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FDP-Rechtsexperte zum Fall Sami A.
Baum: Niemand darf sich über Gewaltenteilung hinwegsetzen

Im Fall des abgeschobenen Islamisten Sami A. sieht FDP-Politiker Gerhart Rudolf Baum noch viel Aufklärungsbedarf. Es gehe nicht allein um NRW-Integrationsminister Joachim Stamp, sondern auch um die Rollen des BAMF und des Bundesinnenministers. Bedenklich wäre, wenn bestehende Urteile nicht vom Staat anerkannt würden.

Gerhart Rudolf Baum im Gespräch mit Silvia Engels |
    Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) spricht am 29.11.2015 im Schauspielhaus in Hamburg bei der Verleihung des Marion Dönhoff Preises.
    Der FDP-Politiker und ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (picture alliance / dpa / Georg Wendt)
    Silvia Engels: Der abgeschobene mutmaßliche Gefährder Sami A. muss also aus Tunesien nach Deutschland zurückgeholt werden. Am Telefon ist Gerhart Rudolf Baum von der FDP. In den 70er-Jahren war er Bundesinnenminister. Er zählt zum linksliberalen Flügel seiner Partei mit dem Fokus auf dem Schutz von Bürgerrechten. Guten Abend, Herr Baum!
    Gerhart Baum: Guten Abend!
    Engels: Herr Baum, begrüßen Sie das Urteil des Oberverwaltungsgerichts in Münster?
    Baum: Ja, uneingeschränkt ja. Die Rechtslage ist wahnsinnig kompliziert, aber der Rechtsstaat ist eben kompliziert.
    Engels: Was entgegnen Sie denn Bürgern, die sich gewünscht hätten, dass Sami A. nicht zurückkommt, eben weil ihn die Behörden ja als Gefährder einstufen?
    Baum: Ich sage ihnen erstens, Urteile müssen respektiert werden, auch wenn sie nicht einer allgemeinen Meinung entsprechen sollten. Zweitens sage ich ihnen, in der Sache selbst ist gar nichts entschieden worden. Es handelt sich um ein vorläufiges Verfahren, eine einstweilige Verfügung, und die Hauptsache ist noch überhaupt nicht entschieden, ob Herrn Sami A. Folter droht oder nicht. Das wäre ja ein Abschiebungshinderungsgrund. Das wird erst später von dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen entschieden. Das ist also eine vorläufige Rechtssituation.
    Rechtsempfinden der Bevölkerung entspricht nicht immer den Grundrechten
    Engels: Der nordrhein-westfälische Innenminister Reul von der CDU hat sich mittlerweile geäußert. Er sagte der "Rheinischen Post", ich zitiere "Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut, aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen." Er fürchtet sonst eine Stärkung der Extremisten. Was antworten Sie ihm?
    Baum: Dieser Meinung bin ich überhaupt nicht. Das Empfinden der Mehrheit der Bevölkerung richtet sich manchmal auch gegen das Grundgesetz, gegen den Artikel eins, Schutz der Menschenwürde. Als ich Innenminister war und der RAF-Terrorismus uns bedroht hat, waren etwa 70 Prozent der Befragten für die Todesstrafe. Es gibt andere Situationen, wo die Volksmeinung von den Grundrechten abweicht. Da muss man für die Grundrechte werben. Ich kann Herrn Reul nur empfehlen, dann eben für die Grundrechte zu werben und nicht die Flagge zu streichen.
    Engels: Ob Sami A. nun umgehend zurückreisen kann, ist offen, denn derzeit hat er keinen Pass, und die tunesischen Behörden lassen ihn derzeit offenbar nicht ausreisen, weil sie selbst ermitteln. Muss die Bundesrepublik sich diplomatisch nun mit allen Mitteln dafür einsetzen, ihn zurückzuholen, oder darf sie einfach abwarten?
    Baum: Nein, sie darf nicht abwarten. Es ist ein Rückholgebot ausgesprochen worden von dem Gericht, und die Verwaltungsbehörden werden ja schon tätig. Sie haben zugesichert, dass sie eine Einreisesperre, die besteht, aufheben, dass sie die Reisekosten bezahlen, also dass sie auf deutscher Seite alles machen, um eine Rückholung, also eine Rückkehr zu ermöglichen. Und das ist die Konsequenz aus diesem vorläufigen Urteil.
    Engels: Das vorläufige Urteil ist das eine. Auf der anderen Seite hatte dieser Fall von Anfang an eine stark politische Komponente. Es ist ja nun so zu sehen, dass sowohl die Ausländerbehörde in Bochum als auch das Integrationsministerium Nordrhein-Westfalen hier eine Niederlage erlitten haben, denn die waren ja diejenigen, die diese Ausweisung vorangetrieben haben. Der Integrationsminister von NRW heißt Joachim Stamp, er gehört der FDP an, und er hat frühzeitig erklärt, die politische Verantwortung für die Abschiebung von Sami A. zu tragen. Was nun?
    Baum: Nun wird es ganz kompliziert. Das Oberverwaltungsgericht, über dessen Urteil wir sprechen, hat gesagt, im Moment des Beginns der Abschiebung war sie nicht rechtswidrig, denn das Urteil war nicht zugestellt. Aber vor der Landung wurde es rechtswidrig, und darauf stützt sich das Gericht und sagt, weil die Abschiebung vor ihrem Abschluss rechtswidrig geworden ist, gibt es dieses Rückholgebot. Was sonst diskutiert wurde, ist nicht aufgeklärt. Ich möchte auch gern wissen, wie sind denn damals die Entscheidungen, die Mitteilungen gelaufen? Wer hat wem was gesagt?
    Der Kern ist doch, dass das Urteil nicht rechtzeitig vor der Abschiebung zugestellt worden ist. Das Gericht hat gewartet. Konnte das Gericht warten, hatte man dem Gericht gesagt, du hast noch Zeit? Das möchte ich aufgeklärt wissen, und das ist ganz wichtig auch für zukünftige Fälle, damit nicht der Eindruck entsteht, man wollte das bevorstehende Urteil, also das Verbot der Abschiebung, unterlaufen. Dies muss aufgeklärt werden, meine ich. Und aber auch dem Gericht müsste man sagen, warum hast du, wenn das so wichtig war für dich und du eine einstweilige Anordnung getroffen hast, die einstweilige Anordnung nicht sofort zugestellt, sondern erst am nächsten Tag?
    Hier ist noch eine Menge aufzuklären, das ist richtig. Und ich weiß auch nicht, welche Rolle das BAMF gespielt hat, das Bundesinnenministerium. Herr Stamp ist für mich ein sehr besonnener Mann, gerade in Flüchtlingsfragen, und wie ich eben gesagt hatte, er hat sich – weder er noch die Stadt Bochum haben sich über ein Abschiebeverbot hinweggesetzt. Das war nicht da und galt in dem Moment, wo das Flugzeug in Düsseldorf gestartet ist, nicht.
    Engels: Allerdings, das noch ergänzend, hat die Bundespolizei durchaus gesagt, als man in Istanbul gelandet ist, man hätte da auch noch die Abschiebung stoppen können. Also, in der Tat, hier ist noch Aufklärungsbedarf. Allerdings hat Herr Stamp selbst eingeräumt, dass die Behörden, Zitat, "ein Zeitfenster aktiv genutzt haben, in der die Abschiebung rechtlich möglich gewesen wäre", Zitatende. Also doch eindeutig, man wollte offenbar im Ministerium einen Zwischenstatus nutzen, von dem man ahnte, dass er nicht halten würde, und dabei hat man sich zweitens auch noch vertan. Sind da nicht Minister nicht schon wegen weniger zurückgetreten?
    Baum: Ich hatte es ganz wenig in meinem politischen Leben, immer, wenn so etwas passiert, gleich nach dem Rücktritt zu rufen. Ich bin der Meinung, man müsste zunächst mal aufklären, was passiert ist. Wenn wirklich sehenden Auges das Gericht übergangen worden ist – wir handeln schnell, damit wir nicht vom Gericht gehindert werden –, dann wäre das doch sehr belastend. Aber das ist nicht erwiesen.
    "Wir entscheiden hier über Folter oder nicht Folter"
    Engels: Das nordrhein-westfälische Integrationsministerium hat sich mittlerweile auch geäußert. In einer Erklärung heißt es, das Gericht lasse das Ministerium ratlos zurück. Man bedaure, dass sich das Oberverwaltungsgericht nicht zur Frage äußere, ob Sami A. in Tunesien Folter drohe. Das Ministerium sei überzeugt, dass ihm dort keine Folter drohe. Es werde seinen Kurs der Abschiebung von Gefährdern unverändert fortsetzen. So weit das Ministerium. Ist das Einsicht?
    Baum: Diese Einschätzung teile ich nicht, denn das Gericht hat jetzt ganz schnell, zunächst im vorläufigen Verfahren die vorläufige Entscheidung bestätigt. Das war richtig, und das musste auch geschehen, damit nicht der Eindruck entsteht, geltendes Recht würde nicht umgesetzt. Ob dem Sami A. Folter droht, das ist eine schwierige Frage. In einigen Fällen der Abschiebung nach Tunesien ist sie bejaht worden, in anderen nicht. Das muss jetzt in Ruhe geklärt werden, und da muss auch die Landesregierung Verständnis dafür haben, dass das nicht übers Knie gebrochen werden darf. Es geht um ein Menschenschicksal, was der Mann auch getan haben mag, wir entscheiden hier über Folter oder nicht Folter.
    Engels: Wann wäre für Sie die Schwelle erreicht, damit Ihr Parteifreund Joachim Stamm zurücktreten muss?
    Baum: Nein, die Schwelle sehe ich überhaupt nicht. Ich möchte wissen, welche Rolle hat das BAMF gespielt, Herr Seehofer gespielt. Und er hat, jedenfalls eines muss man sagen, eine Rechtswidrigkeit ist nicht begangen worden. Wenn sich mehr herausstellt, können Sie gern mit mir darüber reden, ob Herr Stamp die Folgen tragen muss. Aber er hat ja eh schon gesagt, dass er die Verantwortung übernimmt, und die Situation ist jetzt so, dass wir alle abwarten müssen. Das ist unbequem, dass wir keine endgültige Entscheidung haben, aber so ist der Rechtsstaat nun mal. Und ich wehre mich dagegen, dass wir in der Republik langsam eine Stimmung haben, wo der Rechtsstaat erodiert, wo bestehende Urteile nicht von der Verwaltung, von dem Staat anerkannt werden. Dass man sich hinwegsetzt über die Gewaltenteilung. Das ist eine Tendenz, die hochgefährlich ist, und das ist der Kern der ganzen Sache. Hat man sich bewusst über ein Urteil hinweggesetzt, ja oder nein.
    Engels: Gerhart Rudolf Baum von der FDP, früherer Bundesinnenminister. Vielen Dank für das Gespräch!
    Baum: Bitte!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.