André Rauch:Wenn Sie mir heute sagen, du bist faul, Sie sind faul, dann sage ich mir, er behandelt mich als Faulpelz, weil ich nicht tue, was er von mir will. Jemand der faul ist, nimmt sich seine Freiheit. Faulheit ist der höchste Grad der Freiheit: Ich tue nicht, was du von mir willst, ich tue, was ich für mich entscheide! Ah, du willst mich als deinen Knecht, als Sklaven, als Bediensteten! Will mich jemand manipulieren, wenn er mich als faul bezeichnet? Welchen Vorteil, welchen Nutzen will er aus seiner Beleidigung ziehen? Ich versetze mich in seinen Kopf und denke, er will, dass ich für ihn irgendetwas möglichst billig erledige oder in seinem Interesse ein Risiko eingehe. Aber nein, das wird nichts, ich bin nicht von dir abhängig.
Michael Magercord: André Rauch ist ein freier Mensch und er lebt im modernen Schlaraffenland. Denn der 73-jährige Professor aus Straßburg ist emeritiert, also von seinen universitären Diensten entpflichtet. Er ist Rentner, bezieht seine Pension; und eine leistungslose Transferzahlung am Ende des Arbeitslebens zugesprochen zu bekommen, sei die gesellschaftliche Erfüllung des alten Menschheitstraumes, ungestraft faul sein zu dürfen.
Doch ebenso wenig, wie André Rauch sich nun in einem absoluten Ruhestand befinden würde, hätte er Faulheit schon immer als Ausdruck seiner Freiheit und Selbstbehauptung auffassen können. Im Gegenteil:
Rauch: Ich versetze mich zurück: Als Gymnasiast war ich ein Faulpelz. Ich war faul als Rebell. Das würde mir zuerst einfallen, wenn mich jemand als faul bezeichnen würde. Doch dann würde ich mich fragen, was er eigentlich von mir will? Was soll ich für ihn tun? Und war es nicht schon früher so: Wollte man sich nicht bloß über mich mokieren, um meine Eltern schlecht zu machen? Ja, er ist paranoid, ein Schweinehund, und seine Großeltern waren auch schon so! Nur im ersten Moment würde ich es noch als Beleidigung auffassen, denn da kehrt nun einmal diese Erinnerung aus der Kindheit zurück.
Kulturhistorie der Faulheit
Magercord: Faulheit? Nimmt die jemand ernst? André Rauch hat ihr endlich eine Geschichte gegeben und die erste Kulturhistorie dieser doch so zutiefst menschlichen Neigung geschrieben. Und am Anfang war die Faulheit, im Paradies - oder etwa nicht? Sportlehrer war André Rauch und wurde Professor der Philosophie an der Akademie der Sportpädagogik in Straßburg. Er forschte über das Freizeitverhalten und die Männlichkeit, schrieb über die Kultur der Gefräßigkeit, hielt Seminare ab über "Den Dicken und den Fetten". Und sein Buch über die Faulheit trägt den Untertitel: 'Die Geschichte einer Todsünde'.
Rauch:Und jetzt wollen Sie sicher wissen, warum ich nun ausgerechnet mit der Todsünde beginne? Ich denke, dass unsere Gesellschaften, was immer wir davon halten, immer mit jener Religion untrennbar verbunden bleiben, die uns vorausgegangen war oder weiterhin in der Gesellschaft präsent ist. Und für uns in Europa ist es ohne Zweifel die christliche Religion, ob katholisch oder evangelisch, die uns die Struktur unserer Vorstellungen vom Leben vorgibt: Was ist ein gutes Leben? Was fange ich mit meinem Leben an? Hat es einen Sinn? Und es wird unweigerlich der Moment kommen, an dem wir darüber Rechenschaft abzulegen haben: Wenn Sie und ich ins Jenseits gerufen werden, wandern Sie vielleicht in die Hölle und ich ins Paradies oder wir beide gehen ins Paradies, auf jeden Fall aber werden wir zuvor - so die theoretische Annahme - gefragt werden: Was hast du mit deinem Leben angefangen? Und aus dieser Annahme heraus wird die Frage nach der Faulheit, also die Frage der Nutzung der Lebenszeit, zur Kernfrage des Lebens schlechthin.
Magercord: Faulheit steht vielleicht nicht am Anfang der Menschheit, aber sie ist die Kernfrage des Daseins - kein schlechter Beginn für das Vorhaben, die Faulheit der Lächerlichkeit zu entziehen, denn ich muss zugeben: Faulheit ist mein Lieblingsthema; und - wie vielleicht viele andere auch - sehe ich mich darin durchaus als Experte, und mehr noch: als Visionär. Faulheit wird uns nämlich retten. Uns, den modernen Menschen, wird sie zu einer nachhaltigen Lebensweise verhelfen, weg vom Produktionsdrang und Optimierungswahn, hin zu Freiheit und Selbstbehauptung - Faulheit rettet die Moderne!
Rauch: Faulheit ist zweideutig. Auf Deutsch sagen Sie: "Schwermut". Wenn Sie an Gott glauben, hält Sie die Faulheit davon ab, zu beten oder Gott zu loben. Wenn Sie hingegen zu jenen gehören, die der Arbeit großen Wert beimessen, hindert Sie die Faulheit daran, morgens aufzustehen und zu arbeiten. Zu einem Teil ist die Faulheit also ein tiefes Leiden. Sie ist ein Anschlag auf die Person, der zieht eine Zerstörung der Persönlichkeit nach sich. Ein Fauler ist kraftlos, er kommt nicht aus dem Bett und leidet, wenn er nur aufrecht stehen soll.
Und dann aber gibt es auf der anderen Seite den Faulen, den es erfreut, nichts zu tun. Der gar davon träumt, nichts zu tun zu haben.
Während des gesamten 19. Jahrhunderts galt es als Glück, "Privatier" zu sein, also über Einkünfte zu verfügen, die es erlaubten, gut zu leben, ohne etwas zu tun. Das steht ganz in der aristokratischen Tradition des 18. Jahrhunderts in unseren europäischen Ländern. Der Aristokrat, der Edle, war jemand, der nichts tat, der also total frei war. Faulheit ist demnach die Freiheit, ein Privileg zu genießen, Besitz zu haben, ohne dafür etwas tun zu müssen.
Aus diesen beiden Sichtweisen ergeben sich zwei, drei Klischees, die mich interessieren: Wenn man nun nämlich sagt, jemand ist "faul", dann ist er immer auch ein Nichtsnutz, ein Parasit, der nur lebt, weil andere für ihn arbeiten. Jemand, von dem nichts zu erwarten ist.
Aus dieser Ansicht ergibt sich ein zweites Klischee - vielleicht weniger ein Klischee, als vielmehr ein Ideal: Wenn alle Mitglieder der Gesellschaft eine bestimmte Anzahl von Stunden arbeiten würden, können wir Faulheit demokratisieren. Faulsein, also Freizeit haben, könnte über die ganze Gesellschaft etwas ausgeglichener verteilt werden. Wobei es nicht darum geht, dass diejenigen, die das Kapital haben, plötzlich arbeiten sollen, sondern darum, dass denjenigen, die arbeiten, Freizeit zugestanden wird. Aus diesem Ideal hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in unseren demokratischen Gesellschaften der gewerkschaftliche und politische Anspruch abgeleitet, nach dem nicht nur eine Erhöhung der Löhne die Menschen glücklich macht, sondern ebenso ein Mehr an Freiheit.
So gesehen erschien die Faulheit nun wie die Erfüllung des Schlaraffenlandes. Sie ist die große Träumerei, die wir seither pflegen, und sie erfüllt sich nicht nur ein oder zweimal im Jahr im Urlaub, sondern besonders am Ende des Lebens mit dem Erhalt einer Rente, die es uns ermöglicht, nichts mehr tun zu müssen und diese freie Zeit zu genießen.
Heute leidet der Arbeitslose darunter, dass er nichts tut
Magercord: So einfach lässt sich dem Zwiespalt der Faulheit und den Konflikten, die er auslöst, nicht entkommen – und das weiß keiner besser als der Historiker. Denn vor der Erfindung der Freizeit und vor dem gesellschaftlichen Zugeständnis einer Rente wurde noch etwas Anderes erfunden: die Tugend der Arbeit. Diese Aufwertung des ohnedies Notwendigen schuf die Konfliktparteien der Moderne, die von nun an um die Freiheit und Selbstbehauptung ringen sollten. Und in die Welt gesetzt haben sie ausgerechnet jene, die sich als Konfliktlöser in der Frage um eine gute Lebensführung besonders eifrig hervortaten.
Rauch:Der Konflikt tauchte mit der Reformation, mit den Werken Luthers, Erasmus' und anderer Reformatoren auf. Welcher Natur ist dieser Konflikt? Bis ins 15. und 16. Jahrhundert galt als guter Christ, wer sein Leben wie ein Mönch mit Beten ausfüllt und unentwegt an Gott denkt. Dann kam Luther und sagte: Schaut euch diese Mönche an, sie tun gar nichts, sie leben als Parasiten in der Gesellschaft, bei uns aber verdienst du dir das Paradies nur noch durch Arbeit. Luther besteht somit auf der Vorstellung, dass der Mensch bereits im Paradies gearbeitet hat, also noch bevor er die Ursünde begangen hatte. Und das ist sehr wichtig: Nach diesen Worten von Luther und anderen Reformatoren macht Arbeit einerseits nicht mehr per se unglücklich. Und andererseits sorgt sie auf alle Fälle dafür, dass wir ins Paradies kommen und nach der Arbeit das Glück winkt.
Das bedeutet, dass von da an die Faulheit nicht mehr eine Frage von Vernachlässigung und Gleichgültigkeit war, sondern nun ist sie Nichtstun oder Untätigkeit. Ein Nichtstuer ist jemand, dessen Faulheit zur Arbeit in Opposition steht, Punkt. Plötzlich wurde aus dem Nichtstuer bloß noch ein Parasit, und besonders seit dem 18. Jahrhundert ist er ein Dieb. Er stiehlt die Arbeit der anderen, sein Nichtstun ist ein Mangel an Bürgersinn, und in einer bürgerlichen Gesellschaft habe ich Pflichten, und eine davon ist es zu arbeiten. In diesem Sinne ist der Faule jemand, dem es an Bürgersinn mangelt. Das war ein harter und folgenreicher Schlag. Danach haben sich die europäischen Länder aufgemacht zum Kolonisieren, das setzte sich in den totalitären Regimen fort bis hin zu "Arbeit macht frei" - wir haben diesen Horror erfahren.
Als also plötzlich die Faulheit gleich gesetzt wurde mit Nichtstun und Untätigkeit, wurde die Auseinandersetzung um das Nichtstun zum Kern unserer Probleme.
Magercord: Die Geschichte der Faulheit, schreibt André Rauch, ist die Geschichte der Moral, und jeder Konflikt um die Faulheit ist eine Auseinandersetzung mit der gerade herrschenden Moral. Und "Arbeitsmoral" - klingt das nicht schon nach Kampfansage? Das Schlachtfeld hatte die Industrialisierung bereitet, man mag es "Gesellschaft" nennen oder "Politik", und darauf sollte es 1880 - endlich - erfochten werden, proklamiert von Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx: "Das Recht auf Faulheit."
Rauch: Im 19. Jahrhundert haben sich im Zuge der marxistischen und anarchistischen Theorien politische Parteien, die wir heute als links bezeichnen, sowie die Gewerkschaften entwickelt, und die Idee eines "Rechts auf Faulheit" wurde zu einer politischen Waffe, zu einem sehr starken Argument, auch weil man sah, dass die Arbeit die Ungleichheiten noch verstärkte: Einmal gab es da jene, die die anderen zum Arbeiten brachten und selbst nichts taten. Das ist bereits eine gravierende Ungleichheit, und weil diese Arbeit auch noch weniger einträglich war als das Kapital, wurden die Verhältnisse noch ungleicher, je mehr gearbeitet wurde. Faulheit wurde also zu einer politischen Losung. Wenn wir es von heute aus betrachten, wurde damit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nun Arbeit und Nichtstun vor allem in zeitlicher Weise voneinander abgegrenzt. Es gibt eine klare Zeit, in der wir arbeiten und eine Zeit, in der man sich ausruht oder Freizeit gestaltet. In diesem Sinne ist Faulheit heute zu einer bestimmten Zeit legitim geworden, sie ist sogar Teil der Gesetzgebung.
Im 20. Jahrhundert schließlich kam die Idee der Freizeit auf: Es gibt die Arbeit, aber es gibt noch anderes im Leben. Zwischen den Weltkriegen dominierte - in Deutschland repräsentiert durch die Jugendherberge, in Frankreich als Ferienkolonie - der kollektive Tourismus. Das Individuum ist frei innerhalb einer Gesellschaft, die sich um seine Freiheit kümmert, sodass er gewisse Dinge nicht tut, sondern nur gute, die als wertvoll betrachtet werden. Am Ende des 20. Jahrhunderts aber wird diese Idee der Freiheit mit anderen zu einer beklemmenden Vorstellung. Nur wenn ich nichts tue, faul bin, dann verbleibe ich in meinem Rhythmus und tue, was ich will. Das Zusammensein mit anderen wird eher als Beengung empfunden. Die Frage, die sich nun stellt, ist, welche Art der Freizeit dieser Vorstellung entspricht? Und vielleicht ist das Abenteuer, mit dem man sich aus der Familie entziehen kann, das Nonplusultra dieser Vorstellung von Faulheit: Jemand setzt sich ins Flugzeug, fliegt irgendwohin, er ergreift eine persönliche Initiative und wird der Manager seiner Zeit - ein Held, unser Modell der Faulheit. Wenn er zurückkommt, hat er viele digitale Fotos geschossen und nervt alle mit seinen Stories, aber er wird ein Held gewesen sein.
Heute, wo wir brandaktuell mit der Arbeit wieder große Probleme haben - wo die Arbeitslosigkeit als das große Malheur gesehen wird, als die soziale Krankheit schlechthin, da leidet der Arbeitslose nun wieder darunter, dass er nichts tut. Ihm fehlt etwas, das in seinem Leben für eine Balance sorgen würde.Das Nichtstun - ich spreche nicht von Faulheit - kann nicht mehr von Arbeit ausbalanciert werden. Das heißt, wenn du wirklich nichts zu tun hast, ist es völlig uninteressant, faul zu sein. Was also interessant ist hinsichtlich der Faulheit, dass wir sie nur noch wahrnehmen können als den Gegenpart zur Arbeitszeit. Dann ergeben sich plötzlich ganz neue Fragen: Wenn ich nun gearbeitet habe, sind dann die Momente des Nichtstuns die Krönung des Lebens? Oder wie wir auf Französisch sagen: Die Kirsche auf dem Kuchen? Und wenn dieses Nichtstun kein Leiden mehr darstellt, wenn die Faulheit kein Leiden mehr sein muss, wenn sie gar als Moment des Glücks gilt, ist es dann überhaupt leicht, nichts zu tun?
Macht eine Gesellschaft Sinn, in der jeder seine eigene Faulheit leben kann?
Magercord: Das war sie, die Historie der Faulheit: Vom Faulsein im Paradies und im Schlaraffenland über den Weltschmerz und die Weltabgewandtheit zur Freizeit und Arbeitslosigkeit; und auf die letzte aller Fragen, die uns diese Geschichte stellt, hat André Rauch, der auch Freizeitforscher ist, eine klare Antwort:
Rauch: Jemand, der eine Arbeit gewählt hat, die seinem Leben einen Sinn gibt - was ja vorkommen soll - dem wird das Nichtstun richtiggehend schwerfallen. In der Schule schon bringen wir den Kindern bei, sich in der Freizeit zu beschäftigen. Die Schule vermittelt, dass Nichtstun nicht gut ist, moralisch nicht, psychologisch nicht, und nicht gut für die Bildung. Wer sich also dem Nichtstun hingibt, ist nicht bei sich selbst. Für jemanden, der Ferien macht, der ein Recht auf Urlaub hat, den man dann fragt: "Was hast du in den Ferien gemacht?" und der dann antwortet: "Ich habe nichts gemacht" ist das eine Katastrophe. Er unternimmt nichts? Neben seiner Arbeit macht er nichts? Schritt für Schritt hat sich die Idee der Freizeit von der des Ausruhens freigemacht, und wurde eingenommen von der Idee, dass die Freizeit eine Zeit voller Beschäftigung ist, worin Faulheit keinen Platz mehr hat.
Magercord: An Freizeit ist nichts faul. Da haben wir sie nun, die freie Zeit, und machen doch nicht nichts. Warum? Weil es sich bei Freizeit gar nicht um freie Zeit handelt. Arbeit und Freizeit sind nur zwei Seiten einer Medaille. Das Recht auf Freizeit hat es auch nicht geschafft, die Zweideutigkeit der Faulheit aufzulösen. Wer nun weiter kommen will auf dem Weg zu einer nachhaltigen Moderne - mit und mithilfe der Faulheit - muss nach vorne schauen, muss Faulheit in die Zukunft überführen, muss Faulsein als Vision für eine zukünftige Welt entwerfen. Und wer Visionen hat, konsultiert besser erst einmal einen - Historiker:
Wir leben heute in einer Welt der Überproduktion, eines Wachstums, das langfristig große Schäden anrichtet, ökologische, soziale - bedürfen wir in unseren Gesellschaften nicht der Anerkennung der Faulheit? Die Nicht-Produktivität also als mögliche, ja ehrenwerte Daseinsform, um schließlich eine Lebensweise zu finden, die dauerhaft tragbarer ist für den Menschen und seinen Planeten?
Rauch:Als Utopist, der Sie sind, haben Sie natürlich völlig Recht. Selbstverständlich. Aber die Probleme liegen ja nicht so einfach. Zum Teil geht es um die Organisation der Gesellschaft.Die Regierungen Europas wollen die Arbeitszeiten derzeit nicht reduzieren. Das wäre also zuallererst eine politische und organisatorische Frage. Ein anderer Aspekt ist die Frage nach der Reduzierung der Produktion, was ja eben eine Reduktion der Arbeitszeit bedeuten würde. Da scheint es einfacher, die Zeit der Nichtarbeit zu organisieren. Der Tourismus hat ja schon gewaltig zugenommen, und was Europa bestens produziert, sind Touristen. Aber ist das wirklich eine Art von Gesellschaft, die sich durchsetzen kann? Das kann ich nicht beantworten.
Aber hinter Ihrer Frage verbirgt sich ja eine grundlegende Idee, nämlich dass erstens die Faulheit nichts mehr ist, was zu verurteilen wäre; zweitens, dass Faulheit nicht nur Nichtstun bedeutet; und drittens, dass das Nichtstun die Tätigkeit ist, mit der wir uns selbst produzieren.
Anders ausgedrückt, das Individuum, das Individuum Sie, das Individuum Ich, wir alle unterliegen der Bürde, uns selbst kultivieren zu müssen. Das ist keine der alten Vorstellungen von der Faulheit mehr, sondern es geht dabei um die Entfaltung der Persönlichkeit. Aber es ist auch ein vertiefter Individualismus: Ich denke dabei an mich, meine Bekümmerung beginnt bei mir selbst - doch wäre das dann eine Gesellschaft, die nicht mehr die Struktur eines gemeinschaftlichen Korpus hat. Das ist ein Risiko, und es stellt sich die Frage, ob eine Gesellschaft Sinn macht, in der jeder - für sich - seine eigene Faulheit leben kann? Wie findet das gesellschaftliche Ich im Individualismus der westlichen Gesellschaften seinen Ausdruck?
Magercord: Beklagen - immerhin - wird sich ein Individuum aber wohl noch dürfen, zum Beispiel über die von so vielen tief empfundene Beschleunigung der Gesellschaft durch die Innovationsschübe der Technik und die gestiegenen Ansprüche durch ihre Anwendung. Soll denn der Einzelne diese Ansprüche einfach nur einzulösen haben, soll er sich ihnen klaglos beugen?
Nein, denn es ist doch vielleicht gerade dieser Einzelne, das Individuum, der moderne Mensch, der bewusst faul sein kann, der die Kraft hat zu sagen: Ja, es wäre jetzt besser, wenn ich in diesem Moment, in diesem Zustand der Gesellschaft und der Welt, nicht aktiv werde, sondern faul bleibe. Dieses moderne Individuum ist doch der einzige Träger von Entscheidungen, der über die Mittel und den Spielraum verfügt zu einer bewussten Wahl für eine menschlichere Lebensweise.
Rauch: Diese Frage ist einerseits sehr aktuell, aber genauso durchzieht sie die Geschichte der Faulheit. Als die Portugiesen, Spanier, Italiener und Franzosen Amerika entdeckten, sagten sie: Der Mensch im Naturzustand ist der wilde Mensch. Sie sagten: Können wir nun endlich erfahren, wie die wahre Natur des Menschen ist? Wie lebt der Mensch im Naturzustand?
Was haben die Entdecker tatsächlich gesehen? Sie erkannten ein Spiegelbild ihrer europäischen Gesellschaft der Aristokraten mit ihren Dienern und Bediensteten. Es entstanden viele Abhandlungen über die menschliche Natur, und darüber, wie die Gesellschaft des 'Ancien Régime', die aristokratische Gesellschaft, die Regime der europäischen Königreiche, sie in Ketten gelegt hat.
Der Übergang zur Demokratie am Ende des 18. Jahrhunderts und des beginnenden 19. Jahrhunderts hat die Sicht auf die Natur komplett verändert - insbesondere hinsichtlich der Freiheit. Und die Frage, die Sie mir gestellt haben, betrifft diese Freiheit. Welcher Art ist die Vorstellung der Freiheit, wenn wir nun von einem expliziten Recht auf Faulheit sprechen?
Die Freiheit, die wir heute meinen, ist in erster Linie die Unabhängigkeit, ein Nicht-Abhängigsein. Was Sie, was wir Faulheit nennen, ist das Recht, über sich selbst zu verfügen. Das ist das A und O von Freiheit im 21. Jahrhundert. Damit ergibt sich die zweite Vorstellung: Ich bin frei, aber: Nun nichts zu tun, bringt mir nichts als Ausdruck meiner Freiheit - Freiheit bedeutet jetzt nicht nur, nicht mehr gehorchen zu müssen - es bedeutet auch die Freiheit, sich ein Ziel zu setzen.
Wenn wir nun aber den Begriff der Faulheit weiter benutzen wollen, dann bedeutet Faulheit nicht mehr das Fehlen von Arbeit - es geht jetzt um die Entbehrung von Arbeit. Und besonders das Fehlen eigener Ambitionen und Projektionen für die Zukunft. Das ist auch eine Frage des Individualismus, denn Individualismus bedeutet manchmal im Leben auch quälende Obsessionen.
Und dann wird Faulheit zu dem Zustand, in dem keine Projektion für die Zukunft da ist, also es eine Unfähigkeit gibt, eine Vorstellung für die Zukunft zu entwickeln.
Und nun beschleunigt sich unsere Geschichte, die Gesellschaft bewegt sich immer schneller und schneller. Diese Beschleunigung der Geschichte rührt her von der Beschleunigung der Zyklen von Produktion und Konsum.
Sie vermittelt uns eine Art Schwindelgefühl, aus dem wir nicht herauskommen können. Aber in derselben Zeit führt die Beschleunigung zu Momenten des Innehaltens. Man atmet durch, stellt sich an den Straßenrand und sagt: Jetzt lasst mich aber auch mal ein wenig leben!
Und das ist unsere Faulheit heutzutage, sie zeigt sich in diesen Momenten, an denen wir im Angesicht der Beschleunigung der Geschichte einen Ort suchen, wo wir nicht verfolgt werden von der Notwendigkeit, dieses oder jenes zu erwerben, oder etwa den Airbus immer noch etwas schneller produzierenzu müssen als eine Boeing und so weiter.
Diese Betrachtungsweise ist aber nicht die einzig mögliche. Es gibt auch die andere große Vision, wonach man - sobald man keine Zukunftsprojektionen mehr hegt - keine Wünsche mehr hat. Unsere Faulheit mag uns dann genau dorthin bringen: ein Mensch zu sein, der keine Wünsche, kein Verlangen mehr hat. Jemand, der nicht nur sich keine Projektion für die Zukunft machen kann, sondern der sich sogar keine Zukunft wünscht. Und dann verspüren wir plötzlich vor dem Verlust des Verlangens eine große Angst, die zunächst einmal nur Psychiater und Psychologen reicher macht.
Müssen jedem Menschen das Recht zubilligen, er selbst zu sein
Magercord: Zu faul zum Hoffen? Der Historiker rät in diesem Fall zur Inanspruchnahme der Dienste von Praktiken der Gegenwartsbewältigung, der Visionär hingegen sieht in der Hoffnungslosigkeit eine Strategie: Der Zwiespalt der Faulheit lässt sich zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur Zukunftsbewirtschaftung nutzbar machen.
Und was sagt der Historiker, wenn Faulheit zu der Utopie werden soll, die Hoffnung, immer wieder etwas noch Besseres zu finden, nicht mehr nötig zu haben? Das wäre doch nicht notgedrungen etwas Negatives für den Menschen, sondern auch eine große Befreiung. Vielleicht ist Leben ohne Hoffnung doch möglich...
Rauch: Was Sie da erzählen, ist für mich bloß rein theoretisch möglich. Wenn Sie einen Sohn, eine Tochter, Bruder oder Schwester haben, jemand, der Ihnen nahe steht, der plötzlich beginnt, so zu denken, dann werden Eltern oder Geschwister sagen: Was nimmt der zu sich? Welche Grille hat denn den befallen? Welcher Dämon ist über ihn gekommen? Sein nächster Schritt werden sicher Drogen sein, und dann geht er endgültig hinüber in sein künstliches Paradies der Laschheit.
Natürlich, es gab und gibt Gesellschaften, die ohne Zukunftsprojektionen auskommen, Gesellschaften, die nicht in der Historie leben. Dies war ja auch eine der großen Utopien des 19. Jahrhunderts. Den Orient dachte man sich als einen Ort, wo die Zeit stehen geblieben ist: Nichts ändert sich und genau deshalb kann man sich total den wollüstigen Freuden hingeben. Keine Geschichte, keine Vergangenheit, keine Zukunft - es gab solche Gesellschaften auch bei uns, natürlich nicht mehr heutzutage, aber im Mittelalter schätzte man an der Ewigkeit, dass sich gerade nichts mehr bewegt oder ändert. Im Gegensatz dazu leben wir heute in einer geschichtlichen Gesellschaft, wo es ein Vorher und ein Nachher gibt... Die Faulheit ist ja auch deshalb so interessant, weil sie uns unser Hin- und Hergerissensein zeigt. Sie spiegelt, wie jede Epoche, jede Zeit, jede Gesellschaft oder auch jede Nation sich selbst sieht, sie zeigt uns unsere Phantasmen. Und auch, was uns und unsere stetig fortschreitenden Gesellschaften wirklich antreibt. Denn wenn es ein Gegenstück zum Fortschritt gibt, dann ist es die Faulheit.
Magercord: Und an der Faulheit zeigt sich eben auch, wie der Visionär sich selbst sieht. Faulheit - Todsünde oder Tugend? Meine Faulheit ist der gelebte Pazifismus gegen mich selbst, denn wer steht dem Bedürfnis nach dem Faulsein besonders effektiv im Wege? Man selbst.
Könnte man nicht den ganzen Katalog der Menschenrechte zusammenfassen auf zwei ganz einfache Aussagen: Jeder Mensch hat das Recht, unproduktiv und nutzlos zu sein.
Rauch: Wir müssen nicht einmal mehr sagen "unproduktiv und nutzlos", sondern jedem Menschen einfach das Recht zubilligen, er selbst zu sein - aber immer eingedenk der Illusion oder Annahme, es gäbe überhaupt ein "Selbst".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(Whlg. v. 4.10.2015)