Jörg Münchenberg: Seit Jahren sprudeln die Steuereinnahmen hierzulande und daran wird sich wohl auch so schnell nichts ändern. Nach der letzten Steuerschätzung können Bund, Länder und Gemeinden bis 2022 mit zusätzlichen Einnahmen von 63 Milliarden Euro rechnen. Allein für den Bund sind es fast 31 Milliarden. Trotzdem bleibt Finanzminister Olaf Scholz vorsichtig, wenn es um Steuersenkungen geht. Ab dem kommenden Jahr sollen nun vor allem kleinere und mittlere Einkommen um zehn Milliarden Euro entlastet werden. So hat es das Bundeskabinett heute beschlossen. Zugehört hat der Haushalts- und Steuerexperte der Grünen im Bundestag, Sven Kindler. Herr Kindler, ich grüße Sie.
Sven Kindler: Ich grüße Sie auch, Herr Münchenberg. Guten Tag.
Münchenberg: Zunächst mal ganz grundsätzlich die Pläne, die das Kabinett verabschiedet hat zur Familienentlastung. Würden Sie sagen, das geht in die richtige, oder in die ganz falsche Richtung?
Kindler: Das geht in die ganz falsche Richtung. Was wir sehen ist, dass die Große Koalition vor allen Dingen auf eine Besserverdiener-Familienpolitik setzt. Arme Kinder, arme Familien, Alleinerziehende werden bei dieser Regelung leer ausgehen. Das hat der Beitrag ja auch gezeigt. Für Kinder, die im Hartz-IV-Bezug sind, werden die Leistungen des Kindergeldes angerechnet. Wir haben drei Millionen Kinder und Jugendliche, die von Armut bedroht sind. Die haben von dieser Regelung leider nichts. Und auch Alleinerziehende, die Unterhaltsvorschuss bekommen - auch da wird das Kindergeld angerechnet -, die haben davon auch nichts. Anscheinend gilt bei der Großen Koalition das Motto: "Wer hat, dem wird gegeben". Weil am Ende sowohl bei den Kinderfreibeträgen, aber auch bei dem Baukindergeld zum Beispiel vor allen Dingen Besserverdiener-Familien davon profitieren werden, aber gerade Familien mit kleinen Einkommen, mit unteren Einkommen haben de facto fast nichts von dieser Großen Koalition.
Mit dem Soli trukturschwache Regionen fördern
Münchenberg: Auf das Baukindergeld kommen wir gleich noch mal zu sprechen. Zunächst einmal, bei dem Paket, was heute verabschiedet worden ist, da geht es ja auch darum: Der Soli soll für kleinere und mittlere Einkommen ab 2021 wegfallen. Wer aber mehr als 60.000 Euro verdient, muss ihn weiter bezahlen. Gilt da nicht mehr das Gleichheitsgebot im Grundgesetz?
Kindler: Das muss man sich konkret im Detail angucken. Viele Menschen mit kleinen Einkommen und auch viele Familien mit kleinen Einkommen zahlen ja gar keine Steuern, weil man über die Freibeträge und auch über die Kinderfreibeträge de facto dann kaum oder gar keine Steuern bezahlt. Diese Menschen haben von dieser Regelung überhaupt nichts.
Natürlich profitieren nachher auch Besserverdienende stärker durch die Anhebung der Freibeträge bei der sogenannten Kalten Progression, oder auch beim Soli. Auch da wird der Großteil der Profite bei den obersten 20 Prozent der Einkommen ankommen. Von daher: Wenn man wirklich gezielt Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen unterstützen wollte, dann müsste man gezielte Maßnahmen fördern.
Münchenberg: Aber, Herr Kindler, der Soli war ja eingeführt worden als Sonderabgabe. Wenn der jetzt wegfallen soll, muss dieser Wegfall nicht für alle gelten? Kann man da einfach differenzieren und sagen, nein, wir machen das nur für eine kleine Gruppe?
Kindler: Wir Grünen sind nicht dafür, dass der Soli wegfällt. Ich glaube, es gibt sehr große Bedarfe in Deutschland. Wir haben viele abgehängte Regionen. Wir sind dafür, dass man gezielt guckt, wie man nicht mehr nach Himmelsrichtungen den Soli verteilt, also nicht mehr nach Ost-West, sondern gezielt strukturschwache Regionen fördert und dort auch Maßnahmen und gerade Investitionen im ländlichen Raum und in strukturschwachen Städten fördert. Aus unserer Sicht wäre das eine deutlich bessere Maßnahme. Man kann den Soli neu begründen. Er ist auch verfassungsfest. Von daher wäre das die deutlich bessere Maßnahme. Am Ende muss man sagen, der Soli ist von der Technik her ein Aufschlag auf die Einkommenssteuer, hat eine sehr gute Verteilungswirkung. Das heißt, vor allen Dingen Menschen mit hohen Einkommen zahlen besonders viel Soli, und die Frage ist, warum man die jetzt vor allen Dingen noch entlasten soll. Es geht aus unserer Sicht darum, dass man gezielt kleine und mittlere Einkommen jetzt stärken muss. Die muss man unterstützen bei den Kindern, bei den Familien, bei der Rente, beim sozialen Wohnungsbau. Da wäre das Geld, das die Große Koalition für den Soli raushaut, viel besser angelegt.
"Gezielt Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen unterstützen"
Münchenberg: Trotzdem, Herr Kindler, wenn man sich mal einen anderen Punkt anschaut bei dem Entlastungspaket: Schon seit langer Zeit verspricht die Politik ja gerade der Mittelschicht, dass sie was tun will gegen die Kalte Progression, die ja doch Lohnerhöhungen letztlich immer auffrisst, weil man in die höhere Steuerklasse rutscht und die Inflation dann auch den Zuwachs letztlich aufzehrt. Jetzt sind da 2,2 Milliarden Euro vorgesehen. Da sagt der Bund der Steuerzahler, alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Kindler: Der Bund der Steuerzahler ist ja auch eine Organisation, die massive Steuersenkungen für Besserverdienende will. Von daher wundert das nicht.
Münchenberg: Aber die Mittelschicht sind ja keine Besserverdienenden.
Kindler: Ja! Aber am Ende ist es so: Man muss sich mit der Steuerproblematik und mit der Steuertechnik sehr gut auskennen. Bei der Kalten Progression ist es einfach so: Durch die Progression werden vor allen Dingen absolut die Menschen, die sehr viele Steuern bezahlen, beim Soli oder auch, was jetzt Herr Scholz vorschlägt, bei der sogenannten Kalten Progression am stärksten davon profitieren. So funktioniert die Steuerprogression. Die Menschen – ich habe das gerade schon versucht zu erklären – mit kleinen Einkommen, auch zum Teil Menschen der Mittelschicht, werden davon absolut viel weniger haben, weil sie zum Teil keine Steuern zahlen, oder nur sehr wenig Einkommenssteuer bezahlen. Diese Effekte muss man sich einfach angucken. Von daher wird immer behauptet, dass man kleinere Einkommen unterstützt. Das stimmt einfach bei der sogenannten Kalten Progression oder beim Soli nicht. Und auch bei der Mittelschicht ist es so, dass sie am Ende von den großen Profiten am wenigsten hat. Das wird vor allen Dingen für Menschen, die obersten 20 Prozent der Einkommen sein. Die werden davon am stärksten profitieren. Aus meiner Sicht und aus unserer Sicht ist das die falsche Prioritätensetzung. Man muss jetzt gezielt Investitionen damit finanzieren in sozialen Wohnungsbau und schnelles Internet, in bezahlbare Wohnungen, gezielt Menschen unterstützen, die Kinder haben, und gezielt auch gucken, wie man Menschen mit kleinen Renten unterstützt. Man darf keine Politik mit der Gießkanne machen, sondern muss gezielt im Haushalt sich entscheiden und gezielt Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen unterstützen. Aber das kann man bei dieser Besserverdienenden-Politik der Großen Koalition nicht sehen.
"Wir müssen gezielt Menschen vor Altersarmut schützen"
Münchenberg: Dieses Entlastungsgesetz umfasst ja zehn Milliarden Euro insgesamt, verteilt auf die nächsten Jahre. Auf der anderen Seite sind die Steuereinnahmen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Daran wird sich auch nichts ändern. Den Bürgern wurde immer versprochen, ja, ja, es gibt bald Steuererleichterungen, aber dann wurde immer darauf verwiesen, es kam die Finanzkrise, dann die Eurokrise, dann hieß es, wir müssen die schwarze Null erreichen. Sie sagen trotzdem, für eine umfassende Steuerreform gibt es keinen Spielraum?
Kindler: Wir sagen, dass wir gezielt in der Steuerpolitik gucken müssen, was notwendig ist. Man muss gezielt gucken, wie man kleine Einkommen, auch mittlere Einkommen stärkt. Aber die sind häufig erstens angewiesen auf Investitionen vor Ort, also auf bezahlbaren Wohnraum. Da drückt der Schuh für viele Menschen. Viele Menschen fragen sich, wie sieht meine Rente im Alter aus. Wir müssen gezielt Menschen vor Altersarmut schützen über Steuerzuschüsse in die Rente. Wir müssen gezielt gucken, wie wir aber auch zum Beispiel gute Kitas, gute Krippen, gute Schulen finanzieren können. Das interessiert viele Menschen auch. Und wir müssen gucken, wie man gezielt Menschen, die kleine Einkommen haben, unterstützen kann, zum Beispiel beim Wohngeld und bei anderen Fragen. Aber das geht nicht über große Steuersenkungen, die durch die Progression vor allen Dingen nachher Besserverdienende trifft. Das ist der falsche Weg.
Münchenberg: Herr Kindler, einen Punkt müssen wir noch ansprechen: das Baukindergeld. Da hat die Koalition ja offenbar genug Mittel im Haushalt gefunden. Das will sie gezielt fördern. Halten Sie die Einigung, die man jetzt erzielt hat, für richtig?
Kindler: Das Baukindergeld ist wohnungspolitisch ein großer Unsinn. Man kann es nicht anders sagen. Das ist wie die Einführung der Eigenheimzulage für Besserverdienende. Das hat – das sagt auch der Bundesrechnungshof in seiner harten Kritik – hohe Mitnahmeeffekte. Das wird die Eigentumsquote am Ende auch gar nicht groß erhöhen und das wird nachher viele Steuergelder verbrennen und sogar dazu führen, dass Immobilienpreise sich verteuern und damit sich mittelbar auch Mieten verteuern werden. Für Familien mit Kindern, die verzweifelt Wohnungen zur Miete in den großen Städten suchen, hilft das gar nicht weiter.
Münchenberg: Was wäre denn der richtige Weg, wenn Sie sagen, Baukindergeld hilft gar nichts?
Kindler: Wir wollen das Geld vor allen Dingen für bezahlbaren sozialen Wohnraum in den Städten ausgeben. Das wäre extrem wichtig, dass man da bezahlbare Mieten unterstützt über den sozialen und bezahlbaren Wohnraum. Das Zweite, was wir wollen, wenn Menschen Eigentum erwerben, dass die nicht mehr die Maklercourtage bezahlen. Da wollen wir, dass der Verkäufer auch nachher die Maklercourtage bezahlt. Wer bestellt, der muss auch zahlen. Das Prinzip muss gelten. Das wird den Menschen, die sich Eigentum erwerben wollen, viel mehr helfen als diese unsinnige und teure Subvention des Baukindergeldes.
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