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Fußball in Nahost (4)
Fangesänge als Protesthymnen

Die Fußball-Fankulturen spielten bei den arabischen Aufständen seit 2011 eine beachtliche Rolle. Was in Europa allerdings weniger bekannt ist: Die Ultras in Nordafrika haben eine komplexe Gesangskultur entwickelt. In ihren mehrstrophigen Liedern greifen sie gesellschaftliche Probleme auf.

Von Ronny Blaschke |
Ägyptische Fußballfans singen im Stadion, einer hält einen Schal seines Vereins Al Ahly hoch
Lieder der Fußballfans des Vereins Al Ahly gingen aus den Stadien auf politische Demonstrationen über (picture alliance / empics / Weam Mostafa / BackpagePix Staff)
Im Frühjahr 2012 in Kairo: Die Zuversicht nach dem „Arabischen Frühling“ ist verschwunden. Vor dem ägyptischen Innenministerium haben sich hunderte Fans des Fußballklubs Al Ahly versammelt. Sie singen gemeinsam, sie singen mit Inbrunst. Über staatliche Korruption und Polizeigewalt. Ihr Lied trägt den Titel: „Unsere Geschichte“.
 „Das Lied besteht aus einem Intro und Outro und vier Strophen in der Mitte. Ungefähr vier Minuten ist das Lied“, sagt Nadim Rai, Experte für etliche Fankulturen der arabischen Welt. „Das ist halt nicht ein typischer Fangesang, sondern ein richtiger Song, der erstmal von drei, vier Menschen aufgenommen und dann hochgeladen worden ist. Die Menschen haben sich dann das Video angeguckt zu diesem Lied auf Youtube und dann halt zu einem Gesang gemacht. Und das sind nicht die besten Stimmen der Kurve, aber der Inhalt des Liedes und des Gesanges steht im Vordergrund.“
In seinem aktuellen Projekt analysiert Nadim Rai die Gesangskultur der Ultra-Bewegung in Nordafrika. Er recherchiert, wo die Lieder aus den Stadien auf politische Demonstrationen übergegangen sind. Er sagt: „Und das hat sich sehr schnell verbreitet. Nicht nur in Ägypten, nicht nur unter Al-Ahly-Fans, sondern auch in anderen arabischen Ländern. Es gibt Aufnahmen auf Youtube von den Demos in Libanon in Beirut im Jahr 2019 gegen das politische System dort. Das waren Fans von al-Nejmeh, von einem der Vereine in Beirut, die auf die Straße gegangen sind und die dieses Lied gemeinsam mit den Demonstranten gesungen haben.“

Ultras nehmen Lieder in Tonstudios auf

In den allermeisten Fällen besingen die Ultras ihre Vereine, Städte und Freundschaften. Aber häufig greifen sie auch gesellschaftliche Themen auf. Zum Beispiel gescheiterte Fluchtversuche über das Mittelmeer. Nadim Rai hat sich auch mit den Liedern in Marokko befasst: „Zum Beispiel bei Raja Casablanca gibt es ein Lied über das Drogenproblem. Die erzählen, dass die harten Drogen sozusagen, die kommen über die Grenze – und der Zoll weiß Bescheid von der Einfuhr und profitiert auch davon. Also der Zoll an der Grenze drückt ein Auge zu und die lassen das passieren.“
Auch in Deutschland oder Italien stimmen Fans Anfeuerungsrufe an, aber selten länger als dreißig Sekunden. In Algerien etwa komponieren Ultras Lieder mit mehreren Strophen, manche drei oder vier Minuten lang. Der Journalist Maher Mezahi hat einen Aufsatz darüber verfasst, erschienen im Sammelband „Das rebellische Spiel“*. Er sagt: „Die Stadien in Algerien waren schon lange ein Freiraum für junge Männer, die sich nach Zugehörigkeit sehnten. Am Anfang sangen Ultras über Fußball. Nach dem Arabischen Frühling wurden ihre Lieder politischer. Es ging um Arbeitslosigkeit, auch um Korruption. Die Lieder waren manchmal vulgär, doch bald wurden sie von Millionen Menschen gesungen.“

Serie Fußball in Nahost

Die Fanszenen in Algerien teilen sich in Untergruppen auf. Häufig schließen sich Musiker unter den Ultras zu Bands zusammen. Sie nehmen Lieder in Tonstudios auf und veröffentlichen die Strophen in sozialen Medien, damit andere Mitglieder die Texte lernen können. Grafiker entwerfen Videos. Und so verkaufen Ultras tausendfach CDs, Plakate, Fahnen. Sie finanzieren damit auch Hilfsaktionen für Benachteiligte.
Fußball mit sozialem Anstrich? In Algerien habe das Tradition, erinnert Maher Mezahi: „In den 1930er- oder 1940er-Jahren gab es noch keine Fernseher. Viele Leute trafen sich in Cafés und hörten sich Spiele im Radio an. Diese Cafés waren auch Zentren der Chaabi-Musik, einer Mischung aus arabischen und andalusischen Melodien. Chaabi kommt aus dem Arabischen und bedeutet: Volk. In diesen Liedern ging es um Zusammenhalt, Politik und schon sehr früh auch um Fußball. So teilten sich Arbeiter, Künstler und Sportler denselben Sozialraum.“

Parodie auf Gangsterserie

Diese Tradition lebt in Algerien fort. Im Februar 2019 kündigt der schwerkranke Präsident Abdelaziz Bouteflika die Kandidatur für eine fünfte Amtszeit an. Bald darauf demonstrieren hunderttausende Menschen gegen das Regime. Viele singen ein Lied der Ultras des Vereins USM Algier. Das Lied entwickelt sich in der Hauptstadt Algier zu einer Protesthymne. Es heißt: „La Casa del Mouradia“, in Anlehnung an den Präsidentenpalast im Stadtviertel El Mouradia. Und es ist eine Parodie auf die spanische TV-Verbrecherserie „La Casa de Papel“, Haus des Geldes.
Das Lied der Ultras wird von prominenten Sängern neu aufgelegt – und erreicht hunderte Millionen Aufrufe auf Youtube, berichtet der algerische Sportwissenschaftler Mahfoud Amara: „Die Ultras wollen innovativ bleiben. Sie verbinden viele Elemente der Popkultur. Sie sind gegen das System, das wird auch in künstlerischen Graffitis deutlich. Oder in Tifos, das sind Stadion-Choreografien mit riesigen Bannern.“
Der Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika beugt sich übrigens 2019 dem öffentlichen Druck und verzichtet auf eine fünfte Amtszeit. Viele seiner Mitstreiter sind allerdings noch immer in hohen Positionen. Die Ultras werden vermutlich weiter singen.
*Transparenz-Hinweis: Unser Autor hat zu diesem Sammelband auch ein Kapitel beigetragen.