Samstagnachmittag in Köln. Spieltag. Die Straßenbahnen sind gerappelt voll. Mit Fußballfans. Aber auch mit Weihnachtsmarktbesuchern. Es ist eng, laut, aber auch friedlich. 1:1 zwischen Köln und Hannover. Kein Grund für Partylaune. Zumindest nicht in dieser Bahn. Aber: So ist es nicht immer.
"Moin, ich bin Mo Wenner und ich arbeite in dem Bereich Organisationsentwicklung, Personalentwicklung. Ansonsten hab ich noch ne Fußballvergangenheit, weil ich 20 Jahre lang im Leistungssport war." Mo wohnt im Norden Deutschlands. Fußball gehört bis heute zu Mos Leben: "Ich freu mich über gute Spiele, ich bin ab und zu im Stadion und zwar in allen Geschlechterkategorien."
Aber an Spieltagen versucht Mo, möglichst nicht Bahn zu fahren: "Ich gehör auch zu den Menschen, die versuchen, Reisen und so so zu planen und zu gucken, wer spielt gerade wo an den Wochenenden."
Fußballfans fluten an Spieltagen die Bahnen
100.000 Fußballfans sind an Spieltagen jedes Wochenende mit der Bahn unterwegs. Oft in Gruppen. Und bei solchen Fahrten hat Mo in der Vergangenheit nicht nur einmal schlechte Erfahrungen gemacht: "Ich erinnere zum Beispiel sehr eindrücklich, es war Relegationsspiel - ich hatte da nicht drauf geachtet damals - und es gab schon viele Polizeieinsätze am Bahnhof und so […] War schon angespannte Stimmung und wurde gleich mit sexistischen und schwierigen Sprüchen empfangen von Fußballfans, die im 1. Abteil waren und ich bin schnell eins weiter gegangen, da sah ich dann zwei Zugverantwortliche, die in der Ecke standen mit dem Rücken zur Wand und quasi Stoßgebete gen Himmel sandten, dass es bald irgendwie vorbei sei. Und es war mir total klar, da kann ich jetzt überhaupt keinen Support erwarten, wir können jetzt nur gemeinsam irgendwie höhere Mächte anrufen …"
Klar. Relegationsspiel. Emotionale Angelegenheit. Es geht um Aufstieg oder Abstieg. Aber warum müssen unbeteiligte Fahrgäste eigentlich diese Emotionen mit ertragen? Und wieso wird dieses Verhalten nur dann adressiert, wenn jemand so einen Vorfall öffentlich macht - wie zuletzt die Sängerin Mine.
"Es ist leider überhaupt nicht selten. Selten ist, dass das halt in der Form an die Öffentlichkeit kommt", sagt Jonas Gabler, Politikwissenschaftler und Mitarbeiter bei der Kompetenzgruppe "Fankulturen und Sport bezogene soziale Arbeit". Kurz KoFas. Gabler sagt, dass Fußball zu den Orten gehört, "wo so ein bisschen so’n Ausbruch aus den gewöhnlichen Konventionen ist, wo man meint, man könnte sozusagen sich auch ein bisschen daneben benehmen."
Studie aus England: An Spieltagen steigen Fälle von häuslicher Gewalt
Gilt natürlich auch für Karneval, das Oktoberfest oder den Schlagermove. "Das andere ist, es spielt Alkohol sicher 'ne Rolle als enthemmender Faktor", sagt Gabler. Auch das ist bei Volksfesten ähnlich. Aber es gibt eine Studie aus England. Die belegt: An Spieltagen steigen - unter bestimmten Umständen – auch die Fälle häuslicher Gewalt. "Je früher der Kick-off, desto mehr Probleme hat man nachher", sagt Tom Kirchmaier. Einer der Studienautoren und Director an der London School of Economics: "Die Leute gehen einfach danach in den Pub, wenn sie können, und dann trinken sie zu viel. Und je früher das Kick-off ist, desto mehr Zeit haben sie zu trinken und desto mehr geht schief. Und so sieht man dann statistisch, dass zehn Stunden nach Kick-off oder acht Stunden nach Ende - hat man diesen Peak an Domestic Abuse" .
So eine Studie gibt es in Deutschland bislang nicht. Trotzdem lassen sich die Ergebnisse übertragen, meint Kirchmaier: "Es gibt keinen Grund, warum englische Fans unterschiedlich sein sollten als deutsche Fans, als italienische und so weiter. Die alle haben das gleiche Problem: Sie trinken zu viel. Und - you know - ob das dann zu Hause schief geht oder in der Bahn - ist eigentlich zweitrangig. Es sollte eigentlich nichts schief gehen."
Sexistische Sprüche sind natürlich nicht dasselbe wie gewalttätige körperliche Übergriffe. Aber auch hier haben Fans viel Zeit, Alkohol zu trinken. Im Stadion, aber eben auch in der Bahn. Obwohl auf vielen Strecken sogar Alkoholverbot gilt. Nur: So ein Verbot muss auch durchgesetzt werden. Neben dem Alkohol ist der entscheidende Faktor beim Fußball aber die "vorherrschende Männlichkeitsvorstellungen, dass es hier sozusagen sehr traditionelle Männlichkeitsvorstellungen gibt und in der Fußballfankultur Sexismus immer noch sehr verbreitet ist", sagt Jonas Gabler.
FC St. Pauli hat eigenes Awareness-Konzept für Heimspiele
Diese Häufung lässt sich nur schwer in Zahlen darstellen. Die Fälle werden außerhalb der Fanszene selten gemeldet und nirgendwo zentral erfasst. Auch auf den Seiten der Vereine muss oft nach einer Melde- oder Kontaktstelle gesucht werden. Die meisten Vereine wissen aber um diese Vorfälle. "Wenn ich überlege, wie viele Nachrichten wir davon kriegen, egal wo und egal wie weit auch die Vereine teilweise sind, ist das immer noch unglaublich präsent." Maria von Weyhe arbeitet beim Fanladen des FC St. Pauli und ist Teil des fanbasierten AK Awareness. Der Verein hat seit 2024 ein eigenes Awareness Konzept für Heimspiele Namens Paulin.
Geleitet wird der Bereich von Antje Grabenhorst: "Beim Thema Sexismus hab ich das Gefühl, da gibt es einfach kaum eine Auseinandersetzung individuell in unserer Gesellschaft, aber auch im Fußball." Antje Grabenhorst und Maria von Weyhe haben 2018 das "Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im Fußball" mitgegründet. Seitdem ist viel passiert. Inzwischen haben fast alle Vereine der ersten und viele Vereine der zweiten Liga Awarenesskonzepte für ihr Hoheitsgebiet: das Stadion.
Die Ausgestaltung ist individuell. Teil des Awarenesskonzeptes des FC St. Pauli ist es, in engem Kontakt mit den Fans zu arbeiten: "Wir haben irgendwann angefangen, Fangruppen auch anzubieten oder sie auch ein Stück weit dazu aufzufordern, mit uns Workshops zu machen, um vor allem die Selbstregulation zu fördern. Also im Sinne von: Wenn jemand etwas mitbekommt, sich auch einzumischen. Weil ich würde behaupten, da fängt das schon an oder da muss es anfangen", sagt Maria von Weyhe. Darauf verlassen können sich Betroffene natürlich nicht.
Notruf-App im Hamburger Hauptbahnhof im Test
Für schnelle Hilfe in der Bahn wäre ein stiller Alarm hilfreich, mit dem Bahnpersonal informiert werden könnte. So eine Notruf-App wird aktuell noch bis Ende 2024 im Hamburger Hauptbahnhof getestet. "Die App ermöglicht Nutzenden, unauffällig Hilfe zu holen, ohne zu telefonieren. Per App-Button auf dem Smartphone kann man einen digitalen Hilferuf auslösen.
Der Alarm erreicht direkt die Sicherheitskräfte im Bahnhofsgebäude", heißt es in einem Schreiben der Deutschen Bahn auf Anfrage. Ob und wann so eine App in Zügen verfügbar ist, dazu schreibt die Pressestelle nichts. "Also es würde mir auf jeden Fall helfen, wieder an bestimmten Tagen zugfahren zu können" sagt Fußballfan Mo Wenner. Verbunden mit dem Wunsch, dass das Problem dann auch wirklich ernst genommen wird - und die Bahn ihre Beförderungsbedingungen durchsetzt.