Archiv


Fassungslosigkeit und unerhörte Entschlossenheit

Wilna, Vilnius oder Wilne, das sogenannte "Jerusalem Litauens" war jahrhundertelang ein Zentrum jüdischer Kultur. 1941, kurz nach dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion, wurde die Stadt besetzt. Bereits innerhalb der ersten sechs Monate wurden über 50.000 Juden umgebracht. Abraham Sutzkever, Jahrgang 1913, ist einer der Chronisten des Wilner Gettos.

Von Sabine Peters |
    Der Schweizer Ammann-Verlag, der in diesem Herbst seine Arbeit aufgibt, hat es als eins seiner letzten großen Projekte unternommen, gemeinsam mit dem Übersetzer Hubert Witt Sutzkevers Gedichtsammlung "Gesänge vom Meer" und seine Geschichte des Gettos zu publizieren.

    Wie überall in ihrem Herrschaftsbereich, ging es den Nationalsozialisten auch in Wilne nicht allein darum, die Juden physisch zu vernichten – sie sollten seelisch und geistig zerstört werden. Man zwang sie ins Getto und verbot ihnen, ihr Eigentum zu verkaufen, weil ihr Vermögen ohnehin dem Deutschen Reich gehöre. Man sammelte Thorarollen ein, um sie in einer Lederfabrik zu Stiefelfutter zu verarbeiten. Man untersagte die Ausübung der Religion, schloss das Spital, veröffentlichte von Tag zu Tag widersprüchliche Erlasse, für deren Übertretung die Menschen direkt umgebracht oder aber massenhaft in der "Todesfabrik" im nahgelegenen Ort Ponar ermordet wurden.

    Die Nazis wollten den Frauen "verbieten" zu gebären beziehungsweise brachten Neugeborene um – wenn sie sich nicht den gelegentlichen Spaß erlaubten, in Ponar die Kinder von Juden kurzfristig freikaufen zu lassen. Abraham Sutzkevers Frau war schwanger. Eines seiner Gedichte wendet sich an ihr gemeinsames Kind:

    "Ob aus Hunger,/ ob aus großer Liebe - / nur deine Mutter ist mir Zeuge:/ Ich wollte dich einschlingen, mein Kind,/ als ich fühlte, wie dein Körperchen kühl wurde/ in meinen Händen/... / Mein Kind,/ in Worten heißt du: Liebe,/ und wortlos bist du es selber, /du – die Mitte meines jeden Traums,/ verborgener Dritter,/ du aus den Winkeln der Welt/ hast mit dem Wunder eines nie gesehenen Sturms/ zwei zusammengebracht und verschmolzen -/ damit sie dich erschufen und dich erfreuen - /.../ Dich hat nie eine Wiege erfreut,/ wo jeder Schwung/ den Rhythmus der Sterne in sich birgt./ Mag die Sonne wie Glas zersplittern – denn nie sahst du ihr Licht... /Ein Tropfen Gift hat dein Vertrauen ausgebrannt,/ du meintest, es wäre süße warme Milch."

    Im Unterschied zu Sutzkevers Gedichten, deren Inhalt oft ins Symbolische erhoben wird, die von einem Feuer aus Metaphern erhitzt werden, ist der Ton der Chronik eher kühl; der Autor lässt meistens die Fakten für sich selbst sprechen.

    Als Schutz vor den ständigen Überfällen bauten sich die Juden in jedem möglichen Winkel Verstecke, sogenannte "Malinen", in denen sie Bücher, Gemälde, Angehörige, sich selbst verbargen. In den Malinen ereigneten sich Tragödien; denn oft wurden sie wegen der wimmernden Kinder entdeckt. Die Perfidie der Nazis: Jüdische Eltern wurden von den jüdischen Mitbewohnern des Verstecks gezwungen, ihre Kinder zu ersticken. Sutzkever erinnert sich an den wilden Schrecken in einer der Malinen, in der auch er Zuflucht suchte: Verkrampfte aneinander gepresste Körper; ein Streichholz flammte nicht auf, weil die Luft zu wenig Sauerstoff enthielt.

    Sutzkevers Gefühle und Erinnerungen sind auch noch 1966 in Israel, in einem Gedicht aus den "Gesängen vom Meer des Todes", bei seinen ermordeten Wilner Nachbarn. Im terrorisierten Getto war nicht einmal immer klar, wann ein Mensch zu leben aufhörte, und wo also innezuhalten und Kaddisch, das Gebet für die Verstorbenen, zu sagen gewesen wäre:

    "Ich kann ihn nicht vergessen, den Vergessenen./ Ich kann ihn/ nicht einmal erinnern: mit dem Gebetsschal auf dem Gesicht – /ein Sterbender, ein Zertretener auf dem Pflaster der/ Straschun-Straße. / Bis sich die Mondstraße zur Sonnenstraße verwandelt. ..../ Ich kann ihn nicht vergessen, den Vergessenen./ Eine Weile/ stehen zwei Getto-Pflöcke gebeugt daneben:/ Warum nicht Kaddisch? Fragen ihn beide die schwierige Frage."

    Trotz widrigster Umstände gab es im Getto vielfältige Formen der Gegenwehr. Die Bewohner gründeten ein Komitee zur Verteidigung der Armen, organisierten Kleidung, Mahlzeiten, medizinische Hilfe für die Bedürftigen. Illegale Theateraufführungen, Ausstellungen, Schulunterricht – die Fortsetzung des kulturellen Lebens sollte den entkräfteten, traumatisierten Menschen dennoch ihre Würde bewusst machen und sie bewahren.

    Der Satz "man tanzt nicht auf Gräbern" wurde aber auch in Wilne debattiert: War es nicht unsinnig, eine geheime Druckerei zu betreiben, Vorlesungen zu halten, einen Chor zu gründen, wenn ringsum die Leute dahinsiechten? Andererseits: Diejenigen, die in den Augen der Nazis lediglich mehr oder weniger verwertbare passive "Objekte" sein sollten, wurden durch die soziale und kulturelle Arbeit in ihrer Identität gestärkt; diese Arbeit machte sie zu aktiven Subjekten. Sie war ein Akt des Widerstandes und der Hoffnung. Sehr früh schon wurde außerdem die Partisanenorganisation FPO ins Leben gerufen, die linke und rechte Zionisten, Kommunisten und Bundisten vereinte. Sie hielt Kontakte zum nichtjüdischen Widerstand außerhalb des Gettos, zu den Partisanen in den umliegenden Wäldern und auch zum Warschauer Getto.

    Sutzkever, der selbst ein Mitglied der FPO war, schildert die Sabotageakte der jüdischen Zwangsarbeiter: Benzin und Munition der Besatzer verschwanden. Waffen wurden ins Getto geschmuggelt; einmal wurde ein Zug, beladen mit Deutschen und Waffen, gesprengt. Dabei stand die FPO bei all ihren Aktionen vor einem kaum lösbaren Dilemma: Die Widerständigen selbst hätten sich möglicherweise aus dem Getto retten und zu den Partisanen schlagen können. Andererseits war ihr oberstes Ziel der Schutz der unbewaffneten Bevölkerung. Unter den Mitgliedern des Judenrats und der jüdischen Polizei waren in Wilne natürlich auch diejenigen, die zur Kollaboration rieten und im Zweifelsfall massenhaft eigene Leute auslieferten, um damit die immer weniger werdenden Übrigen – oder auch nur sich selbst – zu retten.

    Izik Witenberg, der Leiter der FPO, hoffte darauf, ein Gettoaufstand würde von Antifaschisten aller Couleur von außen unterstützt – aber es war wie auch in anderen Gettos die unlösbare Frage, wann der Zeitpunkt der Gegenwehr gekommen wäre. Die Gestapo hatte ihre Spitzel unter den Gettobewohnern; Witenberg wurde verraten und stellte sich, er wurde ermordet.

    Kurz, bevor das Getto im September 43 liquidiert wurde, konnte Abraham Sutzkever mit anderen in die umliegenden Wälder flüchten und schloss sich einer Partisaneneinheit an. Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg bekam seine Gedichte in die Hand und holte ihn nach Moskau. Dort schrieb er 1944 die Chronik; 1946 sagte er als Zeuge der sowjetischen Anklage bei den Nürnberger Kriegsverbrechensprozessen aus.

    An und gegen den Dante der "Göttlichen Komödie" richten sich einige Verse aus den Gedichten "Ode an die Taube" von 1954 und "Schließ das Fenster" von 1965: Versuche des Dichters Sutzkover, von dem zu singen, worüber sich nicht sprechen lässt:

    "Meister der Hölle, willst du ein Weilchen die Höllen / vertauschen?/ Ich spaziere in deiner, und du in den wirklichen Feuern.../ Meister, es schmälert deinen ewigen, marmornen Ruhm nicht, / du bleibst Alighieri, und deine Hölle bleibt Allegorie."
    "Schließ das Fenster./ Gott bewahre, nicht enden! Es ist nicht die Zeit für Vollendung. / Ewiger als Marmor sind lose Blätter./ Schließ das Fenster. Solln Schatten sich in Säcke kleiden, / wenn Gespenster Carmen und Rigoletto spielen./ Lass eine leere Zeile, einen Fleck - /des Gettos zu gedenken."


    Sutzkevers Gedichte und die Chronik ergänzen sich. Die "Gesänge vom Meer des Todes", in Versen oder freien Rhythmen geschrieben, setzen die Tradition jiddischer Dichtkunst fort; zu ihr gehört die Affinität zum Traum, zur Vision, zum Orakel. Zu ihr gehört auch ein teilweise religiöses Pathos, das fremd anmuten kann, wenn man kein Ohr für religiöse Töne hat. Auf völlig andere Weise als die Gedichte ist die "Chronik" ihrerseits ein Buch der Schmerzen. Sie erschien 1946 in Moskau und gleichzeitig in Paris; beide Fassungen wurden seinerzeit allerdings aus je unterschiedlichen politischen Gründen gekürzt. Der eigentliche Text der Chronik entstand im Sommer 1944. Wilne war schon befreit, der Weltkrieg allerdings noch nicht zu Ende.

    Die Überschrift des letzten Kapitels heißt: "Auf der heißen Asche". Und im letzten Satz sieht Sutzkever, zurückgekehrt in seine Stadt, am Flussufer einen bewaffneten jüdischen Partisanen stehen, im Fluss sieht er die Leiche eines deutschen Soldaten. Ein Bild des Sieges? Kaum. Denn im letzten Kapitel erfährt der Chronist, wie heiß die "Asche" tatsächlich noch ist. Er hört von überlebenden jüdischen Zwangsarbeitern, wie sie in Ponar die Leichen der Ermordeten ausgraben und verbrennen mussten; die Nazis wollten, dass kein Beweis ihrer Verbrechen übrig bleiben würde. Dabei durfte nicht von Menschen, von Ermordeten oder von Leichen die Rede sein. In einem nachgetretenen, verdoppelten Zynismus gegenüber den Opfern, der sich doch nur selbst entlarvt, sprachen die Täter angesichts der Toten von "Figuren", nannten die Zwangsarbeiter "Figurenträger" und "Figurengräber".

    Die Chronik des Wilner Gettos ist ein kühles und doch fiebrig heiß wirkendes Buch, dem Fassungslosigkeit und eine unerhörte Entschlossenheit auf jeder Seite eingeschrieben ist. Auch wenn der Autor 1944 schon fast alles weiß, sein Text "weiß nicht". Denn der Sprecher der Chronik ist nicht allein der Autor selbst, sondern viele, viele der ermordeten oder überlebenden Bewohner dieses Gettos.

    Jean Améry sprach in Bezug auf die Gettos einmal von einem "Warteraum des Todes". Immer noch leben traumatisierte Zeitzeugen alltäglich und allnächtlich in diesem Warteraum. Und es leben damit ihre, auf andere Weise traumatisierten Nachkommen. Immer noch gilt es, innezuhalten: "Lass eine leere Zeile, einen Fleck, des Gettos zu gedenken."

    Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941 – 1944. Aus dem Jiddischen von Hubert Witt, Ammann-Verlag, 230 Seiten, 19, 95 Euro
    Abraham Sutzkever: Gesänge vom Meer des Todes. Gedichte. Aus dem Jiddischen von Hubert Witt. Ammann-Verlag, 190 Seiten , 22,95 Euro