"Ach, Europa!", heißt das erste Gedicht in Nora Bossongs jüngsten Lyrikband "Kreuzzug mit Hund". In ihren Texten und Interviewäußerungen stellt die Schriftstellerin dem Kontinent generell kein gutes Zeugnis aus.
Nicht erst seit der Coronakrise, aber durch diese verstärkt, beobachte sie ein Abdriften in ein Jeder-für-sich. Und dazu habe auch Deutschland seien Teil beigetragen, durch sein Verhalten in vergangenen Krisen. Unmut etwa der Italiener gegen Deutschland, eine Angst hängengelassen zu werden, sei nicht nur aus dem Jetzt-Zustand heraus zu erklären, sagt die Dichterin, die sich für Coronabonds ausspricht, sondern er gehe zurück bis zur Eurokrise.
Nationale Klischees und Ressentiments würden geschürt statt beigelegt, und dieses grundsätzliche Misstrauen bedeute "eine lebendige Gefahr für das Fortbestehen der Union".
Solidarität auch mit den Schwächsten
Die gemeinsame Corona-Erfahrung habe Potenzial zu einem neuen Narrativ der europäischen und globalen Zusammenarbeit. Bossong hofft, dass nach der Krise stärker aufs Miteinander geschaut werde.
Solidarität bedeute allerdings immer auch Solidarität mit den Schwächsten, mahnte die Schriftstellerin Bossong. Wenn wir von Solidarität in der Krise sprächen, sollten wir darum auch auf die Menschen schauen, die zukunftslos in Flüchtlingslagern am Rande Europas leben, meint Bossong, nämlich auf geflüchtete Menschen. In der Krise eine begrenzte Zahl Jugendlicher nach Deutschland zu bringen, sei ein Symbol, auch letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wolle Europa sich als humanistische Werteunion verstehen, seien Orte wie die bestehenden Flüchtlingscamps nicht hinnehmbar. "Wir sollten die Zukunft öffnen für alle Menschen, die sich auf diesem Kontinent aufhalten." In der Pandemie merkten wir alle, dass wir angreifbar sind. Nach dieser Erkenntnis sei das Wegschauen "hoffentlich nicht mehr ganz so leicht".
Die Rolle der Kultur in der Krise
Die Rolle der Kultur, etwa von Literaten, in einer solchen Krise ist es nach Bossongs Ansicht, sich als Korrektiv etwa zu den Sprechenweisen der Politiker zu Wort zu melden. Anders als jene dürften und sollten Schriftsteller Visionen schaffen, "Räume öffnen auf die Zukunft hin".
Als Sprachprofis sollten sie auch die Rhetoriken der Mächtigen offenlegen. Wenn Frankreichs Präsident Macron martialisch vom Kampf gegen das Virus spreche und den Ausnahmezustand beschwöre, dann werde damit "eine Kulisse aufgebaut, vor der gewisse Entscheidungen legitim erscheinen können".
Lesen hilft
Als konkretes Gegenmittel gegen die gegenwärtige Isolation empfiehlt Bossong das Lesen. "Lesen ist ja eine Möglichkeit zu reisen, ohne den eigenen Ort zu verlassen."
Die ersten zwei Wochen der Corona-Schutzmaßnahmen hätte sie die Wände hochgehen können. Jetzt lese sie viel und schmiede Reisepläne für die Zeit nach der Krise.