Paradoxerweise ist es eine zunächst partikular erscheinende Ausgangsfrage, die Édouard Glissant, der den amerikanischen Süden aus langjähriger Anschauung kennt, den Anstoß zu seiner Untersuchung gab: was können amerikanische Schwarze mit Faulkners Büchern anfangen, in denen die Schwarzen eher Dingen gleichen als Menschen? Erst wenn sich Faulkners Werk der kritischen Überprüfung durch die Schwarzen Amerikas stellt, wird es sich ganz erfüllen, meint Glissant; doch solche Überprüfung muß sich seiner Ansicht nach davor hüten, das Werk auf das zu reduzieren, was Faulkner als konservativer Südstaatler expressis verbis über die Schwarzen und über amerikanische Rassenprobleme geäußert hat.
Es geht um Faulkners Erzählen selbst und um das, was es als Beziehung zur Welt, zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausdrückt. Glissant entdeckt in der Struktur dieser Prosa ein verschlungenes Ineinander gegenläufiger Bewegungen: auf der einen Seite wendet sich das Erzählen ganz der Vergangenheit zu, deren heroisch verlorene Bürgerkriegsschlachten es beschwört; auf der anderen Seite aber kann es nicht verschweigen, daß etwas faul geworden ist im Süden der Gegenwart, ohne dies aber aber direkt zur Sprache bringen zu können. Nicht eine spezielle Form des inneren Monologs oder die Montage verteilter Stimmen wie in "Als ich im Sterben lag" ist für den Schriftsteller Glissant Faulkners große Erfindung, sondern eine auch in den konventioneller erscheinenden Romanen gebrauchte Erzählsprache, die "beschreibt und gleichzeitig das zu sagen versucht, was in der Beschreibung verschwiegen wird". Wie Faulkners Sprache diese Gleichzeitigkeit im einzelnen herstellt, das untersucht "Faulkner Mississippi" eingehend, doch ohne einschüchternden interpretatorischen Apparat an zahlreichen Textbeispielen der frühen wie der späteren Romane. In Faulkners Schreiben kommt mehr desillusionierte Intelligenz zum Vorschein, als Faulkners manifeste, trotzige Parteinahmen für die Beschränktheiten, Vorurteile und Tabus des Südens vermuten lassen.
So ist die Rolle, die die Schwarzen des Südens in Faulkners wie von einem Fluch verhexten "County" einnehmen, für Glissant auch komplexer, als es an der ihnen zugewiesenen untergeordneten gesellschaftlichen Stellung abzulesen ist. Im Gegensatz zu den von Resignation befallenen Nachkommen der weißen Gründergeneration des Südens "harren sie aus", wie es in "Schall und Wahn" heißt. Ürlebende einer atavistischen Kultur, sind die Schwarzen jedoch nicht wie die Weißen dazu verdammt, an der Vergänglichkeit dieser Kultur tragisch zu scheitern.
In Glissants Lesart sperrt sich Faulkners Werk insgesamt nicht gegen die Einsicht, daß eine auf Sklaverei und Unterdrückung gegründete Welt nicht dauerhaft bestehen kann. Darauf deutet der radikale Bruch hin, den Faulkner mit der epischen Tradition vollzogen hat, und zwar dadurch, daß er an die Stelle der archaischen Verfehlung, die im klassischen Epos das Leben der Gemeinschaft mit einem Fluch belegt, greifbares, modernes Unrecht setzt, Versklavung und Ausbeutung.
"Faulkner Mississippi" ist ein umsichtiges, mitreißendes, Gegenstimmen diskutierendes, doch entschiedenes Plädoyer für die universelle Aktualität des Faulknerschen Werks. Es ist zugleich ein diskreter Einspruch gegen die literaturhistorische Musealisierung Faulkners, die sich mit dem Abfeiern des hundersten Geburtstag zu vollenden droht. Während seit kurzem das inhaltsleere Schlagwort "postkoloniale Literatur" die Runde durch akademische Kolloquien und Zeitschriften macht, gibt Édouard Glissants Faulkner-Buch zu verstehen, daß die Schriftsteller der ehemaligen Kolonien ihr letztes Wort und auch das letzte Wort zur Literatur der Metropolen noch nicht gesprochen haben.