Zwar beherbergt die "Encyclopädie" in der Tat das Wissen aus allen Bereichen der sich zunehmend entwickelnden Technik, des Handwerks, der Wissenschaften sowie von Politik und Gesellschaft. Zweifellos war es eine unglaubliche Leistung diese insgesamt 28 Bände ab 1750 im Laufe von 25 Jahren herauszugeben. Ihr Verkaufserfolg verdankte sich denn auch vornehmlich ihrem praktischen Nutzen. Warum aber schreibt Blom dann?
Die "Encyclopädie" war das intellektuelle Äquivalent einer Belagerungsmaschine, deren Funktion es war, das Fundament ihrer Zeit zu erschüttern.
Nein, Diderot und seinen Freunden ging es nicht darum, Wissen unters Volk zu bringen, um es dadurch aufzuklären. Diderot wollte auf diese Weise vielmehr Ideen publizieren, die man nicht sagen durfte. Denn das 18. Jahrhundert war alles andere als aufgeklärt. In Ländern wie den Niederlanden, in der Schweiz, in Preußen und in England herrschte eine etwas freiere Atmosphäre. Aber dezidiert sich beispielsweise gegen die Religion auszusprechen, das war auch dort riskant. Im absolutistischen Frankreich des Ancien Régime war das geradezu lebensgefährlich. Die katholische Kirche und die staatlichen Behörden verfolgten jeden Gedanken, der die kirchlichen Lehren und die königliche Herrschaft in Frage stellte.
Überall gab es Polizeispitzel und Denunzianten und nicht immer halfen gegen eine Anklage Beziehungen in die höheren Kreise des Adels und der Verwaltung. Kritische Bücher ließen sich nur im Ausland und unter falschem Namen publizieren. Sie mussten nach Frankreich geschmuggelt werden, ein hohes Risiko für Transporteure, Buchhändler und Käufer. Blom schildert einen Fall von Schmugglern, bei denen man nur zwei Bücher entdeckte:
Sie wurden angeprangert, ausgepeitscht und gebrandmarkt, der Gehilfe wurde zu neun Jahren auf der Galeere verurteilt, der Buchhändler zu fünf Jahren und die Frau für den Rest ihres Lebens ins Irrenhaus gesteckt.
1766 wurde ein 19-Jähriger wegen einem verbotenen Voltaire-Buch gefoltert und öffentlich grausam hingerichtet. Während die Arbeiten an der "Encyclopädie" gerade begonnen hatten, wurde Diderot im Juli 1749 inhaftiert. Er hatte anonym ein Buch publiziert, in dem er Gott für unbeweisbar erklärte. Doch der Priester seiner Gemeinde denunziert ihn. Im Protokoll heißt es:
Er äußerte Blasphemien gegen Jesus Christus und die heilige Jungfrau, die ich niemals aufschreiben könnte. In einem der Gespräche hat er zugegeben, der Autor von einem Werk zu sein, das vor zwei Jahren vom Parlement gerichtlich verurteilt und verbrannt wurde.
Das hätte das frühe Ende von Diderot sein können, wenn nicht die Buchhändler, die die "Encyclopädie" verlegten, ihren Einfluss geltend gemacht hätten. Vor allem konnten Sie damit drohen, dass das Projekt ins Ausland abwandert und dass dann Tausende von Arbeitsplätzen in Paris verloren gehen.
Die "Encyclopädie" bot Diderot und seinen Freunden die Chance, gefährliche Ideen zu publizieren. Die alphabetische Ordnung machte es der Zensur weitgehend unmöglich, die Längen von Artikeln miteinander zu vergleichen. Bestimmte Themen wie die Geschichte von Herrscherhäusern wurden soweit wie möglich ausgeklammert. Gefährliche Ideen wurden akribisch dargestellt, um sie dann einer orthodoxen Kritik zu unterziehen, die den Zensoren gefallen musste. Blom schreibt:
Eine weitere Strategie der "Encyclopädie" war, sich über heidnische Kulthandlungen und Glaubensinhalte lustig zu machen, die eine auffällige Ähnlichkeit mit christlichen Ritualen und Dogmen hatten. Die Jungferngeburt der Isis im alten Ägypten? Unerhört! und sogar die Querverweise haben es in sich. Der Artikel Eucharistie z.B. also über das Abendmahl enthielt den Hinweis ‚siehe: Kannibalismus’.
Die "Encyclopädie" war für ihre Herausgeber also ein subversives Unternehmen, das sich mit der Vermittlung von Wissen tarnte. Um Diderot hatte sich eine Gruppe von Autoren versammelt, die vor allem die Religion angriffen und sich mehr oder weniger als Atheisten bezeichneten. Neben Diderot war der wichtigste Baron Holbach, der philosophische Kopf dieser Gruppe, der als erklärter Atheist und Materialist zahlreiche Bücher anonym im Ausland veröffentlichte. Nicht mal im kleinsten Kreis durfte er das zugeben.
Holbach verfügte zudem über ein großes Haus in Paris und einen gut sortierten Weinkeller. Zusammen mit seiner sehr schönen Frau betrieb er jahrzehntelang einen Salon, in den bis zu zwei mal in der Woche circa 25 Gäste zum Abendessen eingeladen wurden. Auch in den vielen anderen Salons ging es um einen Freiraum, in den die polizeilichen und kirchlichen Spitzel nicht eindringen konnten. In Holbachs Salon aber wurden die bösesten Argumente des Atheismus und Materialismus mit den berühmtesten Philosophen und Wissenschaftlern offen, ausgiebig und weinselig diskutiert. Philipp Blom:
Mehr als jeder andere Ort der Welt war Holbachs Salon zum Wohnzimmer der intellektuellen Elite Europas geworden. Es ging darum, das menschliche Wesen ganz neu zu denken, die Beziehungen zwischen den Menschen neu zu ordnen und der Gesellschaft eine andere, aus materialistischen Prinzipien erwachsende Form zu geben.
Dem verdankt sich denn auch der Titel von Bloms Buch: "Böse Philosophen", das nicht nur leicht verständlich die diversen philosophischen, sondern auch die persönlichen Auseinandersetzungen schildert und damit ein faszinierendes Sittengemälde entwirft, bei dem die Lebens- und Liebesgeschichten nicht fehlen. Nicht nur, dass zwei Salongäste der schönen Baronin den Hof machten, eine befreundete Gräfin aber die Baronin gegenüber dem Baron fälschlicherweise bezichtigte, ein Verhältnis mit ihrem Lebensgefährten zu haben, der zugleich ein enger Freund von Holbach war. Längst nicht alle waren verheiratet, konnte man Ehen damals auch nicht auflösen. Diderot litt zeitlebens unter seiner frommen Frau und hatte jahrzehntelang eine Freundin. Seine Tochter verbrannte denn auch nach Diderots Tod alle Briefe der Freundin an ihn, während die Mutter der Freundin die frühen Briefe Diderots vernichtete.
Diderot und Holbach vertreten nicht nur materialistische Positionen, sondern auch hedonistische. Sie kritisierten die kirchliche Unterdrückung der Lust und der Leidenschaften. So schreibt Diderot:
Die Leidenschaften werden überall verächtlich gemacht; und man vergisst darüber, dass sie auch die Quelle aller Genüsse sind.
Doch Hedonismus heißt für sie nicht Egoismus, so der bis heute gängige Vorwurf. Für Lust und Leidenschaften braucht man andere Menschen, die man dazu nur gewinnen kann, wenn man sich ihnen gegenüber auch fair verhält. Doch anders als für Kant verdankt sich diese Haltung nicht der Vernunft, sondern der Bemühung um Lust. So entwickeln Diderot und Holbach aus dem Hedonismus eine Ethik, die doch auf wenig Resonanz stieß. Blom bemerkt:
Zu ihren großen Verdiensten gehört es, dem menschlichen Körper zum ersten Mal eine sichere und positive Rolle in der Philosophie zugestanden zu haben.
Die Revolutionäre wie Robespierre und Napoleon verehrten Rousseau, der an die Stelle der Lust die neutrale kindliche Gefühlswelt setzt und an die Stelle des Individuums einen organischen politischen Körper, der auf die Religion keineswegs verzichtet. Auch Kant und Hume erwiesen sich später als ähnlich vereinbar mit einem aufgeklärten Glauben. Blom konstatiert:
Die radikale Aufklärung stand dem Strom der Geschichte im Weg.
Daher auch der Untertitel von Bloms Buch: "Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung." Trotzdem wurde es offenbar zurecht vergessen, da sich der intellektuelle Mainstream in den letzten zwei Jahrhunderten antihedonistisch und gemeinschaftsorientiert, agnostisch und rationalistisch präsentiert. Erst im Anschluss an Nietzsche und Foucault könnte unter postmodernen Umständen dieser Hedonismus wieder populär werden, was indes nach wie vor weitgehend auf Ablehnung stößt.
Philipp Blom: "Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung", Carl Hanser Verlag, München 2011, gebunden. 400 Seiten, 24,90 Euro
Die "Encyclopädie" war das intellektuelle Äquivalent einer Belagerungsmaschine, deren Funktion es war, das Fundament ihrer Zeit zu erschüttern.
Nein, Diderot und seinen Freunden ging es nicht darum, Wissen unters Volk zu bringen, um es dadurch aufzuklären. Diderot wollte auf diese Weise vielmehr Ideen publizieren, die man nicht sagen durfte. Denn das 18. Jahrhundert war alles andere als aufgeklärt. In Ländern wie den Niederlanden, in der Schweiz, in Preußen und in England herrschte eine etwas freiere Atmosphäre. Aber dezidiert sich beispielsweise gegen die Religion auszusprechen, das war auch dort riskant. Im absolutistischen Frankreich des Ancien Régime war das geradezu lebensgefährlich. Die katholische Kirche und die staatlichen Behörden verfolgten jeden Gedanken, der die kirchlichen Lehren und die königliche Herrschaft in Frage stellte.
Überall gab es Polizeispitzel und Denunzianten und nicht immer halfen gegen eine Anklage Beziehungen in die höheren Kreise des Adels und der Verwaltung. Kritische Bücher ließen sich nur im Ausland und unter falschem Namen publizieren. Sie mussten nach Frankreich geschmuggelt werden, ein hohes Risiko für Transporteure, Buchhändler und Käufer. Blom schildert einen Fall von Schmugglern, bei denen man nur zwei Bücher entdeckte:
Sie wurden angeprangert, ausgepeitscht und gebrandmarkt, der Gehilfe wurde zu neun Jahren auf der Galeere verurteilt, der Buchhändler zu fünf Jahren und die Frau für den Rest ihres Lebens ins Irrenhaus gesteckt.
1766 wurde ein 19-Jähriger wegen einem verbotenen Voltaire-Buch gefoltert und öffentlich grausam hingerichtet. Während die Arbeiten an der "Encyclopädie" gerade begonnen hatten, wurde Diderot im Juli 1749 inhaftiert. Er hatte anonym ein Buch publiziert, in dem er Gott für unbeweisbar erklärte. Doch der Priester seiner Gemeinde denunziert ihn. Im Protokoll heißt es:
Er äußerte Blasphemien gegen Jesus Christus und die heilige Jungfrau, die ich niemals aufschreiben könnte. In einem der Gespräche hat er zugegeben, der Autor von einem Werk zu sein, das vor zwei Jahren vom Parlement gerichtlich verurteilt und verbrannt wurde.
Das hätte das frühe Ende von Diderot sein können, wenn nicht die Buchhändler, die die "Encyclopädie" verlegten, ihren Einfluss geltend gemacht hätten. Vor allem konnten Sie damit drohen, dass das Projekt ins Ausland abwandert und dass dann Tausende von Arbeitsplätzen in Paris verloren gehen.
Die "Encyclopädie" bot Diderot und seinen Freunden die Chance, gefährliche Ideen zu publizieren. Die alphabetische Ordnung machte es der Zensur weitgehend unmöglich, die Längen von Artikeln miteinander zu vergleichen. Bestimmte Themen wie die Geschichte von Herrscherhäusern wurden soweit wie möglich ausgeklammert. Gefährliche Ideen wurden akribisch dargestellt, um sie dann einer orthodoxen Kritik zu unterziehen, die den Zensoren gefallen musste. Blom schreibt:
Eine weitere Strategie der "Encyclopädie" war, sich über heidnische Kulthandlungen und Glaubensinhalte lustig zu machen, die eine auffällige Ähnlichkeit mit christlichen Ritualen und Dogmen hatten. Die Jungferngeburt der Isis im alten Ägypten? Unerhört! und sogar die Querverweise haben es in sich. Der Artikel Eucharistie z.B. also über das Abendmahl enthielt den Hinweis ‚siehe: Kannibalismus’.
Die "Encyclopädie" war für ihre Herausgeber also ein subversives Unternehmen, das sich mit der Vermittlung von Wissen tarnte. Um Diderot hatte sich eine Gruppe von Autoren versammelt, die vor allem die Religion angriffen und sich mehr oder weniger als Atheisten bezeichneten. Neben Diderot war der wichtigste Baron Holbach, der philosophische Kopf dieser Gruppe, der als erklärter Atheist und Materialist zahlreiche Bücher anonym im Ausland veröffentlichte. Nicht mal im kleinsten Kreis durfte er das zugeben.
Holbach verfügte zudem über ein großes Haus in Paris und einen gut sortierten Weinkeller. Zusammen mit seiner sehr schönen Frau betrieb er jahrzehntelang einen Salon, in den bis zu zwei mal in der Woche circa 25 Gäste zum Abendessen eingeladen wurden. Auch in den vielen anderen Salons ging es um einen Freiraum, in den die polizeilichen und kirchlichen Spitzel nicht eindringen konnten. In Holbachs Salon aber wurden die bösesten Argumente des Atheismus und Materialismus mit den berühmtesten Philosophen und Wissenschaftlern offen, ausgiebig und weinselig diskutiert. Philipp Blom:
Mehr als jeder andere Ort der Welt war Holbachs Salon zum Wohnzimmer der intellektuellen Elite Europas geworden. Es ging darum, das menschliche Wesen ganz neu zu denken, die Beziehungen zwischen den Menschen neu zu ordnen und der Gesellschaft eine andere, aus materialistischen Prinzipien erwachsende Form zu geben.
Dem verdankt sich denn auch der Titel von Bloms Buch: "Böse Philosophen", das nicht nur leicht verständlich die diversen philosophischen, sondern auch die persönlichen Auseinandersetzungen schildert und damit ein faszinierendes Sittengemälde entwirft, bei dem die Lebens- und Liebesgeschichten nicht fehlen. Nicht nur, dass zwei Salongäste der schönen Baronin den Hof machten, eine befreundete Gräfin aber die Baronin gegenüber dem Baron fälschlicherweise bezichtigte, ein Verhältnis mit ihrem Lebensgefährten zu haben, der zugleich ein enger Freund von Holbach war. Längst nicht alle waren verheiratet, konnte man Ehen damals auch nicht auflösen. Diderot litt zeitlebens unter seiner frommen Frau und hatte jahrzehntelang eine Freundin. Seine Tochter verbrannte denn auch nach Diderots Tod alle Briefe der Freundin an ihn, während die Mutter der Freundin die frühen Briefe Diderots vernichtete.
Diderot und Holbach vertreten nicht nur materialistische Positionen, sondern auch hedonistische. Sie kritisierten die kirchliche Unterdrückung der Lust und der Leidenschaften. So schreibt Diderot:
Die Leidenschaften werden überall verächtlich gemacht; und man vergisst darüber, dass sie auch die Quelle aller Genüsse sind.
Doch Hedonismus heißt für sie nicht Egoismus, so der bis heute gängige Vorwurf. Für Lust und Leidenschaften braucht man andere Menschen, die man dazu nur gewinnen kann, wenn man sich ihnen gegenüber auch fair verhält. Doch anders als für Kant verdankt sich diese Haltung nicht der Vernunft, sondern der Bemühung um Lust. So entwickeln Diderot und Holbach aus dem Hedonismus eine Ethik, die doch auf wenig Resonanz stieß. Blom bemerkt:
Zu ihren großen Verdiensten gehört es, dem menschlichen Körper zum ersten Mal eine sichere und positive Rolle in der Philosophie zugestanden zu haben.
Die Revolutionäre wie Robespierre und Napoleon verehrten Rousseau, der an die Stelle der Lust die neutrale kindliche Gefühlswelt setzt und an die Stelle des Individuums einen organischen politischen Körper, der auf die Religion keineswegs verzichtet. Auch Kant und Hume erwiesen sich später als ähnlich vereinbar mit einem aufgeklärten Glauben. Blom konstatiert:
Die radikale Aufklärung stand dem Strom der Geschichte im Weg.
Daher auch der Untertitel von Bloms Buch: "Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung." Trotzdem wurde es offenbar zurecht vergessen, da sich der intellektuelle Mainstream in den letzten zwei Jahrhunderten antihedonistisch und gemeinschaftsorientiert, agnostisch und rationalistisch präsentiert. Erst im Anschluss an Nietzsche und Foucault könnte unter postmodernen Umständen dieser Hedonismus wieder populär werden, was indes nach wie vor weitgehend auf Ablehnung stößt.
Philipp Blom: "Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung", Carl Hanser Verlag, München 2011, gebunden. 400 Seiten, 24,90 Euro