Sie sitzen am Straßenrand in der Madrider Innenstadt auf Klappstühlen, eingehüllt in warmen Decken, manche schützen die Beine zusätzlich mit Kartons vor Wind und Regen. So wie rund Tausend Gläubige haben auch Eugenia Díaz, Ana Sánchez und Maricarmen Villa fast zwei Tage lang in der Schlange vor der Madrider Basilika des Jesus von Medinaceli auf Einlass gewartet. In der Kirche befindet sich der "Christus von Medinaceli", eine in Spanien besonders verehrte Holzskulptur aus dem 17. Jahrhundert. Eugenia Díaz erklärt:
"Mein Sohn hatte letztes Jahr eine sehr starke Gastritis. Niemand wusste, warum. Die Ärzte gaben ihm Kortison, sprachen von einer genetisch bedingten Allergie, er sollte auf Hühnchen und Eier verzichten. Letztes Jahr bat ich den Christus von Medinaceli, er möge meinen Sohn heilen. Ich sage ganz sicher die Wahrheit: Heute hat mein Sohn überhaupt keine Probleme mehr. Er isst wieder alles, und die Medikamente nimmt er auch nicht mehr."
Seit 1970 kommt die knapp 60-Jährige jedes Jahr zur Basilika im Zentrum von Madrid, auch ihre erste Schwangerschaft im Alter von 30 Jahren schreibt sie diesen Besuchen zu. So vertrauen viele Gläubige dem Christus von Medinaceli, die ihn nicht nur anbeten, sondern ihm auch die Füße küssen. Ein Ritual, dass die Kirche für dieses Jahr untersagt hat. Die Gefahr, dass dabei das Coronavirus übertragen werden könnte, ist zu groß. Jeder habe dafür Verständnis, sagt Ana María Sánchez neben Eugenia Diaz. Der Glaube zeichne sich nicht nur den Kuss aus, sondern dadurch, dass sie einen Tag und eine Nacht lang vor der Kirche warten.
Kein Weihwasser, kein Händeschütteln, keine Küsse
"Manche dieser katholischen Traditionen haben ihre Wurzeln in der Zeit der Schwarzen Pest im 14. Jahrhundert."
Sagt Jesús Argüelles, Sprecher der spanischen Bischofskonferenz, zum in Spanien weit verbreiteten Brauch, in der Fastenzeit Heiligen, Marien- oder Christusfiguren zu verehren. Der Brauch könne auch in der Zeit des Coronavirus Orientierung geben:
"In der Krankheit fanden sie so Trost, zum Beispiel in der Figur der Schmerzensmutter. Das heißt nicht, dass wir der Wissenschaft misstrauen sollen – oder dass die Virgen de la Angustia oder die Virgen de la Piedad uns heilen werden. Aber sie zeigen uns, dass Wissenschaft und Technik bei der Frage nach unserer Existenz nicht das letzte Wort haben."
Dennoch gibt es nun in den Kirchen vorerst kein Weihwasser mehr. Die Gläubigen sollen sich auch beim traditionellen Friedensgruß nicht mehr die Hand reichen, umarmen oder gar küssen, so die Empfehlung. Die Kirchen zu schließen, kann sich der Sprecher der katholischen Bischofskonferenz hingegen nicht vorstellen:
"Diese weltweite Epidemie erstaunt uns alle. Wir sind gewohnt, der Wissenschaft soweit zu vertrauen, dass sie alle Probleme löst. Jetzt haben wir erstmal keine Lösungen. Da haben die Leute Angst. Uns ist wichtig, in dieser Zeit die Kirchen offen zu halten, als Orte, in denen auf der einen Seite die Vergänglichkeit des Lebens, aber auch das Vertrauen und die Hoffnung im Mittelpunkt stehen."
Doch das Coronavirus stellt noch eine weitere katholische Tradition in Spanien in Frage: die Semana Santa. Hundertausende, Einheimische wie Touristen, kommen in den engen Gassen der spanischen Altstädte zu den Osterprozessionen zusammen. In der Vergangenheit haben Wolkenbrüche schon öfters einzelne Prozessionen verhindert. Aber Maricarmen Villa, die ebenfalls stundenlang in der Schlange vor der Basilika des Jesus von Medinaceli ausgeharrt hat, hat keine Zweifel:
"Ich komme aus Córdoba und ich versichere, die Semana Santa findet statt. Die Bruderschaften werden die Heiligen auf die Straße tragen. Da bin ich mir ganz sicher."
Die Bischofskonferenz hat eine solche Garantie bislang jedoch nicht ausgesprochen. Und andere Großveranstaltungen ohne religiösen Hintergrund sind in Spanien wegen des Coronavirus bereits abgesagt worden, so etwa der Mobile World Congress in Barcelona.