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Farrell: "Die Belagerung von Krishnapur"
Ein Roman wie eine Blutlache

In seinem Roman "Die Belagerung von Krishnapur" beschreibt James Gordon Farrell den Aufstand indischer Soldaten gegen ihre britischen Besatzer im Jahr 1857. Farrell hat allerdings keine besinnliche Variante ähnlicher Kolonialromane geschrieben, sondern ein durch und durch satirisches Werk - mit einem Zynismus, der an Filme von Quentin Tarantino erinnert.

Von Michael Naumann |
    Zeichnung/Gemälde: historische Schlacht,
    Schlacht von Sobrahon 1846: Die East India Company stand mehrfach in kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Einheimischen in Indien (imago/stock&people/United Archives International)
    Spätestens seit dem Einmarsch amerikanischer Streitkräfte in den Irak vor zwölf Jahren stellt sich die mörderische Gegenwart der Region den glücklich verschonten Zuschauern der westlichen Welt als eine Art Nachhilfeunterricht im Fach "Kolonialismus" dar. Das Thema lautet "Die Geschichte des westlichen Imperialismus und seine Folgen." Denn ohne die absurden nahöstlichen Grenzziehungen englischer und französischer Beamter und Politiker nach dem Ersten Weltkrieg gäbe es heute keine mörderischen Machtkämpfe in den künstlichen Staaten Syrien, Irak, Libyen und Tunesien - vom Libanon ganz zu schweigen. Und ohne die koloniale Besitznahme großer Teile des indischen Subkontinents durch die englische East India Company und schließlich durch die britische Krone im Jahr 1858 stünden sich heute nicht die zwei Nuklearmächte Pakistan und Indien feindlich gegenüber.
    Dass zwei Millionen britische Kolonialbeamte und Offiziere einmal ein Drittel des Planeten beherrschten und ausbeuteten, scheint heute unvorstellbar. Wenn Geschichte, wie es heißt, einen langen Atem hat, dann atmet sie gerade wieder aus: Die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten sind die epochenversetzten Zeugen einer dreisten und erbarmungslosen westlichen Herrschaftsgeschichte, die in Europa fast schon vergessen war. Mit dem Kolonialismus unserer Vorfahren, so glauben wir, haben wir nichts mehr zu tun. Doch das ist ein Irrtum.
    Der anglo-irische Autor James Gordon Farrell lässt jene Kolonial-Europäer, genauer, die Engländer, in seinem Roman "Die Belagerung von Krishnapur" wieder sehr lebendig werden. Anders als in Salman Rushdies "Mitternachtskinder" oder in Amitav Goshs indischen Kolonialromanen verzichtet Farrell auf Bestandsaufnahmen der seelischen Folgen im Binnenleben von Opfern des Kolonialismus. Farrell kümmert einzig und allein die Gemütslage der englischen Besatzer (denn das waren sie) - und zwar in der Stunde ihrer höchsten Not.
    Die Guten sind schwitzende Narren in Tweed-Jacken
    Eingebettet in eine Art Wachtraum christlicher, zivilisatorischer Überlegenheit, lebt eine permanent überhitzte, klimatisch und prinzipiell überforderte Gruppe Engländer in dem - fiktiven - Außenposten "Krishnapur" in der nordindischen Tiefebene. Dort besorgt sie Mitte des 19. Jahrhunderts die Geschäfte der East India Company, Steuereinziehung inklusive. Die Kleinfamilien von der Insel haben nicht nur ihre unpassenden Kleider, sondern auch die eigentümlichen inneren Klassendünkel mitgebracht. Vom Golfspiel bis zur Pfarrei, von der Fuchsjagd bis zum Crocket - der Viktorianismus im Miniformat bestimmt den Alltag, mitsamt dem profunden Desinteresse an den aufrührerischen Impulsen in den Reihen der "Sepoys". Das sind die unterbezahlten indischen Soldaten der Armee, die sich die Company als Schutz vor den Machtinteressen der indischen Kleinfürsten hält wie eine Art Fremdenlegion im Land der Fremden.
    Doch im Jahr 1857 kommt es in Nordindien zum Aufstand der "Sepoys" - in der englischen Geschichtsschreibung als "Meuterei" bezeichnet, in der indischen als "erster indischer Unabhängigkeitskrieg." In Farrells Roman belagern die Soldaten das fiktive Krishnapur - sie erscheinen als unermüdlich sterbensbereiten Schimären am Horizont des gesellschaftlichen Dramas, das sich in der kleinen belagerten Klassengesellschaft entfaltet. Das Schema ist aus John Fords Western-Movies bekannt: draußen die bösen, halb nackten Eingeborenen, im Fort die blonden Guten und großen Tapferen. Allerdings hat der Autor Farrell eine ganz andere Wahl getroffen. Die Guten sind hier die schwitzenden Narren in Tweed-Jacken, die wie ihre Vorurteile angegossen sitzen, auch wenn es noch so heiß ist. Zum Personal gehören ein melancholischer Steuer-Einzieher, der Collector, den ein Hauch Skepsis ob seines Amtes umweht; ein katholischer und ein anglikanischer Geistlicher, die an ihrem Gott keineswegs verzweifeln, während sie Gräber für ihre Schützlinge schaufeln. Zwei Ärzte treten auf, die sich über die korrekte Cholera-Therapie streiten, während die Epidemie einen nach den anderen hinrafft. Ein naiver, erbarmungslos untalentierter englischer Poet spielt die zweite Hauptrolle. Für ihn reimt sich rein gar nichts, anders als für Kipling, den Horaz des Kolonialismus. Dekoriert wird die irrwitzige Szene von einigen entzückenden Damen, die geradewegs einem Jane Austen-Roman entstammen und die peu á peu ihre Frisuren und dann die Contenance verlieren. Ein "gefallenes Mädchen" vertritt britische Erotik und ein gefangener Maharadscha-Sohn verkörpert das Missgeschick verfrühter Anpassung. Im Übrigen tummeln sich jede Menge Subalterner auf den Seiten, die sich für ihre Königin Viktoria opfern, der späteren "Kaiserin von Indien."
    Hauptwerk Farrells ist aktueller als je zuvor
    Jener historische Aufstand wurde niedergeschlagen, die Briten nahmen grausame Rache. Farrells fiktive "Belagerung von Krishnapur" endet glücklich für die wenigen Überlebenden. Doch wer eine besinnliche Variante ähnlicher Kolonial-Romane aus der Feder britischer, französischer oder portugiesischer Autoren erwartet - man denke an E.M. Forster oder gar Rudyard Kipling oder an Lobo Antunes - der wird auf das Schönste enttäuscht: Farrell hat einen durch und durch satirischen Roman geschrieben, dessen an Zynismus grenzende Beschreibung des blutigen Geschehens an die filmische Radikalität eines Quentin Tarantinos oder Sam Peckinpahs erinnert. In diesem Roman schlägt das Lachen auf wie eine Blutlache - also wie die schreckliche Spur, die der europäische Kolonialismus durch die Geschichte der so genannten "orientalischen" Völker zog, von denen die westlichen Anthropologen einmal sagten, dass sie vor allem kleiner und dunkler seien als wir. Jetzt suchen ihre Enkel und Urenkel Asyl in den Ländern jener Kolonialherrscher, die glaubten, fremde Religionen, fremde Sitten und Geschichten im Namen des Fortschritts und des Christentums den je eigenen Wirtschafts- und Machtinteressen anpassen zu dürfen. Dem Autor hätte diese historische Ironie gefallen. Er ist als 44-Jähriger beim Angeln in Irland ertrunken.
    Farrells Roman, der 1973 erschien, wurde mit dem Booker-Preis ausgezeichnet und erstaunlicherweise erst jetzt durchaus gekonnt von Grete Osterwald ins Deutsche übertragen. "Farrell wäre heute fraglos einer der wichtigsten Romanautoren englischer Sprache," meint Salman Rushdie, "wenn er nicht traurigerweise so früh gestorben wäre." Ein seltsames Urteil über einen Dichter, dessen Hauptwerk von Jahr zu Jahr wichtiger geworden ist und heute aktueller ist als vor vier Jahrzehnten.
    James Gordon Farrell: Die Belagerung von Krishnapur. Matthes & Seitz, Berlin 2015, 467 Seiten, aus dem Englischen von Grete Osterwald.