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Fehlende Solidarität in Europa
Nora Bossong: "Lebendige Gefahr fürs Fortbestehen der Union"

Nora Bossong spricht sich schon seit einigen Jahren für ein neues europäisches Narrativ aus. Die gemeinsame Erfahrung der globalen Zusammenarbeit durch Corona hätte Potenziale für eine solche Einigkeit stiftende Erzählung, sagte die Schriftstellerin im Dlf.

Nora Bossong im Gespräch mit Anja Reinhardt |
Frankfurter Buchmesse 2019, von 16. bis 20.10.2019 in Frankfurt am Main. Foto: Nora Bossong, Buchtitel - Schutzzone Frankfurt Book Fair 2019, from 16 to 20 10 2019 in Frankfurt am Main Photo Nora Bossong, book title Protection Zone
Die Schriftstellerin Nora Bossong ist praktizierende Europäerin. Sie dichtet auch mal über die EU und reist für ihre Texte oft ins Ausland. Letzteres fehlt ihr momentan. (imago / Manfred Segerer)
"Ach, Europa!", heißt das erste Gedicht in Nora Bossongs jüngsten Lyrikband "Kreuzzug mit Hund". In ihren Texten und Interviewäußerungen stellt die Schriftstellerin dem Kontinent generell kein gutes Zeugnis aus.
Nicht erst seit der Coronakrise, aber durch diese verstärkt, beobachte sie ein Abdriften in ein Jeder-für-sich. Und dazu habe auch Deutschland seien Teil beigetragen, durch sein Verhalten in vergangenen Krisen. Unmut etwa der Italiener gegen Deutschland, eine Angst hängengelassen zu werden, sei nicht nur aus dem Jetzt-Zustand heraus zu erklären, sagt die Dichterin, die sich für Coronabonds ausspricht, sondern er gehe zurück bis zur Eurokrise.
Coronavirus
Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Nationale Klischees und Ressentiments würden geschürt statt beigelegt, und dieses grundsätzliche Misstrauen bedeute "eine lebendige Gefahr für das Fortbestehen der Union".
Solidarität auch mit den Schwächsten
Die gemeinsame Corona-Erfahrung habe Potenzial zu einem neuen Narrativ der europäischen und globalen Zusammenarbeit. Bossong hofft, dass nach der Krise stärker aufs Miteinander geschaut werde.
Solidarität bedeute allerdings immer auch Solidarität mit den Schwächsten, mahnte die Schriftstellerin Bossong. Wenn wir von Solidarität in der Krise sprächen, sollten wir darum auch auf die Menschen schauen, die zukunftslos in Flüchtlingslagern am Rande Europas leben, meint Bossong, nämlich auf geflüchtete Menschen. In der Krise eine begrenzte Zahl Jugendlicher nach Deutschland zu bringen, sei ein Symbol, auch letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wolle Europa sich als humanistische Werteunion verstehen, seien Orte wie die bestehenden Flüchtlingscamps nicht hinnehmbar. "Wir sollten die Zukunft öffnen für alle Menschen, die sich auf diesem Kontinent aufhalten." In der Pandemie merkten wir alle, dass wir angreifbar sind. Nach dieser Erkenntnis sei das Wegschauen "hoffentlich nicht mehr ganz so leicht".
Die Rolle der Kultur in der Krise
Die Rolle der Kultur, etwa von Literaten, in einer solchen Krise ist es nach Bossongs Ansicht, sich als Korrektiv etwa zu den Sprechenweisen der Politiker zu Wort zu melden. Anders als jene dürften und sollten Schriftsteller Visionen schaffen, "Räume öffnen auf die Zukunft hin".
Als Sprachprofis sollten sie auch die Rhetoriken der Mächtigen offenlegen. Wenn Frankreichs Präsident Macron martialisch vom Kampf gegen das Virus spreche und den Ausnahmezustand beschwöre, dann werde damit "eine Kulisse aufgebaut, vor der gewisse Entscheidungen legitim erscheinen können".
Lesen hilft
Als konkretes Gegenmittel gegen die gegenwärtige Isolation empfiehlt Bossong das Lesen. "Lesen ist ja eine Möglichkeit zu reisen, ohne den eigenen Ort zu verlassen."
Die ersten zwei Wochen der Corona-Schutzmaßnahmen hätte sie die Wände hochgehen können. Jetzt lese sie viel und schmiede Reisepläne für die Zeit nach der Krise.