Was die Bewohner von Montepuccio entweder verachten, fürchten oder nicht kennen, wird auf dem Rücken eines Esels in das kleine süditalienische Bergdorf hineingetragen. Im Laufe des vier Generationen umfassenden Romans "Die Sonne der Scorta" tragen Maultiere immer wieder jemanden in das apulische Dorf, das wie ein kleiner Mikrokosmos abgekapselt von der restlichen Welt im Gargano-Bergmassiv liegt.
Das von Laurent Gaudé beschriebene Örtchen existiert in Wirklichkeit nicht. Montepuccio vereinigt dennoch alle typischen Merkmale kleiner, abgelegener Dörfer des Südens. Ihre Einwohner richten ihren Lebensrhythmus nach archaischen Riten, tiefer Gottesfürchtigkeit und den Jahreszeiten aus. Das fiktive Montepuccio bietet dem französischen Schriftsteller Gaudé eine Plattform für hinreißende Szenarien.
Den verwegenen Cowboys aus dem Filmklassiker "High Noon" ähnlich, lässt der Autor seine Romanfigur Luciano Mascalzone in Montepuccio einreiten.
"'Diese Dummköpfe von Montepuccio haben sich nicht verändert', dachte er. 'Was glauben sie denn? Dass ich Angst vor ihnen habe? Dass ich versuchen werde, vor ihnen zu fliehen? Ich habe vor niemandem mehr angst. Sie werden mich heute töten, aber das reicht nicht, um mich in Schrecken zu versetzen. Dafür war der Weg hierher zu weit. Ich bin unantastbar!' Und dabei kam ihm der Gedanke der Provokation."
Der Esel kämpft sich in sengender Mittagshitze durch das totenstille Dorf. Die Bewohner halten ihre Siesta. Diejenigen, die im Schatten sitzen, bekreuzigen sich beim Anblick Mascalzones, als hätten sie es mit dem Teufel zu tun.
Es ist das Jahr 1875 und Mascalzone kehrt nach 15 Jahren Gefängnis in das Dorf zurück. Mascalzone bedeutet übersetzt nicht nur Schurke, Luciano ist auch einer.
Von Rachegelüsten geleitet, reitet der Rückkehrer zielstrebig auf Filomena Biscottis Haus zu. Filomena - die Frau, die er immer begehrte und jetzt endlich besitzen will. Er will den Dorfbewohnern beweisen, dass er sich als verachteter Mascalzone nehmen kann, wen und was er will.
Der in Frankreich als Dramatiker erfolgreiche Laurent Gaudé hat auch als Prosaautor ein Gespür für wirkungsvolle Szenen und lässt die unerwartete Rückkehr des Banditen Mascalzone in einem Showdown enden. Die Dorfbewohner erwachen aus ihrem Mittagsschlaf und steinigen den Frauenschänder.
"Die Dorfbewohner hatten sich um seinen Körper versammelt und beschimpften ihn: 'Immacolata ist die letzte Frau, der du Gewalt angetan hast, Hundesohn!' Lucianos kraftloser Leib erzitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Immacolata? Wer war diese Frau? Und er begriff. Während die Menschen um ihn herum nicht aufhörten zu kreischen dachte er: 'Ich war kurz davor, glücklich zu sterben. Schaut euch Mascalzone an, der glaubte, Filomena zu nehmen, und ihre Schwester entjungferte. Ich bin Luciano Mascalzone und ich sterbe als lächerliche Person.' Tatsächlich hatte Luciano mit Immacolata geschlafen. Filomena Biscotti war kurz nach seiner Inhaftierung an einer Lungenembolie gestorben."
Auf Lucianos Tat gründet die Entstehung der in Montepuccio verachteten Sippe der Scortas. Die von Luciano entjungferte Immacolata wird schwanger. Sie stirbt kurz nach der Geburt von Rocco, der in einem Nachbardorf bei Pflegeeltern aufwächst, um dem Argwohn der Dorfgemeinschaft nicht ausgesetzt zu sein.
Von der Rache für seinen Vater getrieben, kehrt Rocco als Erwachsener Mann nach Montepuccio zurück. Unter dem Namen Rocco Scorta Mascalzone ersetzt er alle in Angst und Schrecken: Rocco tötet, raubt, vergewaltigt, plündert und erpresst die Menschen. Rocco heiratet eine stumme Frau, die ihm drei Kinder schenkt: Carmela, Giuseppe und Domenico.
In Laurent Gaudés Roman kann man keine eigentliche Hauptfigur ausmachen. Dem 34-jährigen Schriftsteller geht es mehr um ein Sittengemälde. Es sind die Mitglieder einer jeweiligen Scorta-Generation, die zusammengenommen die Hauptrolle spielen.
Und dabei interessieren Gaudé grundlegende Fragen: Nach welchen sozialen und moralischen Vorstellungen funktionieren Gruppen wie Familienclans und Dorfgemeinschaften? Nach welchen Prinzipien handeln sie und sind sie als Individuen genauso überlebensfähig wie als Mitglieder eines Zusammenschlusses?
"Die Oliven überdauern ewig. Eine einzige Olive überlebt nicht lange, sie reift und verfault. Doch Oliven folgen aufeinander, eine nach der anderen, unendlich und immer wieder. Also ja, die Oliven überdauern ewig, wie die Menschen. Sie folgen dem gleichen unendlichen Lauf von Leben und Tod."
Um die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen einzelnen Personenkreisen hervorheben zu können, sind Gaudés Protagonisten stereotype Figuren mit wenig Wandlungsfähigkeit. Sie stehen für eine konservative, bäuerliche Weltanschauung, besitzen keine Individualität.
Gaudés Personenkonstellationen und die sich daraus ergebenen dramaturgische Dynamik erinnern an das Theater eines Tirso de Molinas oder Friedrich Dürrenmatts: So verkörpert der Klerus samt Dorfpfarrer die Macht der Kirche und des Glaubens. Die Familie Scorta symbolisiert das Schlechte und Böse, das sich über Generationen hinweg vererbt. Die Dorfgemeinschaft steht für Bigotterie, Feigheit, Opportunismus und die Relativität moralischer Grundsätze.
Gaudé schafft es mit sprachlicher Leichtigkeit, seine Leser mit dem archaischen Leben der Scorta vertraut zu machen und sie in die Landschaft Apuliens mitzunehmen. Sein Erzählton ist leicht melancholisch.
Ende der 20er Jahre stirbt Rocco, sein Vermögen geht an die Kirche und seine stumme Frau verarmt. Die Kinder Carmela, Giuseppe und Domenico wandern aus und setzen mit einem Schiff von Neapel nach New York über und kehren bereits nach einem Jahr zurück.
Das Thema des Fortgehens und der Rückkehr hat im Roman einen großen Stellenwert. Hier orientiert sich Laurent Gaudés Roman an der neorealistischen Erzähltradition, speziell an der Cesare Paveses. Auch der Prolog zum Roman stammt vom Turiner Schriftsteller.
Gaudé zitiert aus dem Pavese- Gedicht "I mari del Sud" - "Die Meere des Südens":
"Eines Abends gehen wir in Stille Hügel an.
Im Schatten des späten Tags.
Mein Vetter ist ein Riese in Weiß gekleidet,
ruhig schreitend, braun gebrannt das Gesicht,
schweigsam. Schweigen ist unsere Tugend.
Einer unserer Ahnen muß sehr einsam gewesen sein
ein großer Mann unter Idioten oder ein armer Narr-
um die Seinen so viel Schweigen zu lehren."
Die den Geschwister-Clan zusammenhaltende Carmela Scorta ist auch eine schweigsame Person. Daher sind sie und ihre beiden Brüder in ganz Montepuccio als "die Schweigsamen" bekannt.
Ihren Geschwistern nimmt Carmela später das Versprechen ab, der nachkommenden Scorta- Generationen etwas mit auf den Weg zu geben, etwas von ihren Geheimnissen zu erzählen und das Schweigen zu brechen, was nicht jedem leicht fällt. In hohem Alter vertraut sie sich einem Dorfgeistlichen an.
Carmelas Erinnerungen an ihr Leben aus der Sicht einer Scorta-Tochter liegt als paralleler Erzählstrang über der gesamten Saga und verbindet über 100 Jahre Familiengeschichte bis in die 80er Jahre hinein. Es werden Scorta- Kinder und -Enkel geboren. Die Familie eröffnet den ersten Tabakladen des Dorfs. Der Clan der Scorta wird immer größer und bleibt mit dem kleinen Fleckchen Erde verbunden, dass sie niemals verlassen.
Da sie wohlhabend geworden sind, ist auch der Argwohn der anderen Dorfbewohner verflogen.
Laurent Gaudés "Die Sonne der Scorta" ist ein Familienroman, der erstaunlicherweise nur knapp über 250 Seiten umfasst und trotzdem eine Vielzahl von Themen in geballter Form bearbeitet. Der Roman appelliert an die ältere Generation, ihre Erfahrungen zu vererben: Sonst öffnet sich eines Tages die Erdspalte und verschluckt einen mitsamt der Erinnerung.
Das von Laurent Gaudé beschriebene Örtchen existiert in Wirklichkeit nicht. Montepuccio vereinigt dennoch alle typischen Merkmale kleiner, abgelegener Dörfer des Südens. Ihre Einwohner richten ihren Lebensrhythmus nach archaischen Riten, tiefer Gottesfürchtigkeit und den Jahreszeiten aus. Das fiktive Montepuccio bietet dem französischen Schriftsteller Gaudé eine Plattform für hinreißende Szenarien.
Den verwegenen Cowboys aus dem Filmklassiker "High Noon" ähnlich, lässt der Autor seine Romanfigur Luciano Mascalzone in Montepuccio einreiten.
"'Diese Dummköpfe von Montepuccio haben sich nicht verändert', dachte er. 'Was glauben sie denn? Dass ich Angst vor ihnen habe? Dass ich versuchen werde, vor ihnen zu fliehen? Ich habe vor niemandem mehr angst. Sie werden mich heute töten, aber das reicht nicht, um mich in Schrecken zu versetzen. Dafür war der Weg hierher zu weit. Ich bin unantastbar!' Und dabei kam ihm der Gedanke der Provokation."
Der Esel kämpft sich in sengender Mittagshitze durch das totenstille Dorf. Die Bewohner halten ihre Siesta. Diejenigen, die im Schatten sitzen, bekreuzigen sich beim Anblick Mascalzones, als hätten sie es mit dem Teufel zu tun.
Es ist das Jahr 1875 und Mascalzone kehrt nach 15 Jahren Gefängnis in das Dorf zurück. Mascalzone bedeutet übersetzt nicht nur Schurke, Luciano ist auch einer.
Von Rachegelüsten geleitet, reitet der Rückkehrer zielstrebig auf Filomena Biscottis Haus zu. Filomena - die Frau, die er immer begehrte und jetzt endlich besitzen will. Er will den Dorfbewohnern beweisen, dass er sich als verachteter Mascalzone nehmen kann, wen und was er will.
Der in Frankreich als Dramatiker erfolgreiche Laurent Gaudé hat auch als Prosaautor ein Gespür für wirkungsvolle Szenen und lässt die unerwartete Rückkehr des Banditen Mascalzone in einem Showdown enden. Die Dorfbewohner erwachen aus ihrem Mittagsschlaf und steinigen den Frauenschänder.
"Die Dorfbewohner hatten sich um seinen Körper versammelt und beschimpften ihn: 'Immacolata ist die letzte Frau, der du Gewalt angetan hast, Hundesohn!' Lucianos kraftloser Leib erzitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Immacolata? Wer war diese Frau? Und er begriff. Während die Menschen um ihn herum nicht aufhörten zu kreischen dachte er: 'Ich war kurz davor, glücklich zu sterben. Schaut euch Mascalzone an, der glaubte, Filomena zu nehmen, und ihre Schwester entjungferte. Ich bin Luciano Mascalzone und ich sterbe als lächerliche Person.' Tatsächlich hatte Luciano mit Immacolata geschlafen. Filomena Biscotti war kurz nach seiner Inhaftierung an einer Lungenembolie gestorben."
Auf Lucianos Tat gründet die Entstehung der in Montepuccio verachteten Sippe der Scortas. Die von Luciano entjungferte Immacolata wird schwanger. Sie stirbt kurz nach der Geburt von Rocco, der in einem Nachbardorf bei Pflegeeltern aufwächst, um dem Argwohn der Dorfgemeinschaft nicht ausgesetzt zu sein.
Von der Rache für seinen Vater getrieben, kehrt Rocco als Erwachsener Mann nach Montepuccio zurück. Unter dem Namen Rocco Scorta Mascalzone ersetzt er alle in Angst und Schrecken: Rocco tötet, raubt, vergewaltigt, plündert und erpresst die Menschen. Rocco heiratet eine stumme Frau, die ihm drei Kinder schenkt: Carmela, Giuseppe und Domenico.
In Laurent Gaudés Roman kann man keine eigentliche Hauptfigur ausmachen. Dem 34-jährigen Schriftsteller geht es mehr um ein Sittengemälde. Es sind die Mitglieder einer jeweiligen Scorta-Generation, die zusammengenommen die Hauptrolle spielen.
Und dabei interessieren Gaudé grundlegende Fragen: Nach welchen sozialen und moralischen Vorstellungen funktionieren Gruppen wie Familienclans und Dorfgemeinschaften? Nach welchen Prinzipien handeln sie und sind sie als Individuen genauso überlebensfähig wie als Mitglieder eines Zusammenschlusses?
"Die Oliven überdauern ewig. Eine einzige Olive überlebt nicht lange, sie reift und verfault. Doch Oliven folgen aufeinander, eine nach der anderen, unendlich und immer wieder. Also ja, die Oliven überdauern ewig, wie die Menschen. Sie folgen dem gleichen unendlichen Lauf von Leben und Tod."
Um die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen einzelnen Personenkreisen hervorheben zu können, sind Gaudés Protagonisten stereotype Figuren mit wenig Wandlungsfähigkeit. Sie stehen für eine konservative, bäuerliche Weltanschauung, besitzen keine Individualität.
Gaudés Personenkonstellationen und die sich daraus ergebenen dramaturgische Dynamik erinnern an das Theater eines Tirso de Molinas oder Friedrich Dürrenmatts: So verkörpert der Klerus samt Dorfpfarrer die Macht der Kirche und des Glaubens. Die Familie Scorta symbolisiert das Schlechte und Böse, das sich über Generationen hinweg vererbt. Die Dorfgemeinschaft steht für Bigotterie, Feigheit, Opportunismus und die Relativität moralischer Grundsätze.
Gaudé schafft es mit sprachlicher Leichtigkeit, seine Leser mit dem archaischen Leben der Scorta vertraut zu machen und sie in die Landschaft Apuliens mitzunehmen. Sein Erzählton ist leicht melancholisch.
Ende der 20er Jahre stirbt Rocco, sein Vermögen geht an die Kirche und seine stumme Frau verarmt. Die Kinder Carmela, Giuseppe und Domenico wandern aus und setzen mit einem Schiff von Neapel nach New York über und kehren bereits nach einem Jahr zurück.
Das Thema des Fortgehens und der Rückkehr hat im Roman einen großen Stellenwert. Hier orientiert sich Laurent Gaudés Roman an der neorealistischen Erzähltradition, speziell an der Cesare Paveses. Auch der Prolog zum Roman stammt vom Turiner Schriftsteller.
Gaudé zitiert aus dem Pavese- Gedicht "I mari del Sud" - "Die Meere des Südens":
"Eines Abends gehen wir in Stille Hügel an.
Im Schatten des späten Tags.
Mein Vetter ist ein Riese in Weiß gekleidet,
ruhig schreitend, braun gebrannt das Gesicht,
schweigsam. Schweigen ist unsere Tugend.
Einer unserer Ahnen muß sehr einsam gewesen sein
ein großer Mann unter Idioten oder ein armer Narr-
um die Seinen so viel Schweigen zu lehren."
Die den Geschwister-Clan zusammenhaltende Carmela Scorta ist auch eine schweigsame Person. Daher sind sie und ihre beiden Brüder in ganz Montepuccio als "die Schweigsamen" bekannt.
Ihren Geschwistern nimmt Carmela später das Versprechen ab, der nachkommenden Scorta- Generationen etwas mit auf den Weg zu geben, etwas von ihren Geheimnissen zu erzählen und das Schweigen zu brechen, was nicht jedem leicht fällt. In hohem Alter vertraut sie sich einem Dorfgeistlichen an.
Carmelas Erinnerungen an ihr Leben aus der Sicht einer Scorta-Tochter liegt als paralleler Erzählstrang über der gesamten Saga und verbindet über 100 Jahre Familiengeschichte bis in die 80er Jahre hinein. Es werden Scorta- Kinder und -Enkel geboren. Die Familie eröffnet den ersten Tabakladen des Dorfs. Der Clan der Scorta wird immer größer und bleibt mit dem kleinen Fleckchen Erde verbunden, dass sie niemals verlassen.
Da sie wohlhabend geworden sind, ist auch der Argwohn der anderen Dorfbewohner verflogen.
Laurent Gaudés "Die Sonne der Scorta" ist ein Familienroman, der erstaunlicherweise nur knapp über 250 Seiten umfasst und trotzdem eine Vielzahl von Themen in geballter Form bearbeitet. Der Roman appelliert an die ältere Generation, ihre Erfahrungen zu vererben: Sonst öffnet sich eines Tages die Erdspalte und verschluckt einen mitsamt der Erinnerung.