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FDP-Politiker zum Familiennachzug
"1.000 ist keine Haltung"

Christian Lindner (FDP) hat die bisherigen Ergebnisse der schwarz-roten Koalitionsverhandlungen als konzeptlos kritisiert. Die SPD etwa habe den Familiennachzug zum Symbolthema gemacht, dann aber einem Kontingent von 1.000 Menschen im Monat zugestimmt. Sinnvoller wäre eine Einzelfallprüfung, sagte Lindner im Dlf.

Christian Lindner im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
    Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner
    Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner (picture alliance/ dpa/ Revierfoto)
    Ann-Kathrin Büüsker: Und täglich grüßt das Murmeltier. Es hakt noch bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin. Union und SPD werden ab heute Vormittag noch mal offiziell zusammensitzen und wollen dann am Ende den Sack zumachen. Morgen soll ein Koalitionsvertrag stehen.
    Auf die zähen Verhandlungen, aber auch auf die bereits bekannten Ergebnisse möchte ich jetzt mit einem gucken, der Ende letzten Jahres selbst bis in die Nacht sondiert hat in Jamaika-Konstellation. Am Telefon ist Christian Lindner, Vorsitzender der FDP. Guten Morgen.
    Christian Lindner: Guten Morgen, Frau Büüsker.
    Büüsker: Herr Lindner, haben Sie an diesem Morgen vielleicht einen Tipp für die SPD, wie man sich selbst treu bleiben kann, aber in Verhandlungen mit der Union trotzdem seine Linie durchsetzt?
    Lindner: Frau Büüsker, die Sozialdemokraten brauchen von mir keine Ratschläge. Die SPD ist ja bereits Teil einer Großen Koalition, Teil der Bundesregierung. Insofern dürfte es nicht zu schwer fallen, zu Gemeinsamkeiten zu kommen. Und man muss hinzufügen: Die Unterschiede zwischen CDU/CSU und Sozialdemokraten sind in der Sache ausweislich der Programme so groß nicht.
    "Es fehlt eine verbindende Idee"
    Büüsker: Aber, Herr Lindner, wenn das so wäre, dann müsste man jetzt ja nicht so lange streiten über Detailfragen.
    Lindner: Ich glaube, dass das Grundproblem dieser Verhandlungen wie auch bei Jamaika ist, dass die gemeinsame Idee fehlt. So hat sich auch der Kollege der Grünen, Herr Habeck geäußert. Es fehlt in Deutschland gegenwärtig eine verbindende Idee. Das wurde auch beim SPD-Bundesparteitag sehr deutlich, dass eine knapp unterlegene Minderheit vermisst, wo ist eigentlich die große Richtung der Politik. Die Sammlung von Einzelmaßnahmen gibt eben noch kein Konzept, und deshalb tun sich die Verhandler nach meinem Eindruck schwer. Man sucht noch die Überschrift. Vielleicht verweist das auch an die Regierungschefin, die Kanzlerin, die eigentlich eine solche Überschrift, eine solche Programmatik vorgeben sollte und müsste, hinter der sich andere versammeln können.
    Büüsker: "Gemeinsame Idee" klingt schön, aber auch ein bisschen diffus. Was meinen Sie denn damit?
    Lindner: Ich könnte einen Vorschlag machen, welche Idee die FDP gerne umgesetzt sähe. Wir möchten das Land erneuern, indem wir wieder mehr Vertrauen in den einzelnen Menschen setzen, indem wir die großen Veränderungen wie die Digitalisierung beherzt anpacken und den Wandel beschleunigen. Wir würden gerne Maß nehmen an anderen Ländern wie beispielsweise Frankreich, die jetzt eine Erneuerungsagenda gemacht haben, und zwar ohne dass jetzt jede einzelne Maßnahme unbedingt populär ist, unter dem Strich aber notwendig, um das Land in die gute Zukunft zu führen, währenddessen wir in Deutschland bei Jamaika schon, jetzt bei der Großen Koalition wieder immer nur die Versuche sehen, Dinge nicht zu entscheiden, sondern Widersprüche mit Milliarden und Abermilliarden Geld zuzuschütten, und das ist eben keine mutige, keine couragierte Politik.
    Büüsker: Aber das, was Sie jetzt genannt haben, das klingt in meinen Ohren wie Wortstanzen und nicht wie konkrete Politik.
    Lindner: Hinter dieser Wortstanze, wie Sie sagen, steht allerdings ein Maßnahmenprogramm, das man umsetzen könnte. Fangen wir an mit der Wirtschaftspolitik. Wir sehen, dass andere in Europa und in der Welt mit den USA massiv Steuern und Abgaben für die Wirtschaft senken. Hier bei der Großen Koalition wird eher noch die Belastung erhöht. Jedenfalls die Vielzahl von Ausgabeideen steht nicht in irgendeinem sinnvollen Verhältnis zu den Möglichkeiten, private Vorsorge oder Investitionen zu stärken.
    "Es gibt nicht die dringend notwendigen Entlastungen"
    Büüsker: Es gibt aber keine Steuererhöhungen.
    Lindner: Es gibt allerdings auch nicht die dringend notwendigen Entlastungen nach deutlich mehr als einem Jahrzehnt der immer weiteren Belastungen. Und wenn man sich den Sozialabgabenteil ansieht, Stichwort Mütterrente, dann steigen dort die Belastungen für die Beitragszahler in einer Weise, wie es angesichts jetzt der Hochkonjunktur, in der wir sind, nicht ratsam erscheint. Denn irgendwann kann es ja eine wirtschaftliche Delle geben und dann haben wir große Hypotheken.
    Mein zweiter Punkt, den ich sagen wollte, war Flexibilität, weniger Bürokratie. In Deutschland gibt es überall den Wunsch eher nach mehr.
    Dritter Punkt: Bildung. Da bleiben wir hinter den Notwendigkeiten zurück. Ehrlicherweise muss man sagen, die Große Koalition macht die Tür zu einer Bildungs- und Föderalismusreform einen Spalt breit auf. Das verdient Anerkennung. Das war bei Jamaika so nicht möglich. Offensichtlich hat die CSU sich bewegt. Aber gemessen an den Notwendigkeiten nichts.
    Letzter Punkt von meiner Seite: Digitalisierung 2025 und immer noch kein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild. Auch da bleiben wir hinter der notwendigen Modernisierung leider zurück.
    Büüsker: Moment! Sie haben die Digitalisierung angesprochen. Bis 2025 soll das Recht auf schnelles Internet im Gesetz verankert werden. Was wollen Sie denn noch?
    Lindner: Fällt Ihnen auf, dass 2025 gar nicht am Ende dieser Legislaturperiode ist, sondern am Ende der nächsten Legislaturperiode? Nachdem die Große Koalition bereits vier Jahre hatte und sich insbesondere in das Kupferkabel verliebt hat, wird jetzt noch einmal nach vorne geschaut, noch weitere sieben Jahre. Das ist angesichts des Tempos, mit dem sich der digitale Wandel vollzieht – das ist ja Eishockey-Sport, schnell und brutal; das ist kein Fußball, das ist kein Minigolf, sondern da ist hohes Tempo dahinter -, da sind sieben Jahre einfach zu lang. Das muss schneller gehen und ich glaube, dass insbesondere die Wettbewerbsbedingungen, was das Gewerbe angeht, der Glasfaserausbau und der öffentliche Mittelansatz erhöht werden müssten.
    "Alles eine Variante von Weiter so"
    Büüsker: Herr Lindner, das ist schön, dass wir jetzt über Digitalisierung sprechen und in dem Moment der Mobilempfang – wir erreichen Sie auf dem Handy – deutlich schlechter wird. Das ist vielleicht auch Sinnbild für Deutschland. – Aber lassen Sie uns beim Thema Digitalisierung bleiben. Sie haben angesprochen, dass die vielleicht künftige Bundesregierung sich hier Zeit lassen will, viel Zeit. Aber muss die Bundesregierung hier nicht auch etwas nachholen, was der Markt verschlafen hat, weil der Markt hätte ja dafür sorgen können, dass Internet-Ausbau großflächiger stattfindet. Hat er aber nicht, war kein Geld mit zu verdienen.
    Lindner: Frau Büüsker, das Problem ist, dass im Glasfaserausbau die Große Koalition 2009 bis 2013 an den wichtigsten Filetstück-Standorten die Telekom de facto zum Monopolanbieter gemacht hat. Da gab es die Zusage, wir bauen aus, wir beschleunigen den Netzausbau, dafür müssen wir keine Konkurrenten fürchten. Gerade das Gegenteil trifft zu. Weil man Marktkräfte an den wichtigsten Standorten außer Kraft gesetzt hat, bleiben wir hinter den Möglichkeiten zurück. Ich glaube, da muss neu gedacht werden.
    Wir könnten das so weiter fortsetzen. Unter dem Strich sind in Deutschland gegenwärtig keine Möglichkeit zu einer echten Erneuerung, und das bedauere ich, und ich glaube, das hängt mit der politischen Gesamtkonstellation zusammen und leider auch damit, dass die CDU sich gegenwärtig nur als Scharnier begreift und darauf verzichtet, eigene Konzepte ins Zentrum zu stellen, an denen man sich abarbeiten kann, die aber auch Orientierung geben. Das fehlte mir und, wie ich gelernt habe, dem grünen Vorsitzenden Habeck auch schon bei Jamaika. Es wiederholt sich jetzt bei der Großen Koalition. Es ist alles eine Variante von "Weiter so".
    "Was ist das für eine Haltung?"
    Büüsker: Aber muss Politik nicht auch immer Kompromisse finden, um aktiv sein zu können?
    Lindner: Absolut muss Politik Kompromisse finden. Aber ein Kompromiss gelingt ja nur auf der Basis einer eigenen Position. Dann kann man Positionen gegeneinanderstellen und reiben, da kann geführt werden. Dann muss entschieden werden. Wir sind in einen Modus geraten in Deutschland, in dem nicht mehr entschieden wird, sondern eigentlich Unvereinbares kombiniert wird ohne Entscheidung. Obendrüber gibt es dann Wortgeklingel und vor allen Dingen viel Geld, und das führt dazu, dass unser Staat zunehmend ineffizient wird, die Belastungen steigen und die Zufriedenheit mit seinen Ergebnissen sinkt. An nichts kann man das so deutlich machen gegenwärtig wie an der Frage der Einwanderungspolitik. Da fehlen klare Regeln und geordnete Verfahren. Das blockiert sich. Auf der einen Seite eine offensive weltoffene Strategie, Menschen nach Deutschland zu holen. Da bremsen die Konservativen. Auf der anderen Seite auch Rücksichten zu nehmen auf unsere objektiv begrenzten Möglichkeiten bei Arbeit, Wohnen und bei Bildung. Da bremsen eher die politisch linken Parteien. Und nicht zuletzt verstehe ich gerade die SPD nicht, die das Thema Familiennachzug zu einem Symbolthema gemacht hat und sich dann auf ein Kontingent von tausend im Monat einigt. Was ist da für eine Haltung dahinter? Ich finde keine! Man kann die Haltung der Grünen haben, alle Familien werden zusammengefügt. Die Haltung habe ich nicht, weil ich glaube, dass uns gegenwärtig die Kapazitäten fehlen. Man kann die Haltung haben, gar kein Familiennachzug. Die Haltung habe ich nicht, weil das eiskalt ist. Aber tausend ist keine Haltung. Sinnvoll wäre eine Einzelfallprüfung. Gibt es einen Härtefall, dann wird die Familie zusammengeführt. Kann jemand für seinen Lebensunterhalt aufkommen, dann wird die Familie selbstverständlich zusammengeführt. Das wäre eine Haltung. Tausend ist keine Haltung und leider atmet all das, was wir gegenwärtig kennen, diesen Geist von "es ist irgendein Kompromiss, aber nicht eine klare Richtung".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.