Union-Church – Kirche des Zusammenschlusses - haben sie ihr provisorisches Gotteshaus genannt. Rund 70 Personen, meist Frauen, feiern hier am Rande der Ortschaft Raikja in der Kandhamal-Region des indischen Bundesstaates Odisha regelmäßig Gottesdienst. Was sie vereint, sind traumatische Erlebnisse als Mitglied einer religiösen Minderheit, sagt Pfarrer Nalin Kantenaik, der die Gemeinde betreut:
"Hier wohnen ausschließlich Christen und zwar Christen, die ihre ursprünglichen Dörfer verlassen haben, deren Familienmitglieder und Verwandte attackiert und umgebracht wurden. Sie haben ihr Eigentum verloren und sind daher sehr verängstigt."
Gerade jetzt zum Jahresende werden ihre schrecklichen Erinnerungen wieder wach. Denn Ende 2007 wurden sie Opfer gewalttätiger Hindu-Fundamentalisten, die zur Hatz gegen Christen aufgerufen hatten. Marodierend seien sie durch sein Dorf gezogen, erinnert sich Kartik Nayak. Und selbst vor der Kirche hätten sie keinen Halt gemacht:
"Es war in der Weihnachtsnacht, und wir feierten gerade Gottesdienst. Sie haben unsere Kirche angegriffen und komplett niedergebrannt. Gleichzeitig attackierten sie das Gemeindehaus sowie zahlreiche private Wohnhäuser. Sie haben alles geplündert."
Christen wird Schuld an Attentat gegeben
Die Christen flüchteten in die umliegenden Wälder. Erst nach drei Tagen trauten sie sich zurück in ihr Dorf und lebten seitdem in permanenter Angst davor, dass der Sturm erneut losbrechen könnte. Ein gutes halbes Jahr später, als der radikale Hindu-Prediger Swami Lakshmananda einem Attentat zu Opfer fiel, formierte sich der Mob aufs Neue. Denn obgleich sich maoistische Kämpfer zu dem Mord bekannten, wurden die Christen der Tat bezichtigt – berichtet ein Katholik, der seinen Namen nicht nennen möchte:
"Es waren mehrere Hindus, die auf mich losstürmten. Sie prügelten auf mich ein. Ich wurde am Kopf getroffen, verlor das Bewusstsein und stürzte zu Boden. Da sie annahmen, ich sei tot, ließen sie mich liegen. Dann kamen sie zurück, brachen in mein Haus ein, überschütteten die Möbel mit Kerosin und zündeten alles an."
Sieben christliche Männer wurden als angebliche Initiatoren des Attentats festgenommen. Bis heute – so erzählt eine ihrer Ehefrauen – sitzen sie schuldlos im Gefängnis und warten auf ihre Verhandlung:
"Seit damals habe ich Angst vor Hindus. Nicht, dass alle Hindus schlecht sind. Aber wer ist gut, wer ist böse? Seit den Erfahrungen von damals habe ich kein Vertrauen mehr. Sie haben schlimme Sachen über uns Christen gesagt und mir meinen Mann weggenommen."
Mehr als 100 Menschen sterben bei Unruhen
Die Spuren der über Wochen hin wütenden Hindus, der über Wochen hin tobte, waren verheerend: 101 Personen kamen uns Leben, 95 Kirchen wurden zerstört und 177 christliche Geschäfte angegriffen oder geplündert. Zudem mussten mehr als 50.000 Personen fliehen, von denen mehr als die Hälfte zum Teil bis heute in Flüchtlingslagern lebt.
Mittlerweile hat sich die Lage in der Kandhamal-Region weitgehend beruhigt. Dies gilt aber nicht für andere Teile Indiens. Im Gegenteil: Seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Narendra Modi im Mai 2014 hat die Zahl der Übergriffe auf religiöse Minderheiten deutlich zugenommen - berichtet Pater Dibakar Parichha, der auch als Rechtanwalt am höchsten Gericht im Bundesstaat Odisha zugelassen ist.
"Seit die hindu-nationalistische BJP an der Regierung ist, haben wir mehr als 500 gewalttätige Attacken gegenüber Minderheiten verzeichnet. Diese Tendenz hält in unterschiedlichen Formen an. Über manche Fälle ist berichtet worden - über manche aber auch nicht."
Fanatische Hindu-Bewegung übernimmt Gedankengut von Hitler
Hintergrund der wachsenden Gewalt ist nach Ansicht der bekannten Menschenrechtlerin Teesta Setalvat eine Politik, durch die sich radikale Hindus gestärkt fühlten. Zwar verhielten sich Modi und seine BJP offiziell neutral, ja, sie sprächen sich sogar für Pluralismus aus. Unter der Hand aber würden sie der fanatischen Hindu-Bewegung RSS, zu deren Freiwilligen-Corps der Ministerpräsident selber jahrelang gehörte, freie Hand bei ihren rassistischen Attacken lassen.
"Wenn Sie die Bewegung verstehen wollen, müssen Sie auf ihre Internetseite gehen. Dort finden Sie das Buch "A Bunch of thoughts", das ihr oberster Ideologe Golwalkar geschrieben hat. Und es gibt noch ein zweites Buch "We or Our Nationhood Defined", das Gedankengut von Hitler und Mussolini übernimmt.
In diesen beiden Büchern kommt unmissverständlich ihre Weltsicht zum Ausdruck. Die setzen definitiv auf Diskriminierung. Die Hindus sind für sie Bürger erster Klasse. Muslime, Christen und Kommunisten hingegen werden zu Feinden erklärt und es heißt: Wenn sie hier bleiben wollen, sind sie Bürger zweiter Klasse."
Aufruf zu einem Hinduismus, den es so gar nicht gibt
Besonders gefährlich ist für Teesta Setalvat, dass der RSS zu einem Glauben aufruft, den es in der von ihm propagierten Reinform gar nicht gibt. Anders nämlich als die Hindu-Fundamentalisten glauben machen wollte, zeichne sich der Hinduismus durch eine Vielfalt von spirituellen Wegen aus und verfüge keineswegs über feste Glaubenssätze:
"Nicht nur die Muslime, die Christen und die sogenannten Unberührbaren - die Dalits - sind unter Druck. Es sind die Hindus selbst. Denn es wird gesagt, es gebe nur die eine richtige Form von Hindu-Glauben. Das stimmt aber nicht. Es existieren zahleiche Wege, um das Göttliche zu erreichen. Es gibt kein definitives "richtig" oder "falsch".
Mit dieser hindu-nationalistischen Politik, die die Regierung letztlich vertritt, gerät alles unter Druck: die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Freiheit der Kultur und so weiter. Alles gerät unter Druck. Und die Muslime, die Christen und die Dalits geraten besonders stark unter Druck."
Angriff auf die Seele des Landes
Für säkulare gesinnte Inder, die in einem weltoffenen und pluralistischen Staat leben möchten, ist die augenblickliche Entwicklung nur schwer zu ertragen. Denn für sie sei die derzeitige Politik Modis ein Angriff auf die Seele ihres Landes – sagt der katholische Erzbischof von Vasaj, Felix Machado:
"Als wir unsere Verfassung geschrieben haben, wollten wir nicht, dass die Sprache für Indien das Entscheidende ist. Wir wollten nicht, dass die Religion das Entscheidende ist. Wir wollten auch nicht, dass die Volkszugehörigkeit das Entscheidende ist. Aber wir wollten wirkliche Demokratie. Und nun müssen wir mit ansehen, wie Indien zu einem Land wird, das mit einer speziellen Religion identifiziert werden soll. Das ist schon sehr traurig.