Der 2013 verstorbene Autor Wolfgang Herrndorf war ein Cineast. Oft sah man ihn im Berliner Filmtheater am Friedrichshain, wo er sich in den Überraschungsvorführungen, den Sneak Previews, die neuesten Filme anschaute. Lars von Triers "Melancholia" und "A Serious Man" von den Coen-Brüdern gehörten zu seinen Favoriten. Seinem Roman "Tschick" von 2010 stellte er ein Zitat aus seinem absoluten Lieblingsfilm "Willkommen im Tollhaus" des amerikanischen Regisseurs Todd Solondz voran. Es scheint also nur folgerichtig, dass die Abenteuer der 14-jährigen Jungen Maik Klingenberg und Andrej "Tschick" Tschichatschow, die beide nicht zur Geburtstagsparty der Klassenschönheit Tatjana eingeladen werden und ihre großen Ferien schließlich "on the road" verbringen, ihren Weg ins Kino finden.
David Wnendt durch Fatih Akin als Regisseur ersetzt
Das Drehbuch schrieb Lars Hubrich, der Herrndorf oft ins Kino am Friedrichshain begleitete. Die Regie sollte David Wnendt übernehmen, über dessen Filme "Die Kriegerin" und "Feuchtgebiete" Herrndorf sich in seinem Blog "Arbeit und Struktur" lobend geäußert hatte. Der wurde allerdings wenige Wochen vor Drehbeginn durch Fatih Akin ersetzt. Und, wenn man genau hinsieht, kann man sich keinen besseren deutschen Regisseur für dieses Projekt vorstellen. Nicht nur stammt Akin aus Herrndorfs Heimatstadt Hamburg, war wie Maik Klingenberg ein Schlüsselkind und wie Tschick als Emigrantensohn in der deutschen Schule ein Außenseiter. Viel wichtiger noch: Akin ist vielseitig, hat keine Scheu vor Unterhaltung und Genrefilm, kann, obwohl ein Autorenfilmer, Tonfälle imitieren und sich in den Dienst einer Geschichte stellen, ohne dabei seine Handschrift zu verlieren. Vor allem aber ist er Cineast. Sein "Tschick" wimmelt vor filmischen Verweisen. Hauptreferenz ist Hark Bohms "Nordsee ist Mordsee" von 1975. Ein Film, den Herrndorf beim Verfassen von "Tschick" nicht kannte, auf den ihn aber Leser wegen einer ähnlichen Figurenkonstellation aufmerksam machten, auch wenn die zwei Jungen hier keinen Lada Niva, sondern ein Segelboot kapern. Der Autor sah sich den Film an, war nicht gänzlich überzeugt, notierte jedoch immerhin, die Stimmung der Bilder träfe es genau.
"Nordsee ist Mordsee"-Regisseur Hark Bohm half Akin schließlich auch, Hubrichs Drehbuch nach seinen Vorstellungen zu verändern, ohne es allerdings weit von der Romanvorlage wegzubewegen. Bohms Sohn Uwe, der in "Nordsee ist Mordsee" die Hauptrolle spielte, ist in "Tschick" nun Maik Klingenbergs Vater. Akins "Tschick" ist also eine Hommage an Bohms Film, dessen lakonischen Ton er vor allem in den Szenen trifft, die den familiären Unfrieden der Klingenbergs zeigen – der Vater erfolgloser Immobilienmakler, die Mutter Trinkerin. Sobald die beiden Freunde aber auf Reisen gehen, ist Akins Adaption allerdings weitaus schneller, verspielter und der Vorlage entsprechend komischer als Bohms Drama.
Hier sind die beiden Außenseiter plötzlich tatsächlich zwei Helden eines großen Road-Movie und dafür natürlich eigentlich, darin besteht das komische Potenzial, viel zu jung. Tristan Göbel als Maik und Anand Batbileg als Tschick spielen das mit der richtigen Mischung aus Naivität und Altklugheit. Man hat das Gefühl, man sieht hier die Geschichte der beiden Jungen aus ihren eigenen Augen.
Der melancholische Unterton des Romans geht verloren
Akins "Tschick" ist vor allem, wie viele seiner Filme, eine Feier des unangepassten Außenseitertums. Das zeigt sich auch im Soundtrack. HipHop und Indie-Rock, jugendliches Aufbegehren, Rebellion und gar Revolution werden hier getriggert. Am Ende hört man die Berliner Band Beatsteaks mit dem musikalischen Gast Dirk von Lowtzow, der eine eingedeutschte Version des Stereolab-Songs "French Disco" singt.
Wolfgang Herrndorf schrieb "Tschick", als er bereits an einem nicht heilbaren Gehirntumor erkrankt war. Er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Das hat sich einerseits auf das ungeheure Tempo seiner Erzählung ausgewirkt, zugleich aber wurde sein Jugendroman eine Reflexion über den Tod. Als Maik und Tschick mit ihrer Reisebekanntschaft Isa etwa eine Holzhütte auf dem Gipfel eines Berges erreichen und sich die Schnitzereien anschauen, mit denen sich die Touristen hier verewigt haben, finden sie eine Inschrift eines gewissen Anselm Wail aus dem Jahr 1903.
"Tschick zog sein Taschenmesser raus und fing an zu schnitzen. Und während wir uns sonnten, uns unterhielten und Tschick beim schnitzen zuguckten, musste ich die ganze Zeit darüber nachdenken, dass wir in hundert Jahren alle tot sind. So wie Anselm Wail tot war. Seine Familie war auch tot, seine Eltern waren tot, seine Kinder waren tot, alle die ihn gekannt hatten, waren ebenfalls tot. Und wenn er irgendwas in seinem Leben gemacht oder gebaut oder hinterlassen hatte, war es wahrscheinlich auch tot, zerstört, von zwei Weltkriegen verwüstet, und das einzige, was übrig war von Anselm Wail, war dieser Name in einem Stück Holz. Warum hatte er den dahin geschnitzt? Vielleicht war er auch auf großer Reise gewesen wie wir. Aber egal. Es würde nie wieder irgendjemanden interessieren, weil nichts übrig war von seinem Leben und allem. Und nur, wer hier auf den Gipfel stieg, erfuhr noch von Anselm Wail."
Dieser melancholische Unterton, der sich in der Stimme des Erzählers des Romans findet, geht in der Filmadaption verloren, lässt sich vielleicht auch nicht ohne weiteres in ein anderes Medium übersetzen. So kann Fatih Akins "Tschick" vielleicht nicht dem großen Autor Wolfgang Herrndorf gerecht werden, dem Cineasten Wolfgang Herrndorf mit einigen kleinen Einschränkungen aber durchaus.