Archiv

FDP-Politiker Toncar
Brexit ohne Deal "schlechte Lösung, aber zu bewältigen"

Für FDP-Politiker Florian Toncar ist nach der Abstimmung im britischen Unterhaus einer harter Brexit wahrscheinlicher geworden. "Ich glaube, dass das teuer wird, dass das auch für unsere Wirtschaft auf dem Kontinent schwierig wird", sagte Toncar im Dlf. Notfallpläne müssten nun schnell aktiviert werden.

Florian Toncar im Gespräch mit Mario Dobovisek |
Toncar spricht im Bundestag
Florian Toncar (FDP), Mitglied der deutsch-britischen Parlamentariergruppe (dpa /Michael Kappeler)
Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Florian Toncar, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP im Bundestag und dort auch stellvertretender Vorsitzender der deutsch-britischen Parlamentariergruppe. Guten Abend, Herr Toncar!
Florian Toncar: Ja, schönen guten Abend.
Dobovisek: Verstehen Sie Ihre britischen Abgeordnetenkollegen noch?
Toncar: Das britische Parlament ist tief gespalten. Im Kern weiß es nicht, was es will. Es gibt die klaren Brexitiers, die wollen einen No Deal. Es gibt Abgeordnete, die wollen den geordneten Austritt – einige davon unter den Bedingungen, die Theresa May mit der EU ausgehandelt hat, andere unter anderen Bedingungen, die aber faktisch nicht erreichbar sind. Und dann gibt es natürlich die Gruppe, die eigentlich ein weiteres Referendum erstreben will, und es gibt andere Abgeordnete, die noch stark aus innenpolitischen Erwägungen (Stichwort Neuwahlen oder Wechsel im Amt der Regierungschefin) agieren. Das ist hoch kompliziert. Das ist auch ein kollektives Versagen der politischen Elite in Großbritannien. Aber es ist so, dass im Unterhaus selbst die Interessenlage und die Ziele vollkommen auseinanderlaufen, und das Erstaunliche ist, dass auch unter dem großen Druck, der jetzt aufgebaut worden ist Richtung 29. März, sich das nicht geklärt und bereinigt hat, sondern dass es immer noch diesen Schwebezustand gibt. Ich bedauere das sehr, weil es, glaube ich, zum Schaden aller Beteiligten, am stärksten aber zum Schaden der Menschen ist.
"Insgesamt ein ganz schlechter Tag"
Dobovisek: Sie bedauern das, Herr Toncar.
Toncar: Ja!
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Weitere Beiträge zum Thema finden Sie auf unserem Brexit-Portal (AFP / Tolga Akmen)
Dobovisek: Wut war heute im EU-Parlament zu spüren, als die Debatte lief. Die eine oder andere geballte Faust nicht nur in den Taschen. Nach all den Verhandlungen – wie wütend sind Sie?
Toncar: Ich bin nicht wütend. Ich glaube, dass das insgesamt ein ganz schlechter Tag ist – am schlechtesten für die Menschen in Großbritannien. Aber wir müssen realistisch uns auf das einstellen, was kommt, und der No-Deal-Brexit, der ist ein gutes Stück wahrscheinlicher geworden. Alles andere würde einen Meinungsumschwung in London voraussetzen, entweder doch das bestehende Abkommen, so wie es auf dem Tisch liegt, doch noch zu ratifizieren - da sehe ich bisher überhaupt keine Tendenz -, oder möglicherweise ein Referendum zu wiederholen – auch das halte ich weiterhin eher für unwahrscheinlich. Bei realistischer Betrachtung – und das ist unsere Aufgabe als deutsche und als europäische Volksvertreter – müssen wir jetzt die Vorbereitungen treffen, dass es einen vertraglich nicht geregelten, einen ungeordneten Brexit gibt.
Dobovisek: Wie groß ist Ihre Angst vor einem harten Brexit ganz ohne Abkommen?
Toncar: Ich glaube, dass das teuer wird, dass das auch für unsere Wirtschaft auf dem Kontinent schwierig wird. Aber auf der anderen Seite sind ja Vorbereitungen getroffen worden. Es ist eine schlechte Lösung, aber ich halte sie für bewältigbar. Jedenfalls müssen jetzt die Notfallpläne spätestens aktiviert werden.
Bundesregierung hat sehr spät begonnen
Dobovisek: Glauben Sie, dass diese Notfallpläne ausreichen?
Toncar: Das weiß man immer erst hinterher. Auch die Bundesregierung hat sehr spät damit begonnen, sich wirklich mit dem schlechtesten Fall, den wir jetzt im Visier haben, ernsthaft auseinanderzusetzen. Aber noch einmal: Ich glaube, dass das am Ende zu schaffen ist, wenngleich es eine schlechte Entscheidung für alle Beteiligten ist. Es ist gleichwohl auch so, dass selbst im Falle eines No-Deal-Brexits möglicherweise mit einigen Monaten Verzögerung auch noch ein Austrittsabkommen oder ein ähnliches Abkommen abgeschlossen werden kann. Das wäre auch klug. Aber zunächst einmal, wenn wir jetzt die nächsten Wochen in den Blick nehmen, sieht es ganz danach aus, dass es in Großbritannien für das bestehende Angebot der EU keine Mehrheit gibt. Das heißt: No-Deal-Brexit.
Dobovisek: Aber möglicherweise noch eine Verlängerung und weitere Verhandlungen. Hören wir, was der EVP-Spitzenkandidat für die Europawahl Manfred Weber heute Abend im ZDF zum Ergebnis der Abstimmung in London gesagt hat:
O-Ton Manfred Weber: "Auf der europäischen Seite ist klar: Wir dürfen nicht dulden, dass das britische Chaos jetzt auch noch Europa infiziert und ansteckt. Und deswegen darf es keine Teilnahme bei der Europawahl geben. Die Europawahl muss über die Zukunft des Kontinents entscheiden, und das geht nur ohne die Briten."
Europawahlen mit britischen Abgeordneten macht "keinen Sinn"
Dobovisek: Soweit Manfred Weber von der CSU. – Sehen Sie das auch so, Herr Toncar, oder sind Sie da etwas großzügiger mit den Briten?
Toncar: Nein. Wenn der Weg Großbritanniens aus der EU hinausführt, dann macht das keinen Sinn, die Europawahlen noch mit den britischen Abgeordneten abzuschließen. Die einzige Situation, die wirklich eine fundamentale Änderung der Gemengelage bedeuten würde, wäre ein zweites Referendum. Das kann man möglicherweise nicht in wenigen Wochen durchführen in Großbritannien. Das wäre ja auch ein Szenario, wo ein Verbleib in der EU möglich ist, und das wäre das Szenario, wo ich bereit wäre, auch über eine längere Verschiebung des Austritts noch einmal nachzudenken.
Aber solange das nicht auf dem Tisch liegt, solange der Austritt unumstößlich ist, kann es eigentlich nur um Schadensbegrenzung gehen. Da könnte ich mir vorstellen, dass man die Austrittsfrist noch mal um wenige Wochen, ein oder zwei Monate bis vor die Europawahl, bis kurz vor die Europawahl verlängert. Aber nicht, um noch mal ein Paket zu verhandeln, was wirklich hinlänglich und lange und breit verhandelt und auch nachverhandelt worden ist, sondern nur, um einen völlig chaotischen Austritt etwas erträglicher zu gestalten, abzumildern, im Grunde, um uns noch etwas Zeit zu verschaffen auf beiden Seiten des Ärmelkanals, den dann ungeordneten Brexit noch etwas besser vorzubereiten.
Dobovisek: Der FDP-Politiker Florian Toncar über die Entscheidung des britischen Unterhauses gegen das Austrittsabkommen mit der Europäischen Union. Ich danke Ihnen für das Interview zu später Stunde.
Toncar: Sehr gerne! – Einen schönen Abend noch.
Dobovisek: Danke, ebenso!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.