, dass man das politisch jetzt noch so weit begleitet und dass wir die politische Diskussion jetzt mit der neuen Regelung auf keinen Fall beenden sollten?
    Graser: Ja, natürlich. Ich meine, man muss sehen, wie sich die Regelung in der Praxis bewährt. Auch da herrscht im Moment, glaube ich, bei allen Akteuren in der Praxis noch große Unsicherheit, wie genau das funktionieren soll. Und natürlich wäre es falsch, Vorverurteilungen zu treffen, aber aus den genannten Gründen gehe ich davon aus, dass die Praxis nahezu unvermeidlich in große Schwierigkeiten geraten wird, rechtliche Bedenken hervorrufen wird. Und vor dem Hintergrund ist es dringend nötig, das weiterhin wachsam zu begleiten, klar.
    Barenberg: Sagt der Rechtswissenschaftler Alexander Graser von der Universität Regensburg. Danke für das Gespräch, Herr Graser!
    Graser: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.