Lennart Pyritz: In Gelsenkirchen wurden in den vergangenen Wochen drei Kinder mit Fehlbildungen an der Hand geboren. Daraufhin meldeten sich auch Eltern aus anderen Städten des Ruhrgebiets und schließlich aus ganz Deutschland, deren Kinder ähnliche Fehlbildungen aufweisen. Verständlicherweise ist die Sorge groß, dass hier ein noch unbekannter Faktor das Wachstum der Kinder geschädigt hat. Noch ist allerdings offen, was passiert ist. Mein Kollege Volkart Wildermuth hat schon im vergangenen Jahr über eine ähnliche Häufungen von Fehlbildungen in Frankreich berichtet und jetzt die Hintergründe der Fälle in Deutschland recherchiert. Was weiß man bislang über diese Fälle in Deutschland?
Volkart Wildermuth: Man weiß im Grunde noch sehr wenig. Man weiß, dass bei diesen drei Kindern, die alle zwischen Juni und September geboren wurden, dass denen Teile des Handtellers fehlen. Dass die Finger auf einer Hand kaum ausgebildet sind. Das sind sogenannte Reduktionsfehlbildungen. Die waren bisher in diesem Krankenhaus, dem Sankt Marien-Hospital Buer in Gelsenkirchen bisher noch nicht aufgetreten. Deswegen jetzt diese große Sorge und Aufregung.
Vielleicht war es nur Zufall
Pyritz: Besonders die Eltern wollen natürlich wissen, was ist da passiert ist. Wie kann man einer solchen Häufung von Fehlbildungen auf den Grund gehen?
Wildermuth: Das ist gar nicht so einfach, denn deutschlandweite Daten zu Fehlbildungen gibt es schlicht nicht. Ich habe mit verschiedenen Stellen telefoniert vor allem mit dem Fehlbildungsmonitoring in Sachsen-Anhalt und dem Geburtenregister Mainzer Modell, die sich jeweils in ihrer Region systematisch mit Fehlbildungen befassen. Und da hat man mir gesagt, dass jede Untersuchung in zwei Schritten abläuft. Im ersten Schritt fragt man: Ist das denn überhaupt etwas Auffälliges, oder war es vielleicht nur Zufall? Und erst wenn diese Frage beantwortet ist, kann man sich daran machen, im zweiten Schritt nach Ursachen zu suchen. Im Moment ist die erste Frage noch nicht beantwortet - und von daher verbieten sich eigentlich alle Spekulationen über die Ursachen.
Pyritz: Drei Kinder innerhalb von wenigen Monaten in derselben Klinik mit denselben Fehlbildungen. Das klingt schon auffällig.
Wildermuth: Stimmt, das klingt auffällig. Aber im Geburtenregister Mainzer Modell, da hat man über Jahre verfolgt, wie häufig Fehlbildungen auftreten. In Mainz wurden über viele Jahre systematisch alle Geburten untersucht, auch Babys, die tot zur Welt kamen. Dabei zeigte sich: Solche Reduktionsfehlbildungen treten bei sieben von zehntausend Neugeborenen auf. Das klingt erst einmal wenig. Aber man darf nicht vergessen, in Deutschland wurden 2018 zum Beispiel mehr als 787.000 Babys geboren. Das heißt, hochgerechnet sind durchschnittlich 550 Kindern zu erwarten, die mit einem irgendwie verkümmerten Arm oder Hand zur Welt kommen. Und das jedes Jahr. Wie häufig diese spezielle Fehlbildung ist, also wenn die Finger und der Handteller auf einer Seite nicht richtig da sind, das kann niemand sagen, so genau sind die Statistiken nicht. Aber wenn sich jetzt Familien aus ganz Deutschland melden, deren Kinder vielleicht auch schon vor einigen Jahren geboren wurden, dann muss das mit den Fällen in Gelsenkirchen gar nichts zu tun haben.
Pyritz: Jetzt wird von verschiedener Seite gefordert, ein bundesweites Register für Fehlbildungen einzurichten. Wäre das ein sinnvoller Schritt?
Wildermuth: Das klingt erst mal vernünftig. Dr. Awi Wiesel aus Mainz gibt aber zu bedenken, so ein Register sei sehr aufwändig. Für eine aussagekräftige Gesundheitsüberwachung würde es seiner Meinung nach ausreichen, wenn fünf bis zehn Prozent der Geburten in Deutschland aktiv erfasst würden. Damit würde man großflächige Probleme und Trends entdecken und sehr kleinräumige Ereignisse übersehen. Aber das alles ist Zukunftsmusik. Das Gesundheitsministerium Nordrhein-Westfalen holt derzeit erst einmal Informationen aus allen Kliniken des Landes ein und schaut, ob es da vergleichbare Fälle gibt.
Fälle in Frankreich immer noch ungeklärt
Pyritz: Es gab ja 2018 in Frankreich ähnlich große Aufregung, auch da sind in einigen Departements Kinder mit verkümmerten Armen geboren worden. Die Behörden haben schnelle Aufklärung versprochen. Was ist daraus geworden?
Wildermuth: Ich habe damals berichtet und erst hieß es, im Januar soll es einen Bericht geben, dann, es würde noch ein halbes Jahr dauern. Im Juni hat sich EUROCAT getroffen, das ist der europäische Zusammenschluss der Fehlbildungsregister. Die Vertreter Frankreichs haben dort nur wiederholt, was sie auch vorher gesagt haben: Es gibt diese Fälle, aber noch immer ist nicht klar, ob das für Frankreich eine ungewöhnliche Häufung war. Auf dem Treffen wurde deshalb eine europäische Task Force vorgeschlagen, die bei solchen Ereignissen schnell reagieren kann. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Pyritz: Wir wollen nicht spekulieren, aber gibt es denn bekannte Ursachen für solche Fehlbildungen?
Wildermuth: Bei der Hälfte der Fälle bleibt das völlig offen. Da hätte man früher von Schicksal gesprochen. Es gibt einige Erbkrankheiten und Chromosomenveränderungen, die auch die Hände betreffen können. Aber da kommt es meist zu Veränderungen an mehreren Stellen des Körpers, das ist in Gelsenkirchen offenbar nicht der Fall. Eine Infektion in einer sensiblen Phase der Schwangerschaft kann die Anlage der Arme schädigen. Es gibt mechanische Einwirkungen, gelegentlich bilden sich in der Fruchtblase Gewebebänder, die die Gliedmaßen abschnüren können. Und dann sind da natürlich Giftstoffe und Arzneimittel. Contergan war ja so ein Fall, allerdings waren da nicht die Hände oder Füße selbst betroffen, es fehlten Teile des Armes oder Beines. Das zeigt auch, wie wichtig es ist, solche ungewöhnlichen Häufungen genau zu untersuchen. Aber im Moment sind das alles noch Spekulationen. Erstmal geht es darum, herauszufinden, ob das überhaupt ein ungewöhnliches Geschehen ist.