Archiv

Fatima Daas: „Die jüngste Tochter“
Schreiben als Befreiungsschlag

Fatima Daas stammt aus einer algerischen Familie und ist in der Pariser Banlieue aufgewachsen. Sie ist gläubige Muslimin und lesbisch, ihren autobiografischen Debütroman hat sie unter Pseudonym veröffentlicht, er wurde zum Überraschungserfolg in Frankreich.

Von Nora Karches |
Fatima Daas: "Die jüngste Tochter" Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover.
Fatima Daas schrieb ihren Debütroman über das Leben in der Banlieue. (Cover: Ullstein Buchverlage / Foto: Joel Saget)
Fatima Daas ist mit ihrem Roman "Die jüngste Tochter" in der Radio-Sendung von Léa Salamé auf France Inter, beste Sendezeit. Da nimmt das Gespräch eine unerwartete Wendung und es wird klar, worum es wirklich geht in diesem Roman: Es geht um einen in der Literatur radikal neuen Identitätskonfikt.
"Die Protagonistin hält sich wirklich für eine Sünderin?" – "Ja", sagt Fatima Daas. "Und Sie selbst?", fragt die Moderatorin. "Ich habe keine Lust, den Islam zu reformieren, wer bin ich um zu bestimmen, dass es keine Sünde ist. Also ist Homosexualität auch für mich Sünde." Diese Weigerung, sich als lesbische Frau vom Islam abzuwenden, ist der Glutkern dieses autofiktionalen Romans. Doch der Reihe nach. Wer ist Fatima Daas?

Die erste Liebe – gelebt im Roman

Fatima Daas ist das Pseudonym der 25-jährigen Autorin und der Name Ihrer Protagonistin. Sie wird in Clichy-sous-Bois groß, der Stadt in der Pariser Banlieue, die für viele in Frankreich seit 2005 ein Synonym für brennende Autos ist. In ihrer algerischen Familie ist sie die Einzige, die in Frankreich geboren ist.
"Wenn ich Algerisch spreche, versteht man mich manchmal schlecht oder überhaupt nicht, also wird meine Mutter gefragt: Was hat sie gesagt? […] Ich will nicht, dass meine Mutter als Vermittlerin zwischen meiner Familie und mir steht. Ich will nicht, dass sie mich ihnen übersetzt. Ich will keine Fremde sein."
Dass sie lesbisch ist, weiß Fatima schon lange. Sie trägt Air-Max-Turnschuhe zu Jogginghose, Kapuzenpulli und gegeelten Haaren, ist verhaltensauffällig in der Schule und auch sonst ziemlich weit entfernt vom Stereotyp der gläubigen Muslimin. Doch seit Fatima den Ramadan befolgt, versteht sie, wie sich Zugehörigkeit anfühlt. Mit 25 verliebt sie sich zum ersten Mal. In Nina.
"Ich sitze rechts von ihr. Unter einem Baum, umgeben von herabhängenden Zweigen. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne brennt. […] Der Wind fährt uns durch Mark und Bein. Sie sagt: ‚Das tut gut‘, und lächelt. Ich schaue sie an. ‚Das tut gut‘, wiederhole ich einfältig."

Gender, Herkunft und orale Erzähltradition

Fatima weiß, dass nichts daraus werden wird, gerade deshalb bindet sie sich an die unnahbare, deutlich ältere Nina. In "Die jüngste Tochter" steckt ein Bildungsroman, wenn auch ein wilder. Denn Nina wird ihr zur Muse. Das Schreiben wird für Fatima, die nicht spricht über ihren Konflikt, zum Ausweg aus der Sprachlosigkeit: In der Literatur lässt sich ihr unmöglicher Lebensentwurf aufrechterhalten. Am Ende steht der Roman, den wir in den Händen halten. Er beginnt so:
"Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den man nicht ‚beschmutzen‘ darf, wie man bei uns sagt."
Fatima Daas verhandelt Gender, Herkunft und orale Erzähltraditionen. Sie positioniert sich dort, wo im 21. Jahrhundert das erzählerische Experiment am radikalsten vorangetrieben wird. Auch die Form ist neu. Fatima Daas schreibt antilinear. In Text-Fragmenten erscheinen wie in den Scherben eines zerbrochenen Spiegels immer neue Facetten ihrer Identität.
Debatte über Islamophobie in Frankreich Der deutsche Hochschullehrer Klaus Kinzler steht in Frankreich unter Polizeischutz. Auslöser war eine Debatte über Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie. Die Diskussion müsse wieder freier werden und "Denkverbote" müssten fallen, sagte Kinzler im Dlf.

Im Aufbau orientiert sich "Die jüngste Tochter" am Koran. Wie in den Koran-Suren steht eine Eingangsformel am Beginn der Text-Abschnitte. Nicht "Im Name Allahs", sondern "Ich heiße Fatima." Die Sätze sind knapp, nähern sich dem an, was Fatima hört, wenn sie in der Metro sitzt: Rezitationen des Koran und den Rap Lil Waynes. Ihre Sätze sind das Echo seiner Punchlines. Beim Lesen streicht man sie rot an:
"Ich kenne niemanden. Aber sie erkennen mich wieder." "Ich schreibe Geschichten, um meine eigene nicht zu leben."

Beeindruckendes literarisches Debüt

Keine französische Autorin ihrer Generation arbeitet so formbewusst, und kaum eine schreibt so zärtlich-raue Liebesszenen. Ein paar Gesten, Blicke, Sätze, und die Luft schwirrt.
"'Soll ich dich in den Arm nehmen, Nina?‘ Sie antwortet nicht, aber sie schmiegt sich an mich. Ich lege die Arme um sie, lege eine Hand auf ihre Hüfte. Meine Hand gleitet vorsichtig nach oben. Ich will ihre Zerbrechlichkeit spüren, sie ist greifbar. Sie sitzt an ihrem Rücken, an ihrer Wirbelsäule."
"Die jüngste Tochter" lebt von sprachlicher Authentizität. Den Sound der Banlieue im Deutschen nachzubilden gelingt Sina de Malafosse nicht immer. Trotzdem ist "Die jüngste Tochter" auch auf Deutsch ein phänomenales, nie dagewesenes Buch. Die französische Literaturkritik feierte Fatima Daas, da sie klingt wie Annie Ernaux und Marguerite Duras. Die junge Generation feierte sie, da sie der Tradition autofiktionalen Schreibens ein System-Update verpasst, den Blick auf migrantische Lebenswelten öffnet. Man möchte dieses Buch hochhalten, wenn es demnächst wieder heißt, Literatur über Herkunft sei zu viel soziologischer Kommentar, zu viel intellektuelle Überlegenheit. Man möchte rufen: "Lest dieses Buch!" "Die jüngste Tochter" ist zugleich brennend und kühl, komplex und einfach. Ein beeindruckendes literarisches Debüt mit einer Heldin, die es so in der Literatur noch nie gab.
Fatima Daas: "Die jüngste Tochter", Claassen Verlag Berlin, Übersetzung: Sina de Malafosse, 192 Seiten, 20 Euro.